Da AKRISIOS, der Herrscher von Argos,1 keinen männlichen Erben für sein Königreich gezeugt hatte, suchte er beim Orakel von Delphi Rat, wann und wie er auf einen solchen hoffen könne. Die Antwort der Priesterin war verstörend.
König Akrisios wird keine Söhne haben, aber sein Enkel wird ihn töten.
Akrisios liebte sein einziges Kind, seine Tochter DANAË, doch sein eigenes Leben liebte er mehr. Nach dem Orakelspruch war ihm klar, dass er alles in seiner Macht Stehende tun musste, um jedweden zeugungsfähigen Mann von ihr fernzuhalten. Also befahl er den Bau einer Kammer aus Bronze unterhalb des Palasts. Eingeschlossen in dieses glänzende, unbezwingbare Gefängnis, stellte man Danaë so viel Luxus und weibliche Gesellschaft zur Verfügung, wie sie nur wollte. Schließlich war er, so redete Akrisios sich ein, keinesfalls hartherzig.2
Er hatte die bronzene Kammer gegen jeden Eindringling versiegelt, aber nicht mit den Lüsten und Listen des Zeus gerechnet, dessen Blick auf Danaë gefallen war und der nun darüber nachdachte, wie er in die versiegelte Kammer eindringen und sich ein wenig Vergnügen verschaffen konnte. Ihm gefiel die Herausforderung. Im Zuge seiner amourösen Karriere hatte der König der Götter sich auf der Jagd nach begehrenswerten Frauen und manchmal auch Männern schon in alle möglichen exotischen Wesen verwandelt. Um Danaë zu erobern, das war ihm klar, musste er sich etwas Besseres einfallen lassen als die üblichen Stiere, Eber, Hengste, Adler, Hirsche und Löwen. Irgendetwas Überkandideltes war vonnöten …
Durch die schmalen Lichtschlitze im Dach der Kammer strömte eines Nachts ein Goldregen herein, ergoss sich in Danaës Schoß und penetrierte sie.3 Es mag eine unorthodoxe Form der geschlechtlichen Vereinigung gewesen sein, aber Danaë wurde schwanger und brachte mithilfe ihrer ergebenen Dienerinnen einen gesunden Jungen zur Welt, den sie PERSEUS nannte.
Die sterbliche Robustheit von Perseus wurde von äußerst tauglichen Lungen begleitet, und sosehr sie es auch versuchten, schafften es weder Danaë noch ihre Dienerinnen, die Schreie des Babys zu dämpfen. Diese bahnten sich ihren Weg durch die Bronzemauern des Gefängnisses und über zwei Stockwerke hinweg nach oben bis in die Ohren ihres Vaters.
Seine Wut, als er des Enkelsohns ansichtig wurde, war schrecklich.
»Wer hat es gewagt, in dein Verlies einzubrechen? Nenn mir den Namen und ich werde ihn kastrieren lassen, foltern und mit seinen eigenen Innereien erwürgen.«
»Vater, ich glaube es war der Himmelskönig selbst, der zu mir kam.«
»Du willst mir sagen – könnte jemand bitte dieses Baby zur Ruhe bringen! –, dass es Zeus war?«
»Vater, ich kann nicht lügen, er war es.«
»Ganz bestimmt. Es war der Bruder von einer deiner verdammten Dienerinnen, nicht wahr?«
»Nein Vater, es war, wie ich gesagt habe. Zeus.«
»Wenn dieser Balg nicht aufhört zu brüllen, ersticke ich ihn mit diesem Kissen.«
»Er hat einfach nur Hunger«, sagte Danaë und legte Perseus an ihre Brust.
Akrisios dachte scharf nach. Ungeachtet seiner Drohung mit dem Kissen wusste er, dass es kein schlimmeres Verbrechen gab. Die Ermordung eines Angehörigen würde die Furien veranlassen, aus der Unterwelt aufzusteigen und ihn bis ans Ende der Welt zu verfolgen, ihn mit eisernen Peitschen zu geißeln, bis sich die Haut von seinem Körper löste. Sie würden nicht eher Ruhe geben, bis er dem Wahnsinn verfallen war. Und doch bedeutete die Prophezeiung des Orakels, dass er seinen Enkelsohn nicht am Leben lassen konnte. Vielleicht …
In der folgenden Nacht ließ Akrisios Danaë und das Baby Perseus heimlich in eine hölzerne Truhe stecken. Seine Soldaten vernagelten den Deckel und schleuderten sie über die Klippen ins Meer.
»Erledigt«, sagte Akrisios und wusch sich die Hände, als wolle er sich von jeglicher Verantwortung freisprechen. »Wenn sie umkommen, was ihnen gewiss widerfahren wird, kann niemand behaupten, ich wäre der unmittelbare Grund dafür gewesen. Die See wird schuld sein, die Felsen und die Haie. Und die Götter werden schuld sein. Mit mir hat das alles nichts zu tun.«
Mit dieser heuchlerischen Entschuldigung auf den Lippen beobachtete König Akrisios, wie die Truhe außer Sichtweite trieb.
In den wilden Wellen des Meeres schwankte und schlingerte der hölzerne Kasten von Insel zu Insel und von Küste zu Küste. Er zerschellte nicht an den Felsen und strandete auch nicht wohlbehalten auf weichem Sand.
In der dunklen Truhe stillte Danaë ihr Kind und wartete auf das sichere Ende. Am zweiten Tag ihrer schwankenden, wogenden Reise wurden sie mächtig umhergewirbelt und ein schrecklicher Knall ertönte. Nach ein paar Augenblicken der Stille hörte sie, wie der Deckel ruckelte und knarzte. Schlagartig drang Tageslicht ein, begleitet von starkem Fischgeruch und Möwenschreien.
»Schau an«, rief eine freundliche Stimme. »Was für ein Fang!«
Sie waren in einem Fischernetz gefangen. Der Besitzer der Stimme streckte eine starke Hand aus, um Danaë aus der Kiste zu helfen.
»Hab keine Angst«, sagte er, obwohl in Wahrheit er es war, der Furcht verspürte. Was hatte das alles zu bedeuten? »Mein Name ist Diktys4 und das ist meine Besatzung. Wir wollen dir nichts Böses.«
Die anderen Fischer umdrängten sie mit schüchternem Lächeln, aber Diktys schob sie beiseite. »Lasst die Dame atmen. Seht ihr nicht, dass sie erschöpft ist? Etwas Brot und Wein.«
Zwei Tage später legten sie auf Diktys’ Heimatinsel Serifos an. Er brachte Danaë und Perseus zu seiner kleinen Hütte hinter den Dünen.
»Meine Frau starb bei der Geburt unseres Sohnes, also hat Poseidon dich vielleicht geschickt, um ihren Platz einzunehmen. Nicht, dass ich damit meine …«, fügte er hastig hinzu, »… ich würde nie, natürlich nicht, verlangen … dass du …?«
Danaë lachte. Die Atmosphäre unverstellter Liebenswürdigkeit und Einfachheit war genau das, was sie sich wünschte, um ihr Kind großzuziehen. An aufrichtiger Freundlichkeit hatte es ihr bisher gemangelt. »Du bist zu nett«, entgegnete sie. »Wir nehmen dein Angebot an, nicht wahr, Perseus?«
»Ja, Mutter, wie du willst.«
Nein, es handelt sich nicht um das Wunder des sprechenden Neugeborenen. Siebzehn Jahre sind auf Serifos nun vergangen. Perseus ist zu einem schönen, starken jungen Mann herangewachsen. Dank seines Adoptivvaters Diktys ist aus ihm ein selbstsicherer, erfahrener Fischer geworden. Bei aufgewühlter See in seinem Boot stehend, vermag er einen vorbeihuschenden Schwertfisch aufzuspießen, und im reißenden Flusslauf gelingt es ihm, mit der Hand eine Forelle zu fangen. Er rennt schneller, wirft weiter und springt höher als jeder andere junge Mann auf Serifos. Er ringt, er reitet wilde Esel, er kann eine Kuh melken und einen Stier zähmen. Er ist impulsiv und manchmal vielleicht ein wenig angeberisch, aber seine Mutter Danaë ist zu Recht stolz auf ihn und glaubt, er sei der beste und mutigste Junge der ganzen Insel.
Die Schlichtheit von Diktys’ Heim schien Danaë umso bemerkenswerter, als sie herausfand, dass dieser bescheidene Fischer der Bruder von Polydektes, dem König von Serifos, war. Der Herrscher der Insel war all das, was Diktys nicht war: stolz, grausam, unehrlich, gierig, lüstern, extravagant und fordernd. Zunächst hatte er sich nicht sonderlich um Diktys’ Gäste gekümmert. In jüngerer Zeit wurde sein düsteres Herz jedoch mehr und mehr von gewissen Gefühlen für die Mutter dieses Jungen erfüllt, dieses impertinenten Jungen.
Perseus hatte eine Art, sich instinktiv zwischen seine Mutter und den König zu stellen, die höchst ärgerlich war. Polydektes schaute gewöhnlich vorbei, wenn er wusste, dass sein Bruder unterwegs war, aber jedes Mal störte der nervige Perseus:
»Mutter, Mutter, hast du meine Laufsandalen gesehen?«
»Mutter, Mutter! Komm zum Felsschwimmbecken und nimm die Zeit, wie lange ich unter Wasser die Luft anhalten kann.«
Es war zu lästig.
Zu guter Letzt fand Polydektes einen Weg, Perseus fortzuschicken. Er würde sich die Eitelkeit, den Stolz und das Temperament des Jungen zunutze machen.
Einladungen wurden an alle jungen Männer auf der Insel verteilt, zum Palast zu kommen und an einem Fest teilzunehmen. Polydektes’ Entschluss sollte gefeiert werden, um die Hand von HIPPODAMIA anzuhalten, die Tochter von König Oinomaos von Pisa.5 Das war eine kühne und überraschende Wendung. Als das Orakel prophezeit hatte, König Akrisios von Argos würde von seinem Enkel getötet werden, teilte es Oinomaos wiederum mit, sein Schwiegersohn würde ihn ermorden. Um seine Tochter davon abzuhalten, jemals zu heiraten, forderte der König jeden Bewerber zum Wagenrennen heraus, wobei der Verlierer sein Leben verwirkte. Oinomaos war der beste Wagenlenker im Land: Bereits mehr als ein Dutzend Köpfe von hoffnungsfrohen jungen Männern zierten die hölzernen Pfähle, die neben der Rennbahn aufgestellt waren. Hippodamia war sehr schön, Pisa sehr reich, und die Verehrer ließen sich nicht abschrecken.
Danaë war entzückt zu hören, dass Polydektes seinen Hut in den Ring geworfen hatte. Schon lange hatte sie sich in seiner Gesellschaft unwohl gefühlt, und die überraschende Neuigkeit, dass er sein Herz an eine andere verloren hatte, war ihr eine große Erleichterung. Wie großzügig von ihm, ihren Sohn zu einem Fest einzuladen und damit zu zeigen, dass er nicht nachtragend war.
»Es ist eine Ehre, eingeladen zu sein«, sagte sie zu Perseus. »Vergiss nicht, dich höflich zu bedanken. Trink nicht so viel und rede nicht mit vollem Mund.«
Polydektes wies Perseus den Ehrenplatz zu seiner Rechten zu und füllte seinen Becher stets auf Neue mit starkem Wein. Er spielte mit Perseus so, wie der mit einem Fisch gespielt hätte.
»Ja, dieses Wagenrennen wird sicher eine Herausforderung«, sagte er. »Aber die besten Familien von Serifos haben mir alle ein Pferd für mein Team versprochen. Darf ich darauf hoffen, dass du und deine Mutter …?«
Perseus wurde rot. Für seine Armut hatte er sich schon immer geschämt. Die jungen Männer, mit denen er Sport trieb, rang, auf die Jagd ging und Mädchen hinterherjagte, besaßen jeder Diener und Stallungen. Er lebte immer noch hinter den Dünen in einer Fischerhütte aus Stein. Sein Freund Pyrrhon hatte einen Sklaven, der ihm in heißen Nächten im Bett Luft zufächelte. Perseus schlief draußen im Sand und wurde eher von einem zwickenden Krebs geweckt als von einer Dienerin mit einem Becher frischer Milch in der Hand.
»Ich habe im eigentlichen Sinn gar kein Pferd«, sagte Perseus.
»Im eigentlichen Sinn kein Pferd? Ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, was ›im eigentlichen Sinn kein Pferd‹ bedeuten soll.«
»Mir gehört eigentlich nicht viel mehr als die Kleidung auf meinem Körper. Oh, ich besitze noch eine Muschelsammlung, die, wie man mir gesagt hat, eines Tages ziemlich wertvoll sein könnte.«
»Oje, oje. Ich verstehe. Natürlich.« Polydektes’ mitleidiges Lächeln schnitt Perseus tiefer ins Herz als jeder Hohn. »Wie dumm zu erwarten, dass du mir helfen könntest.«
»Aber ich will dir helfen!«, protestierte Perseus ein wenig zu laut. »Was immer ich tun kann, werde ich tun. Du musst es nur sagen.«
»Wirklich? Nun ja, es gibt da eine Sache, aber …«
»Nein, nein, das ist zu viel des Guten.«
»Sag mir, was es ist …«
»Ich habe immer gehofft, dass man mir eines Tages etwas bringt … aber das kann ich nicht verlangen, du bist ja noch ein Junge.«
Perseus haute auf den Tisch. »Dir was bringen? Sag es. Ich bin stark. Ich bin mutig. Ich bin findig. Ich bin …«
»… ein bisschen betrunken.«
»Ich weiß, was ich sage …« Perseus erhob sich schwankend und rief mit lauter Stimme, damit jeder es hören konnte: »Sag mir, was ich meinem König bringen soll, und ich werde es tun.«
»Nun«, erwiderte Polydektes mit dem kläglichen Schulterzucken eines Besiegten, den man in die Ecke getrieben hatte, »da unser junger Held darauf besteht. Folgendes wollte ich immer schon haben: Ich frage mich, ob du mir das Haupt der Medusa bringen könntest.«
»Kein Problem«, sagte Perseus. »Das Haupt der Medusa. Es ist dein.«
»Wirklich? Meinst du das ernst?«
»Ich schwöre es beim Bart des Zeus.«
Kurz darauf stolperte Perseus über den Strand zu seiner Mutter, die auf ihn wartete.
»Du bist spät, Liebling.«
»Mama, was ist eine ›Medusa‹?«
»Perseus, hast du getrunken?«
»Vielleicht. Nur einen Becher oder zwei.«
»Mindestens zwei, wie es sich anhört.«
»Nein, aber im Ernst. Was ist eine Medusa?«
»Warum willst du das wissen?«
»Ich habe den Namen gehört und mich nur gewundert, das ist alles.«
»Wenn du aufhörst, wie ein verwundeter Löwe herumzulaufen, und dich hinsetzt, erzähle ich es dir«, sagte Danaë. »Man sagt, Medusa sei eine schöne junge Frau gewesen, die vom Meeresgott Poseidon geschändet wurde.«
»Geschändet?«
»Unglücklicherweise geschah dies auf dem heiligen Boden des Tempels der Göttin Athene. Sie war über die Entweihung so erzürnt, dass sie Medusa bestrafte.«
»Sie bestrafte nicht Poseidon?«6
»Die Götter bestrafen einander nicht, jedenfalls nicht sehr oft. Sie bestrafen uns.«
»Und wie hat Athene Medusa bestraft?«
»Sie verwandelte sie in eine Gorgone.«
»Ich werd verrückt! Und was ist eine Gorgone?«
»Eine Gorgone ist … Nun ja, eine Gorgone ist eine schreckliche Kreatur mit Wildschweinhauern statt Zähnen, rasiermesserscharfen Klauen aus Bronze und giftigen Schlangen statt Haaren.«
»Niemals!«
»So geht die Geschichte.«
»Und was genau heißt ›geschändet‹?«
»Benimm dich«, sagte Danaë und gab ihm einen Klaps. »Außer ihr gibt es nur zwei weitere Gorgonen auf der Welt, Stheno und Euryale, aber die wurden als solche geboren. Sie sind unsterbliche Töchter der antiken Gottheiten des Meeres, Phorkys und Keto.«
»Ist diese Medusa auch unsterblich?«
»Das glaube ich nicht. Sie war einmal ein Mensch, weißt du …«
»Klar … und wenn … sagen wir mal … jemand nach ihr suchen würde?
Danaë lachte. »Dann wäre er ein Narr. Die drei leben zusammen irgendwo auf einer Insel. Medusa besitzt eine besondere Waffe, die noch schlimmer ist als ihr Schlangenhaar, ihre Hauer und ihre Krallen zusammen.«
»Und was soll das sein?«
»Ein Blick von ihr, und du wirst zu Stein.«
»Wie meinst du das?«
»Ich meine, dass du, solltest du ihr auch nur eine Sekunde lang in die Augen schauen, versteinerst.«
»Man erstarrt?«
»Nein, mit versteinert meine ich, dass du buchstäblich zu Stein wirst, unbeweglich für alle Zeiten. Wie eine Statue.«
Perseus kratzte sich am Kinn. »Oh, das ist also Medusa? Ich hatte gehofft, sie wäre so etwas wie ein riesiges Huhn oder ein Schwein vielleicht.«
»Warum willst du das wissen?«
»Na ja, ich habe Polydektes irgendwie versprochen, ihm ihren Kopf zu bringen.«
»Du hast was?«
»Er wollte ein Pferd, weißt du, und dann kam er auf diese Medusa und ich hörte mich sagen, dass ich ihm ihr Haupt bringen würde …«
»Morgen früh gehst du als Erstes zum Palast und sagst ihm, dass du so etwas keinesfalls machen wirst.«
»Aber …«
»Kein aber. Ich verbiete es. Und du schläfst jetzt deinen Rausch aus. In Zukunft gibt es nicht mehr als zwei Becher am Abend, hast du verstanden?«
»Ja, Mutter.«
Perseus wankte wie befohlen ins Bett, wachte aber in rebellischer Laune auf.
»Ich werde die Insel verlassen und ich werde diese Medusa suchen«‚ erklärte er beim Frühstück, und keines von Danaës Worten konnte ihn umstimmen. »Ich habe vor allen anderen ein Versprechen gegeben. Es ist eine Frage der Ehre. Ich bin alt genug, um auf Reisen zu gehen, Abenteuer zu erleben. Du weißt, wie flink und stark ich bin. Wie einfallsreich und listig. Es gibt nichts, wovor ich Angst haben müsste.«
»Rede du mit ihm, Diktys«, bat Danaë verzweifelt.
Fast den ganzen Morgen über liefen Diktys und Perseus am Strand entlang. Danaë war wenig erfreut, als sie zurückkehrten.
»Es stimmt, was er sagt, Danaë. Er ist alt genug, um seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Er wird Medusa selbstredend nicht finden. Falls sie überhaupt existiert. Lass ihn aufs Festland gehen und sich ein wenig erproben. Früher oder später kommt er zurück. Er kann gut auf sich selbst aufpassen.«
Als Mutter und Sohn Abschied voneinander nahmen, gab es viel Kummer und reichlich Tränen, aber auch Schulterklopfen und Aufmunterung.
»Alles wird gut, Mutter. Kennst du jemanden, der schneller rennen kann als ich? Was soll mir schon passieren?«
»Das werde ich Polydektes nie verzeihen, niemals.«
Das, fand Diktys, war doch schon mal was.
Mit seinem Boot setzte er Perseus zum Festland über. »Traue niemandem, der dir was auch immer umsonst anbietet«, warnte er ihn. »Es wird viele geben, die sich mit dir anfreunden wollen. Vielleicht sind sie vertrauenswürdig, vielleicht auch nicht. Sieh dich nicht um, als hättest du noch nie einen geschäftigen Hafen oder eine Stadt gesehen. Gib dich ungerührt und selbstsicher. Und habe keine Scheu, Rat von den Orakeln anzunehmen.«
Wie viele dieser hervorragenden Ratschläge Perseus beherzigen würde, wusste Diktys nicht. Er mochte den Jungen, seine Mutter noch etwas mehr, und es machte ihm das Herz schwer, zum Zeugen eines so törichten Abenteuers zu werden. Aber wie er schon zu Danaë gesagt hatte, war Perseus zu allem entschlossen, und sollten sie mit Vorwürfen auseinandergehen, würde seine Abwesenheit nur umso unerträglicher sein.
Als sie am Festland anlegten, fand Perseus, dass das Fischerboot von Diktys sich winzig ausnahm neben den großen Schiffen, die im Hafen vertäut waren. Der Mann, den er Vater genannt hatte, seit er sprechen konnte, sah plötzlich ebenfalls sehr klein und schäbig aus. Perseus umarmte ihn ungestüm und nahm die Silbermünzen an, die Diktys in seine Hand gleiten ließ. Er versprach, sich sofort zu melden, wenn es erwähnenswerte Neuigkeiten gäbe, und war so geduldig, an der Kaianlage zu warten und zum Abschied zu winken, obwohl er endlich loslegen und die fremde neue Welt des griechischen Festlands erkunden wollte.
Perseus war vom kosmopolitischen Treiben auf dem Festland verstört, es machte ihn verlegen. Niemand schien sich darum zu kümmern, wer er war, außer wenn es darum ging, ihm seine paar Silbermünzen abzuluchsen. Er brauchte nicht lange, bis er merkte, dass Diktys recht hatte: Wenn er mit dem Haupt der Medusa heimkehren wollte, brauchte er Hilfe. Bis zum Apollon-Orakel in Delphi war es ein weiter Weg, aber wenigstens war es kostenlos.7
Er stellte sich in der Schlange der Ratsuchenden an und stand nach zwei Tagen schließlich vor der Priesterin.8
»Was will Perseus wissen?«
Perseus schnappte nach Luft. Sie wusste, wer er war!
»Ich, also, ich … ich möchte wissen, wie ich Medusa, die Gorgone, finden und töten kann.«
»Perseus muss in ein Land reisen, wo die Menschen nicht von Demeters goldenem Getreide, sondern von der Frucht des Eichenbaumes leben.«
Er blieb noch eine Weile in der Hoffnung, weitere Informationen zu erhalten, aber es gab kein weiteres Wort. Eine Priesterin scheuchte ihn fort.
»Komm schon, komm schon, Pythia hat gesprochen. Du hältst die anderen auf.«
»Sie wissen nicht zufällig, was damit gemeint war?«
»Ich habe Besseres zu tun, als auf alles zu hören, was aus ihrem Mund kommt. Du kannst sicher sein, dass es weise und wahrhaftig war.«
»Aber wo leben die Leute von der Frucht des Eichenbaumes?«
»Frucht der Eiche? So etwas gibt es nicht. Also bitte, beweg dich.«
»Ich weiß, was sie meint«, sagte eine alte Frau unter den Stammgästen, die täglich kamen, um auf dem Gras zu sitzen und die langsam voranschlurfende Reihe der Bittsteller zu beobachten, die alle etwas über ihre Zukunft erfahren wollten. »Das war ihre Art, dir zu sagen, du solltest das Orakel von Dodona aufsuchen.«
»Noch ein Orakel?« Perseus sank das Herz in die Hose.
»Die Leute dort stellen Mehl aus Eicheln her. Die Früchte fallen von den Eichenbäumen, die Zeus geweiht sind. Ich habe gehört, sie könnten sprechen. Dodona ist weit im Norden, mein Lieber«, keuchte sie. »Sehr weit im Norden!«
Und weit war es in der Tat. Die wenigen Silbermünzen, die er hatte, waren aufgebraucht, und Perseus schlief unter Hecken und lebte von wenig mehr als wilden Feigen und Nüssen, während er Richtung Norden reiste. Bei seiner Ankunft muss er ziemlich abgerissen ausgesehen haben, denn die Frauen von Dodona waren sehr nett zu ihm. Sie wuschelten seine Haare und servierten ihm köstliches Brot aus Eichenmehl, dick bestrichen mit aromatischem Ziegenkäse, der mit Honig gesüßt wurde.
»Geh früh am Morgen«, rieten sie ihm. »Die Eichen reden in den kühlen Morgenstunden mehr als in der Mittagshitze.«
Dunst hing über dem Land wie ein Schleier, als Perseus sich am nächsten Tag auf den Weg zum Eichenhain machte.
»Äh, hallo?«, rief er in die Bäume und kam sich dabei ausgesprochen albern vor. Die Eichen waren groß, stattlich und eindrucksvoll, aber sie wiesen keine Gesichter oder erkennbaren Münder auf.
»Wer ruft?«
Perseus zuckte zusammen.
Zweifelsohne eine Stimme. Ruhig, sanft, weiblich, aber stark und mit großer Autorität.
»Kann ich behilflich sein?«
Noch eine Stimme! Bei dieser schien ein klein wenig Sarkasmus mitzuschwingen.
»Mein Name ist Perseus. Ich bin gekommen …«
»Oh, wir wissen, wer du bist«, sprach ein Mann und trat aus dem Schatten.
Er war jung, erschreckend gut aussehend und etwas ungewöhnlich gekleidet. Außer dem Lendentuch um seine Hüften trug er nur einen runden Hut mit schmaler Krempe und geflügelte Sandalen. Davon abgesehen war er ziemlich nackt.9 Perseus fiel auf, dass sich um den Stab in seiner Hand zwei Schlangen wanden.
Hinter ihm erschien eine Frau mit einem Schild. Sie war groß, würdig und wunderschön. Als sie ihre strahlend grauen Augen hob, um Perseus anzublicken, berührte ihn etwas, das er nicht genau einordnen konnte. Er beschloss, dass es ihre majestätische Ausstrahlung war, und senkte seinen Kopf dementsprechend.
»Hab keine Angst, Perseus«, sagte sie. »Dein Vater hat uns gesandt, um dir zu helfen.«
»Mein Vater?«
»Er ist auch unser Vater«, erwiderte der junge Mann. »Der Wolkensammler und Sturmbringer.«
»Der Himmelsvater und König des Himmelreichs«, fügte die strahlende Frau hinzu.
»Z-Z-Zeus?«
»Genau der.«
»Du meinst, es ist wirklich wahr? Zeus ist mein Vater?«
Perseus hatte dieser verrückten Geschichte seiner Mutter nie Glauben geschenkt. Zeus sei zu ihr als Goldregen gekommen? Für ihn war klar gewesen, dass sein richtiger Vater irgendein umherziehender Barde oder Kesselflicker war, dessen Namen sie nicht einmal kannte.
»So ist es, Bruder Perseus«, versicherte die große Frau.
»Bruder?«
»Ich bin Athene, Tochter von Zeus und Metis.«
»Hermes, Sohn von Zeus und Maia«, sagte der junge Mann mit einer Verbeugung.
Ziemlich viel auf einmal, was dieser so behütet aufgewachsene Jugendliche zu verdauen hatte. Die beiden Olympier erzählten ihm, wie Zeus ihn seit seiner Geburt im Auge behalten hatte. Er hatte die hölzerne Truhe in das Fischernetz von Diktys geführt. Er hatte beobachtet, wie Perseus zu einem jungen Mann heranwuchs. Er hatte gesehen, wie er Polydektes’ Herausforderung angenommen hatte. Er bewunderte seinen Mut und hatte seine beiden Lieblingskinder geschickt, um ihrem Halbbruder bei seiner Suche nach dem Haupt der Medusa beizustehen.
»Ihr wollt mir helfen?«, fragte Perseus erstaunt. Das war mehr als erhofft.
»Wir können die Gorgone nicht für dich erschlagen«, entgegnete Hermes, »aber wir können dem Schicksal ein wenig nachhelfen. Vielleicht findest du das hier hilfreich.« Er blickte nach unten auf seine Sandalen. »Für meinen Bruder Perseus«, befahl er. Die Sandalen wickelten sich eigenständig von den Waden des Gottes ab und flogen zu Perseus. »Ziehe deine zuerst aus.«
Perseus gehorchte und schon saßen die Sandalen an seinen Füßen.
»Du hast genügend Zeit, dich an sie zu gewöhnen«, sagte Athene und beobachtete amüsiert, wie Perseus tänzelnd in die Luft hüpfte.
»Du verwirrst sie«, meinte Hermes. »Du brauchst nicht mit deinen Füßen herumzuwedeln. Denken genügt.«
Perseus schloss angestrengt die Augen.
»Nicht so, als würdest du scheißen. Stell dir einfach vor, du wärst in der Luft. Ja, genau so.«
Perseus öffnete die Augen und stellte fest, dass er über dem Boden schwebte. Mit einem Plumps landete er wieder unten.
»Üben, nur so geht es. Und hier ist die Kappe von unserem Onkel HADES. Trage sie, und du bist unsichtbar.«
Perseus ergriff die Kappe.
»Ich habe auch etwas für dich«, sagte Athene.
»Oh«, rief Perseus, legte die Kappe nieder und nahm das Objekt entgegen, das sie ihm hinhielt. »Eine Tasche?«
»Könnte sinnvoll sein.«
Nach den fliegenden Sandalen und der Tarnkappe schien sie eine Enttäuschung zu sein, aber Perseus versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. »Das ist sehr freundlich von dir. Sie ist bestimmt sehr nützlich.«
»Bestimmt«, erwiderte Athene. »Aber ich habe noch etwas für dich. Nimm dies …«
Sie gab ihm eine Waffe mit kurzer Klinge, die wie eine Sichel geformt war.
»Sei vorsichtig damit, die Klinge ist sehr scharf.«
»Stimmt allerdings«, sagte Perseus und leckte etwas Blut von seinem Finger.
»Das ist eine Harpe, sie durchschneidet alles.«
»Sie ist aus Adamant geschmiedet«, fügte Hermes hinzu. »Eine perfekte Kopie der großen Sichel, die Gaia für Kronos gefertigt hat.«
»Und dieser Schild ist wie kein anderer«, sprach Athene. »Sein Name ist AIGIS. Du musst darauf achten, dass seine Oberfläche immer glänzt, so wie jetzt.«
Perseus schützte seine Augen vor dem gleißenden Sonnenlicht, das die polierte Bronze reflektierte.
»Ist das der Plan, Medea mit diesem grellen Licht zu blenden?«
»Du musst selbst herausfinden, wie du ihn am besten einsetzt, aber glaube mir, ohne diesen Schild wirst du scheitern.«
»Und sterben«, sagte Hermes. »Was schade wäre.«
Perseus konnte seine Aufregung kaum verbergen. Die Flügel an seinen Fersen flatterten und er stellte fest, dass er schwebte. Ein paar Mal ließ er die Harpe durch die Luft sausen.
»Das ist alles sehr unerwartet. Und was mache ich als Nächstes?«
»Unsere Hilfe hat Grenzen. Wenn du ein Held werden willst, musst du dir selbst etwas einfallen lassen und dein eigenes …«
»Ich, ein Held?«
»Das kannst du werden.«
Hermes und Athene waren so besonders. Sie leuchteten. Alles, was sie taten, sah so mühelos aus. Dagegen fühlte Perseus sich ungestüm und ungelenk.
Als könne sie seine Gedanken lesen, sagte Athene: »Du wirst dich an Aigis gewöhnen, an die Sichel, die Sandalen, die Kappe und die Tasche. Das sind nur Äußerlichkeiten. Wenn du Geist und Seele ganz auf deine Aufgabe konzentrierst, geschieht alles andere wie von selbst. Entspanne dich.«
»Aber fokussiert«, wandte Hermes ein. »Entspannung ohne Konzentration führt zum Scheitern.«
»Konzentration ohne Entspannung führt genauso zum Scheitern«, entgegnete Athene.
»Also Konzentration …«, sagte Perseus.
»Genau.«
»… aber gelassen?«
»Gelassene Konzentration. Du hast es.« Perseus atmete ein paar Mal auf eine Weise aus, von der er hoffte, dass sie entspannt, aber fokussiert wirkte, konzentriert, aber gelassen.
Hermes nickte. »Ich glaube, dieser junge Mann hat die besten Chancen, erfolgreich zu sein.«
»Aber was alle diese wunderbaren Dinge nicht können, ist, mir beim Aufspüren der Gorgonen zu helfen. Ich habe überall gefragt, doch niemand weiß, wo sie leben. Irgendwo auf einer Insel weit draußen in der See, das hat man mir jedenfalls erzählt. Welche Insel? Welche See?«
»Das können wir dir nicht sagen«, meinte Hermes, »aber hast du schon von den PHORKIDEN gehört?«
»Noch nie.«
»Manchmal werden sie auch die GRAIEN genannt, oder die Grauen«, sagte Athene. »Wie ihre Schwestern, die Gorgonen Stheno und Euryale, sind sie Töchter von Phorkys und Keto.«
»Sie sind alt«, erläuterte Hermes. »So alt, dass sie sich ein einziges Auge teilen und einen Zahn.«
»Mach sie ausfindig«, fuhr Athene fort, »sie wissen alles, sagen aber nichts.«
»Wenn sie nichts sagen«, meinte Perseus, »wozu sind sie dann nütze? Soll ich sie mit der Sichel bedrohen?«
»Oh nein, etwas Raffinierteres als das musst du dir schon einfallen lassen.«
»Etwas weit Ausgekochteres«, fügte Hermes hinzu.
»Aber was?«
»Ich bin sicher, dir wird schon etwas einfallen. Man kann sie in einer Höhle an den wilden Ufern von Kisthene finden, das ist allgemein bekannt.«
»Wir wünschen dir viel Glück, Bruder Perseus«, sagte Athene.
»Entspannt, aber fokussiert, das ist entscheidend«, sagte Hermes.
»Auf Wiedersehen …«
»Viel Glück …«
»Wartet, wartet!«, rief Perseus, aber die Umrisse der Götter lösten sich bereits im hellen Morgenlicht auf und waren bald vollkommen entschwunden. Perseus stand allein im Hain der heiligen Eichen.
»Die Sichel ist immerhin real«, meinte Perseus mit Blick auf den Schnitt in seinem Daumen. »Diese Tasche ist real, diese Sandalen sind real. Aigis ist real …«
»Willst du, dass ich erblinde?«
Perseus fuhr herum.
»Pass einfach auf, dein Schild blendet«, sagte eine vergrätzt klingende Stimme.
Sie schien aus dem tiefen Herzen der Eiche gleich neben ihm zu kommen.
»Dann könnt ihr Eichen also doch sprechen«, entgegnete Perseus.
»Natürlich können wir sprechen.«
»Meistens wollen wir aber nicht.«
»Lohnt sich nicht.«
Stimmen kamen von überallher aus dem Wald.
»Ich verstehe«, sagte Perseus. »Aber vielleicht macht es euch nichts aus, mir den Weg nach Kisthene zu weisen?«
»Kisthene? Das ist in Äolien.«
»Eher Phrygien, eigentlich«, warf eine andere Stimme ein.
»Ich würde sagen, Lydien.«
»Jedenfalls Richtung Osten.«
»Nördlich von Ionien, aber südlich der Propontis.«
»Kümmere dich nicht um sie, junger Mann«, dröhnte eine ältere Eiche und raschelte mit ihren Blättern. »Die haben keine Ahnung, wovon sie reden. Flieg über die Insel Lesbos und dann entlang der Küste von Mysien. Du kannst die Höhle der grauen Geschwister nicht verpassen. Sie befindet sich unterhalb eines Felsens, der wie ein Wiesel geformt ist.«
»Du meinst, wie ein Hermelin«, krähte ein Setzling.
»Nicht ein Otter?«
»Ich sage Baummarder.«
»Der Felsen ähnelt einer Polarkatze und sonst niemandem.«
»Ich habe gesagt Wiesel und ich meine Wiesel«, fauchte die Alte und zitterte so sehr, dass ihre Krone erbebte.
»Danke«, sagte Perseus. »Jetzt muss ich aber los.«
Er warf sich die Tasche über die Schulter, befestigte die Sichel an seinem Gürtel und hielt den Schild fest in der Hand. Perseus legte die Stirn in Falten, um die Sandalen in Gang zu setzen, und mit einem Triumphschrei schoss er hoch in den blauen Himmel.
»Viel Glück«, riefen die Eichen.
»Schau dich nach einem Felsen in der Form eines Seidenaffen um …«
Der Tag war fast herum, als Perseus elegant, mit den Füßen zuerst, an der Küste Mysiens landete. Er befand sich vor einer Höhle, deren Form – in seinen Augen jedenfalls – einer zerquetschten Ratte glich. Mit Blick Richtung Westen stellte er fest, dass der Sonnenwagen des HELIOS sich von kupferfarben zu rot verfärbt hatte, als er sich dem Land der HESPERIDEN näherte und damit dem Ende seiner täglichen Runde.
Während Perseus auf den Höhleneingang zuschritt, stülpte er sich rasch die Kappe über, die Tarnkappe von Hades. In der Sekunde, in der sie auf seinem Kopf saß, verschwand der lange Schatten, der ihn im Sand begleitet hatte. Mit der Kappe über den Augen war alles dunkler und ein wenig verschwommen, aber er konnte dennoch einigermaßen sehen.
»Die werde ich nicht brauchen«, sagte er sich und ließ die Sichel, die Tasche und den Schild im Sand vor der Höhle liegen.
Er hörte Gemurmel, sah einen Lichtschimmer und lief durch einen langen kurvenreichen Gang darauf zu. Das Licht wurde heller und die Stimmen lauter.
»Ich bin dran mit dem Zahn!«
»Ich habe ihn gerade erst eingesetzt.«
»Dann sollte PEMPHREDO mir wenigstens das Auge lassen.«
»Ach, hör auf zu jammern, ENYO …«
Als Perseus den Raum betrat, sah er im flackernden Licht einer Laterne, die über ihnen hing, drei uralte Frauen. Ihre zerlumpten Kleider, die wirren Haare und das schlaffe Fleisch waren so grau wie das Gestein des Felsens. Aus dem entblößten Unterkiefer einer der Schwestern ragte ein einziger gelber Zahn hervor. In der Augenhöhle einer anderen Schwester huschte auf höchst besorgniserregende Weise ein einsamer Augapfel hin und her und auf und ab. Es war genauso, wie Hermes gesagt hatte: Sie teilten sich ein Auge und einen Zahn.
Auf dem Boden verstreut lagen Knochen. Die Schwester mit dem Zahn knabberte an einem davon herum und befreite ihn vom verwesenden Fleisch. Die Schwester mit dem Auge hatte sich einen anderen Knochen gegriffen und untersuchte ihn ebenso aufmerksam wie liebevoll. Die dritte Schwester ohne Auge und ohne Zahn hob ruckartig den Kopf und schnüffelte.
»Ich rieche einen Sterblichen«, quiekte sie und zeigte mit dem Finger in seine Richtung. »Schau nach, Pemphredo, benutze das Auge!«
Pemphredo, die Schwester mit dem Auge, schaute sich hektisch um. »Da ist nichts, Enyo.«
»Wenn ich es dir sage. Ein Sterblicher. Ich rieche es!«, rief Enyo. Beiß ihn, DEINO.10 Beiß ihn tot!«
Perseus schlich sich näher heran und bemühte sich, nicht auf einen weggeworfenen Knochen zu treten.
»Gib mir das Auge, Pemphredo! Ich schwöre dir, dass ich sterbliches Fleisch rieche.«
»Hier, nimm es.« Pemphredo klaubte das Auge aus ihrer Augenhöhle und die mit Namen Enyo streckte gierig die Hand aus, um es in Empfang zu nehmen. Mit einem Sprung nach vorn riss Perseus das Auge an sich.
»Was war das? Wo? Was?«
Perseus hatte Deino, die Schwester mit dem Zahn, gestreift. Er nutzte die Gelegenheit, dass ihr Mund vor Verblüffung offenstand, riss ihr den Zahn aus und trat mit lautem Lachen zurück.
»Guten Abend, die Damen.«
»Der Zahn, der Zahn! Jemand hat den Zahn gestohlen!«
»Wo ist das Auge? Wer hat das Auge?«
»Ich habe euren Zahn, Schwestern, und ich habe auch euer Auge.«
»Gib sie zurück!«
»Du hast kein Recht dazu.«
»Alles zu seiner Zeit«, entgegnete Perseus. »Ich könnte euch dieses milchige, alte Auge und diesen verfaulten, alten Zahn zurückgeben. Ich kann sie nicht brauchen. Natürlich könnte ich sie auch einfach ins Meer werfen …«
»Nein! Nein! Wir flehen dich an!«
»Flehen …«
»Das liegt an euch«, sagte Perseus und lief mehrfach im Kreis um sie herum. Immer wenn er vorbeikam, streckten die Alten ihre knochigen Arme aus, um ihn zu ergreifen, aber er war stets zu schnell.
»Was willst du?«
»Informationen. Ihr seid alt. Ihr wisst Dinge.«
»Was sollen wir dir sagen?«
»Wie ich eure Schwestern finde, die Gorgonen.«
»Was willst du von ihnen?«
»Ich möchte Medusa mit nach Hause nehmen. Einen Teil von ihr jedenfalls.«
»Ha! Du bist ein Narr. Sie wird dich petrifizieren.«
»Das heißt, du wirst zu Stein erstarren.«
»Ich bin kein Ignorant. Ich weiß, was ›petrifizieren‹ heißt«, sagte Perseus. »Überlasst das mal mir und sagt mir einfach, wo ich die Insel finde, auf der sie leben.«
»Du willst unseren lieblichen Schwestern schaden.«
»Sagt es mir, oder ich schleudere zuerst das Auge und dann den Zahn ins Meer.«
»Libyen«, schrie die mit Namen Enyo. »Die Insel liegt vor der Küste von Libyen.«
»Bist du nun zufrieden?«
»Sie werden dich töten und sich an deinem Fleisch gütlich tun und wir werden es hören und jubeln«, kreischte Deino.
»Und nun gib uns unser Auge und unseren Zahn zurück.«
»Selbstverständlich.« Diese Hexen mochten alt sein, sagte er sich, aber sie hatten scharfe Klauen, waren bösartig und rachsüchtig. Wäre gut, noch ein wenig Zeit für mich herauszuschlagen. »Ich mache euch einen Vorschlag: Lasst uns ein Spiel spielen«, sagte er. »Schließt die Augen und zählt bis hundert … oh, natürlich. Nicht nötig, eure Augen zu schließen. Zählt einfach bis hundert, während ich das Auge und den Zahn verstecke. Sie werden hier irgendwo in der Höhle sein, versprochen. Keine Mogelei. Eins, zwei, drei, vier …«
»Verdammt seist du, Kind des Prometheus!«
»Möge dein Fleisch von den Knochen abfaulen!«
Perseus bewegte sich rasch durch die Höhle und zählte mit ihnen gemeinsam. »Ihr solltet mir danken … neunzehn, zwanzig … und nicht fluchen«, rief er, als sie immer üblere und schmutzigere Obszönitäten über ihn ergossen. »Fünfundvierzig … sechsundvierzig … das ist doch bestimmt das Aufregendste, was euch seit Jahrhunderten passiert ist … achtundsechzig, neunundsechzig … ihr werdet über diesen Tag noch jahrzehntelang reden. Fangt nicht an zu suchen, bevor ihr bei hundert angekommen sei. Und nicht schummeln!«
Als Perseus den Höhleneingang am Strand wieder erreichte, hörte er die Stimmen der Graien hinter sich, schimpfend, schreiend und spuckend.
»Aus dem Weg, aus dem Weg!«
»Ich habe ihn, ich habe ihn!«
»Das ist nur ein Knochensplitter, du alte Närrin!«
»Das Auge! Ich habe das Auge!«
»Lass meine Zunge los!«
Perseus lächelte, als er die Sichel und den Schild wieder an seinem Gürtel befestigte. Zahn und Augapfel hatte er gut versteckt. Die Graien würden tagelang mit Herumkrabbeln beschäftigt sein. Er war sicher, dass sie ihre Suche nicht unterbrechen würden, um irgendeinen Vogel oder ein Meerestier aufzufordern, ihre Schwestern vor seiner Ankunft zu warnen. Doch auch wenn sie es taten, hätte er immer noch sein fabelhaftes Waffenarsenal. Der Schild Aigis, obwohl … Warum war es Athena so wichtig gewesen, dass er den Schild stets polierte, bis er strahlend glänzte?
Mit seinen Flugsandalen stieg er über der Meeresoberfläche empor und flog in Richtung libysche Küste.
Der Mondwagen SELENE stand hoch am Himmel, als Perseus die See nach der Heimstatt der Gorgonen absuchte. Er entdeckte sie bald: verschleiert im Nebel, mehr eine Abfolge von Felsnasen als eine Insel. Er ließ sich ein Stück herabsinken, um durch den Nebel zu spähen. Spärlicher Mondschein drang bis hierhin vor. Als er über der Insel schwebte, wurde ihm klar, dass das, was er für Felsformationen gehalten hatte, in Wirklichkeit lebensechte Statuen waren. Seehunde, Seevögel – und Männer. Sogar ein paar Frauen und Kinder. Wie ungewöhnlich, einen solchen Skulpturengarten in so einer abgelegenen und düsteren Gegend zu finden.
Nun konnte er die Gorgonen sehen. Die drei lagen fest schlafend im Kreis beieinander, ihre Arme in zärtlicher schwesterlicher Umarmung verschränkt. Es war nicht ganz, wie seine Mutter es ihm beschrieben hatte. Alle drei hatten Hauer statt Zähnen und Klauen aus Bronze, wie sie gesagt hatte, aber nur eine trug lebende, sich windende Schlangen anstelle der Haare. Das musste Medusa sein. Sie war kleiner als die anderen. Im Mondlicht sah ihr Gesicht weich aus. Die beiden anderen hatten schuppige Haut, die schlaff herabhing. Medusas Augen waren geschlossen, und Perseus konnte nicht widerstehen, die geschlossenen Lider zu betrachten, wohl wissend, dass sie ihn in geöffnetem Zustand in Sekundenschnelle töten würden. Ein einziger Blick und –
Oh, was für ein Narr er war! Die Statuen um ihn herum waren keine Kunstwerke, sie waren nicht die Arbeit eines talentierten Bildhauers, sie waren versteinerte Überbleibsel derjenigen, die von Medusas Blick getroffen worden waren.
Seine Sandalen schlugen beim Schweben leise mit den Flügeln. Er zog die Klinge der Harpe blank und hielt den Schild ausgestreckt vor sich. Was sollte er als Nächstes tun? Plötzlich begriff er, warum Athene ihn gedrängt hatte, den Schild zu polieren. Er konnte nicht direkt in Medusas Augen blicken, aber ihre Spiegelung … das war eine andere Sache.
Er neigte den Schild so weit, dass er die schlafende Gruppe recht deutlich als Reflexion auf der Oberfläche der glänzenden Bronze sehen konnte.
Jeder, der schon einmal versucht hat, im Badezimmerspiegel ein widerspenstiges Haar in den Augenbrauen zu trimmen, weiß, wie schwierig es ist, eine so delikate Aufgabe in der umgekehrten Welt der Spiegelung zu erledigen, ohne sich selbst zu erstechen. Links ist rechts und rechts ist links, nah ist weit und weit ist nah. Perseus positionierte den Schild so, dass er sich selbst im Blick hatte, wie er die Sichel vor- und zurückschwang.
Aber da war nichts zu sehen! Wie konnte es sein, dass seine Idee nicht funktionierte?
Natürlich! Er verfluchte sich für seine Blödheit, entfernte die Tarnkappe des Hades und stopfte sie in die Tasche. Gar nicht so einfach. Mit der schweren Sichel in einer Hand, halb damit beschäftigt, die Gorgonen nicht zu wecken, und halb damit, seine Sandalen in genau der richtigen Flughöhe zu halten, kam er beim Verstauen der Kappe ganz schön ins Schwitzen und Keuchen. Nun war er bereit, sich auf die Ausführung seines nächsten Schachzugs zu konzentrieren. Seine Reflexion jetzt klar vor Augen, übte er, den Schwertarm im gespiegelten Bild zu schwingen.
Ohne es zu bemerken, hatte er ein wenig an Höhe verloren. Das Sausen der Klinge hatte die Schlangen auf Medusas Haupt geweckt und sie begannen sich zu regen und zu spucken. Indem er den Winkel des Schildes leicht veränderte, sah er, dass sie ihn direkt anschauten und fauchten. Jeden Moment würde Medusa aufwachen – und ihre unzerstörbaren Schwestern vielleicht auch. Die Waffe im Anschlag, näherte er sich dem Körper der schlafenden Medusa. Im Schild konnte er sehen, wie sie sich regte und ihre Augenlider zuckten.
Ihre Augen öffneten sich.
Er wusste nicht, was er erwartet hatte, Hässlichkeit und Horror vielleicht, aber gewiss keine Schönheit. Doch trotz all ihrer Glut und Wut strahlten sie etwas aus, das ihn wünschen ließ, vom Spiegelbild abzulassen und tief in ihre echten Augen zu blicken. Er schob das Verlangen beiseite und erhob die Klinge.
Medusa starrte in den Schild. Sie hob ihren Kopf, um Perseus direkt anzuschauen, und bot ihm dabei deutlich sichtbar ihren Hals dar. Die Harpe sauste durch die Luft, und er spürte, wie die Waffe durch das Fleisch ihres Nackens fuhr. Er stürzte nach unten, um sich den Kopf zu schnappen, und steckte ihn in die Tasche, bevor die zuckenden, sterbenden Schlangen ihre Fänge in ihn schlagen konnten.
Er wollte wegfliegen, aber etwas hielt ihn an den Knöcheln fest. Die Gorgonen Stheno und Euryale waren wach geworden und zogen ihn kreischend nach unten. Mit einer mächtigen Anstrengung trat er immer wieder nach ihnen und trieb die Sandalen nach oben. Das Geschrei der empörten Schwestern hallte noch in seinen Ohren, als er durch die Nebeldecke in die klare, mondbeschienene Luft hochschoss, ohne einen Blick zurückzuwerfen.
Vielleicht hätte er zurückblicken sollen. Ein äußerst bemerkenswerter Anblick hätte sich ihm geboten: Seit dem Tag, an dem Poseidon sie in Athenes Tempel geschändet hatte, bewahrte Medusa von dieser Paarung Zwillinge in ihrem Bauch auf. Da ihr Kopf abgetrennt war, konnten diese nun geboren werden, und der klaffenden Wunde entsprang ein junger Mann, der eine Waffe aus glänzendem Gold trug. Sein Name war CHRYSAOR, was so viel bedeutet wie »Goldenes Schwert«.
Und noch eine weitere Gestalt entsprang dem offenen Hals der toten Medusa. Nicht seit die liebreizende APHRODITE dem schäumenden Samen von Uranos’ abgetrennten Hoden entstieg, wurde etwas so überirdisch Schönes von etwas so abstoßend Verdorbenem zur Welt gebracht. Chrysaors Zwilling war ein schimmernd weißes geflügeltes Pferd. Es scharrte in der Luft, flog hinauf in den Himmel, und ließ dabei seinen Bruder und zwei schreiende Schwestern zurück.
Der Name des Pferdes war PEGASOS.
»Ich habe es getan! Ich habe es getan!«, schrie Perseus den Mond an.
Und das hatte er. Mit Medusas Haupt sicher in der Tasche verstaut, die er zuerst so uninteressant gefunden hatte, flog er in einem Zustand höchster Erregung weiter. Er war so aufgekratzt, so high wegen des Nervenkitzels, den seine Tat ausgelöst hatte, dass er sich verirrte. Anstatt nach links bog er nach rechts ab, und bald fand er sich mutterseelenallein über einer fremden Küste wieder.
Er flog Kilometer um Kilometer und wurde nicht müde, aber zunehmend bestürzt ob der unbekannten Ufer. Und plötzlich, im ersten Licht der Morgendämmerung, stand ihm ein ganz außergewöhnliches Bild vor Augen. Ein wunderschönes Mädchen, nackt und an einen Felsen gefesselt.
Er flog zu ihr hin.
»Was machst du hier?«
»Wonach sieht es denn aus? Und ich wäre dir dankbar, wenn du mir ins Gesicht schauen würdest, wenn es dir nichts ausmacht.«
»Tut mir leid … ich habe mich nur gewundert … kann ich dir irgendwie helfen? Mein Name ist Perseus.«
»ANDROMEDA, sehr erfreut. Wie kannst du so in der Luft schweben?«
»Das ist eine lange Geschichte, aber zuerst einmal: Warum bist du an einen Fels gekettet?«
»Nun …« Andromeda seufzte. »Eigentlich die Schuld meiner Mutter. Ebenfalls eine lange Geschichte, aber da ich nichts Besseres zu tun habe, kann ich sie dir auch erzählen. Meine Eltern KEPHEUS und KASSIOPEIA sind König und Königin.«
»Wo genau befinden wir uns?«
»Äthiopien, was hast du denn gedacht?«
»Tut mir leid, weiter …«
»Es war alles die Schuld meiner Mutter. Eines Tages hat sie lauthals verkündet, ich sei schöner als alle NEREIDEN und OKEANIDEN zusammen.«11
»Nun ja, das bist du auch«, sagte Perseus.
»Ach, sei still. Poseidon hörte diese Prahlerei und war so empört, dass er ein Seeungeheuer mit Namen KETO schickte, um die Küste zu verwüsten.12 Kein Schiffsverkehr war mehr möglich und die Menschen verhungerten fast. Wir sind auf den Handel angewiesen, weißt du. Die Priester und Priesterinnen wurden befragt, und sie sagten meinen Eltern, der einzige Weg, den Gott zu besänftigen und Keto zurückzurufen, bestehe darin, mich nackt an einen Felsen zu ketten. Keto würde mich verschlingen, aber das Königreich wäre gerettet. Oh nein – da kommt er – sieh nur, sieh nur!«
Perseus wandte sich um und sah ein riesiges Seemonster die Wellen durchpflügen. Ohne eine Sekunde zu zögern, tauchte er ins Wasser, um ihm entgegenzutreten.
Andromeda schaute bewundernd und erleichtert zu, verzweifelte jedoch zunehmend, als Minuten vergingen und Perseus nicht wieder auftauchte. Sie konnte nicht wissen, dass er in Serifos den Rekord im Unter-Wasser-Luftanhalten hielt. Auch konnte sie nicht wissen, dass er eine Klinge besaß, die so scharf war, dass sie sogar Ketos verhornte Schuppenhaut zu durchdringen vermochte. Sie stieß einen lauten Schrei der Erleichterung aus, als Perseus schließlich mit triumphierender Miene durch die Wasseroberfläche brach, umspült von einer brodelnden Masse aus Blubber und Blut. Er winkte schüchtern, bevor er wieder zu Andromeda hochflog.
»Ich kann es nicht glauben«, rief sie. »Ich kann es nicht glauben. Wie hast du das gemacht?«
»Ach«, sagte Perseus und zerschnitt mit zwei raschen Hieben seiner Harpe ihre Fesseln. »Im Wasser habe ich mich immer schon zu Hause gefühlt. Bin mit meiner Klinge nur unter ihn getaucht und habe ihm den Bauch aufgeschlitzt. Möchtest du mitfliegen?«
Als sie schließlich am königlichen Palast landeten, war Andromeda so hoffnungslos in ihn verliebt wie er in sie.
Kassiopeia war überglücklich, ihre Tochter lebend wiederzusehen, und entzückt von der Vorstellung, dass der junge Held ihr Schwiegersohn werden sollte.
König Kepheus meinte säuerlich: »Vergiss nicht, meine Liebe, dass Andromeda schon meinem Bruder PHINEUS versprochen ist.«
»Pah«, entgegnete Kassiopeia, »eine informelle Verabredung, keine offizielle Verlobung. Er wird es verstehen.«
Phineus verstand nicht. Als Bruder des AIGYPTOS und Nachkomme des NEILOS13 glaubte er, dass eine Verbindung mit Andromeda es ihm erlauben würde, die mächtigsten Königreiche des Nils zu vereinigen. Diese Aussicht würde er sich von einem Grünschnabel mit einer Sichel nicht nehmen lassen. Das Gerücht, dieser Grünschnabel könne fliegen, ignorierte er.
Und so kam es, dass die Musik und das Gelächter des Verlobungsbanketts in der großen Halle des äthiopischen Palastes von Phineus zum Schweigen gebracht wurde, als dieser mit zahlreichen bis an die Zähne bewaffneten Männern hereinstürmte.
»Wo ist sie?«, brüllte Phineus. »Wo ist der Jüngling, der es wagt, sich zwischen mich und Andromeda zu stellen?«
Am Ehrentisch, wo die königliche Familie feierte, sahen Kassiopeia und Kepheus peinlich berührt zu, wie Perseus sich schwankend erhob. »Ich glaube, da wurde ein Fehler gemacht«, sagte er.
»Da hast du verdammt recht«, entgegnete Phineus. »Und der liegt bei dir. Dieses Mädchen ist mir schon vor Monaten versprochen worden.«
Perseus wandte sich an Andromeda: »Ist das wahr?«
»Es ist wahr«, sagte sie. »Aber ich wurde nicht gefragt. Er ist mein Onkel, um Himmels willen.«14
»Was hat das damit zu tun? Du bist mein und damit hat es sich. Und du«, fauchte Phineus und wies mit seinem Schwert auf Perseus, »du hast zwei Minuten, um diesen Palast und das Königreich zu verlassen, außer du möchtest, dass ein Torpfosten mit deinem Kopf verziert wird.«
Perseus blickte durch die Halle in Richtung Phineus. Hinter ihm mochten vielleicht sechzig bewaffnete Männer stehen, aber das Gerede über verzierte Torpfosten brachte Perseus auf eine Idee, die ihn ganz schwindlig machte. »Nein«, sagte er. »Ich gebe dir zwei Minuten, um den Palast zu verlassen – außer du möchtest diese Halle höchstpersönlich zusammen mit deinen Männern verzieren.«
Mit amüsierter Missachtung schürzte Phineus die Lippen. »Du hast vielleicht Nerven, das muss ich zugeben. Ein Sack voller Gold für den Ersten, der den vorlauten Hals dieses Balgs mit einem Pfeil durchbohrt.«
Die bewaffneten Männer grölten vor Vergnügen und spannten ihre Bogen.
»Diejenigen, die auf meiner Seite sind, versammeln sich hinter mir«, brüllte Perseus, öffnete seine Tasche und holte das Haupt der Medusa hervor.
Andromeda, Kassiopeia, Kepheus und die Hochzeitsgäste am Ehrentisch schrien vor Verwunderung gellend auf, als Phineus und seine Männer augenblicklich bewegungsunfähig wurden.
»Warum rühren sie sich nicht mehr?«
»Oh, mein Gott – sie sind zu Stein geworden!«
Perseus steckte den Kopf wieder zurück in die Tasche und wandte sich an seine zukünftigen Schwiegereltern. »Ich hoffe, ihr mochtet ihn nicht zu sehr.«
»Mein Held …«, japste Andromeda.
»Wie hast du das gemacht?«, kreischte Kassiopeia. »Sie sind Statuen. Statuen aus Stein. Wie ist das nur möglich?«
»Oh, weißt du«, sagte Perseus mit einem bescheidenen Schulterzucken. »Ich habe gestern Abend zufällig die Gorgone Medusa getroffen. Komme mit ihrem Haupt zurück. Dachte, es könnte nützlich sein.«
Perseus überspielte, wie groß seine Erleichterung war. Er war sich keineswegs sicher gewesen, dass die toten Augen der Gorgone ihre Fähigkeit zu versteinern beibehalten hatten. Ob die innere Stimme seiner eigenen Inspiration entsprungen war oder einem eingeflüsterten Ratschlag von Athene, würde er nie erfahren.
Kepheus legte eine Hand auf Perseus’ Schulter. »Ich habe Phineus immer gehasst. Du hast mir einen großen Dienst erwiesen. Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll.«
»Die Hand deiner Tochter ist alles, was ich an Dank benötige. Ich hoffe, du wirst mir erlauben, mit ihr auf meine Heimatinsel Serifos zu fliegen, um meine Mutter zu treffen? Nein!« Perseus schlug Königin Kassiopeia auf die Finger, die kurz davor war, die Klappe der Tasche zu öffnen. »Keine gute Idee!«
»Ach, Mutter«, seufzte Andromeda. »Wirst du es denn nie lernen?«
»Es ist kein Palast«, warnte Perseus Andromeda, als sie übers Meer nach Serifos sausten. »Nur eine schlichte Hütte.«
»Es ist dort, wo du aufgewachsen bist. Ich weiß, dass ich verrückt danach sein werde.«
»Ich liebe dich.«
»Natürlich tust du das.«
Doch als sie am Strand landeten, mussten sie feststellen, dass Diktys’ Hütte bis auf die Grundfesten abgebrannt war.
»Was ist nur passiert? Wo sind alle? Was ist nur passiert?«
Perseus stieß auf einen Pulk von Fischern, die in der Nähe ihre Netze reparierten. Sie schüttelten traurig die Köpfe. Danaë und Diktys waren von Polydektes gefangen genommen worden.
»Man sagt, der König veranstalte im Palast ein großes Fest.«
»Ach, selbst jetzt.«
»Um etwas bekannt zu geben, heißt es.«
Perseus schnappte sich Andromedas Hand und flog mir ihr zum Palast. Sie kamen hinten im Thronsaal an und sahen gerade noch rechtzeitig, wie Danaë und Diktys gefesselt vor den thronenden Polydektes geschleppt wurden.
»Wie könnt ihr es wagen? Wie könnt ihr es wagen, ohne meine Einwilligung zu heiraten?«
»Es war alles meine Idee«, sagte Diktys.
»Es war unsere Idee«, sagte Danaë.
»Aber ich habe um deine Hand angehalten. Du hättest meine Königin werden können«, schrie Polydektes. »Wegen dieser Beleidigung werdet ihr sterben.«
Perseus trat vor und schritt zum Thron. Polydektes sah über die Schultern von Danaë und Diktys, entdeckte ihn und lächelte breit.
»Schau einer an, wenn das nicht der mutige junge Perseus ist. Du hast mir versprochen, du würdest nicht ohne das Haupt der Medusa zurückkehren.«
»Und du hast versprochen, du würdest Oinomaos zu einem Wagenrennen um die Hand von Hippodamia herausfordern.«
»Ich habe es mir anders überlegt.«
»Warum hast du meine Mutter gefangen genommen?«
»Sie und Diktys müssen sterben. Du kannst neben ihnen hängen, wenn du magst.«
Danaë und Diktys wandten sich um.
»Lauf, Perseus, lauf!«
»Mutter, Diktys, wenn ihr mich liebt, dann dreht euch um und schaut Polydektes an. Ich bitte euch! Alle, die mich lieben, schauen nun auf den König!«
Das Lächeln auf Polydektes’ Gesicht sah nun etwas weniger selbstgewiss aus.
»Was soll der Unsinn?«
»Du hast um das Haupt der Medusa gebeten. Hier ist es.«
»Du erwartest doch sicher nicht von mir …« Weiter kam Polydektes nicht.
»Ihr könnt euch jetzt umdrehen und mich anschauen.« Perseus steckte Medusas Kopf wieder in die Tasche. »Ihr seid in Sicherheit.«
Die Statue des Polydektes auf seinem Thron, flankiert von steinernen Wachen in Waffen, wurde auf Serifos zu einer vielbesuchten Attraktion. Besucher zahlten dafür, sie sehen und berühren zu dürfen. Das Geld investierte man in den Bau eines Tempels für Athene und die Aufstellung Hunderter von Hermen überall auf Insel.15
Andromeda und Perseus verließen König Diktys und Königin Danaë und flogen weiter. Sie hätten bleiben und den Thron erben können. Sie hätten in Andromedas Heimatland zurückkehren und über die vereinigten Königreiche von Äthiopien und Ägypten herrschen können. Aber sie waren jung, beherzt, reiselustig, und Perseus war versessen darauf, sein Geburtsland zu besuchen. Als Baby war er weniger als eine Woche dort gewesen. Sein Großvater König Akrisios hatte alles dafür getan, um seine Existenz zu verhindern und sein Leben zu beenden, aber er war neugierig darauf, wie Argos, das berühmte Königreich seiner Geburt, aussah.
Als Perseus und Andromeda ankamen, mussten sie feststellen, dass Akrisios düster, grausam und despotisch geworden war, nachdem er Tochter und Enkelsohn vor so vielen Jahren in einer Truhe den Wellen übergeben hatte. Ungeliebt als Herrscher, war er bald schon vom Thron gestoßen worden. Niemand wusste, wo er sich nun aufhielt. Die Bewohner von Argos, die von Perseus’ erstaunlichen Fähigkeiten gehört hatten, luden ihn ein, den verwaisten Thron zu besteigen. Unsicher, was sie tun und wo sie sich niederlassen sollten, dankte das Paar den Argivern und bat um Bedenkzeit.
Sie besichtigten das Festland von Griechenland, wobei Perseus die Reisen mit Preisgeldern von Athletikwettbewerben bestritt, die er ausnahmslos gewann. Sie erfuhren, dass der König von Larissa die prächtigsten Spiele des Jahres abhielt, und begaben sich aus diesem Grund weit in den Norden nach Thessalien. Die besten Athleten von Griechenland nahmen teil, und derjenige, der die meisten Wettbewerbe für sich entscheiden konnte, würde mit großen Ehren bedacht werden. Einen nach dem anderen gewann Perseus jeden Wettbewerb. Als Letztes stand der Diskuswurf an. Perseus schleuderte die Scheibe so weit, dass sie über die letzte Markierung hinausflog und in den Zuschauerreihen landete. Der begeisterte Aufschrei, der diesem verblüffenden Kunststück folgte, wurde rasch zu einem Entsetzensschrei. Der Diskus hatte einen der Zuschauer getroffen.
Perseus rannte dorthin. Ein alter Mann lag auf dem Boden, Blut strömte aus seiner Stirn. Perseus wiegte ihn in den Armen.
»Es tut mir so leid«, sagte er, »so schrecklich leid. Ich kann meine Kraft nicht einschätzen. Mögen die Götter mir vergeben.«
Zu Perseus’ Überraschung lächelte der alte Mann und hustete sogar laut.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte er. »Es ist wirklich lustig. Ich habe das Orakel besiegt. Wie viele können das von sich behaupten? Es besagte, dass ich von meinem Enkel getötet werden würde, stattdessen liege ich hier, zu Fall gebracht von einem ungehobelten Trampel von Athleten.«
Der Diener des alten Mannes schob Perseus zur Seite. »Lass Ihrer Majestät Luft.«
»Majestät?«
»Weißt du nicht, dass dies König Akrisios von Argos ist?«
Unfall oder nicht, vorherbestimmt oder nicht, es war ein Verwandtenmord. In gedrückter Stimmung unternahmen Perseus und Andromeda eine Pilgerfahrt zum Berg Kyllene in Arkadien und zum Tempel des Hermes in der Nähe der Höhle, wo dieser geboren wurde. Auf den Altarstein legten sie die Tarnkappe und die Talaria, die geflügelten Sandalen. Als sie nach einem kurzen Gebet den Tempelbezirk verließen, warfen sie einen letzten Blick auf den Altar. Die Kappe und die Sandalen waren verschwunden.
»Wir haben das Richtige getan«, sagte Andromeda.
Als Nächstes machten sie sich auf nach Athen und versteckten in einem tiefen Spalt des Tempels der Athene die Sichel, den Schild und die Tasche, in der sich das Haupt der Medusa befand.
Athene höchstpersönlich erschien und segnete sie.
»Das hast du gut gemacht, Perseus. Unser Vater ist stolz auf dich.«
Sie erhob den Schild, und sie sahen das Gesicht der Medusa, erschrocken, bestürzt, traurig und irgendwie wunderschön, auf ewig gefangen in der glänzenden Oberfläche aus Bronze. Von diesem Moment an war der Schild die Aigis der Athene – ihr Erkennungszeichen, ihre Standarte und ihre Warnung an die Welt.
Über Perseus und Andromeda kann ich berichten, was man von anderen großen Helden nicht sagen kann: Sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Ende. Am Schluss ihrer Wanderschaft kehrten sie auf die Peloponnes zurück, die große südwestliche Halbinsel, die durch die Landbrücke Isthmus von Korinth16 mit dem griechischen Festland verbunden ist. Dort gründeten sie das große Königreich Mykene, das sich unter dem Namen Argolis nach und nach die Nachbarstaaten Arkadien, Korinth sowie Perseus’ Geburtsort, das Königreich Argos, einverleibte.
Durch ihren Sohn Perses begründete ihre Linie die persische Nation und das persische Volk.
Am Ende eines langen Lebens wurde Perseus und Andromeda der größte Preis zuteil, den Zeus an Sterbliche vergeben konnte. Zusammen mit Kassiopeia und Kepheus wurden sie als Sternbilder an den Himmel erhoben. Seitdem wachen Perseus und Andromeda über ihre unbändigen Sternschnuppenkinder, die PERSEIDEN, die wir heute noch einmal im Jahr am Nachthimmel beobachten können.