Zeus saß allein am Frühstückstisch und sinnierte bis weit in den Vormittag hinein über Heras Traum. Jemand würde erscheinen, um die Unsterblichen zu retten. Jemand aus der Nachkommenschaft des Perseus. Wahrscheinlich, so redete er sich ein, war das alles nur eine impertinente, von MORPHEUS überbrachte Fantasie, nichts als Lug und Trug. Aber es gab die Möglichkeit, eine vage Möglichkeit vielleicht nur, aber immerhin, dass der Traum tatsächlich eine Warnung war – eine Prophezeiung. Es konnte nicht schaden, Vorbereitungen zu treffen. Obendrein ließ sich vielleicht ein wenig Vergnügen dabei abzweigen.
Also. Die Nachkommenschaft von Perseus. Wo waren wir gleich …?
Zeus blickte nach unten auf Tiryns, die Hauptstadt von Mykene. Das königliche Paar Perseus und Andromeda waren als Sternbild ans Firmament erhoben worden. Aber hatten sie, fragte sich Zeus, irgendwelche direkten Nachkommen, die einen Helden zeugen könnten, dessen Stammbaum mit den Bedingungen in Heras Traum übereinstimmte?
Es gab zwei offenkundige Kandidaten: Ein Enkelkind von Perseus und Andromeda war STHENELOS, der derzeitige König von Mykene. Er war mit einer jungen Frau namens NIKIPPE17 verheiratet. Bisher war das Paar kinderlos geblieben.
Der zweite lebende Enkel war AMPHITRYON, der sich in seine Cousine, die schöne ALKMENE, verliebt und diese geheiratet hatte, eine weitere Enkelin von Perseus und Andromeda. Auch sie hatten keine Kinder.
Möglich, dass eines dieser Paare einen großen Helden in die Welt setzen würde. Und Alkmene – Zeus konnte nicht umhin, dies festzustellen – war sehr, sehr, sehr schön. Wie wäre es, wenn sie meinen Sohn austragen würde und nicht den von Amphitryon, fragte er sich. Da Alkmene Enkelin von Perseus war, würde das Kind, wie gefordert, ganz und gar seinem Geschlecht angehören. Aber er wäre eben auch ein Sohn von Zeus und deswegen aus dem Stoff, aus dem Helden gemacht sind.
Je mehr Zeus darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm die Idee. Ein Held würde zur Verfügung stehen, der die Anforderungen in Heras Traum erfüllte, und nebenbei, bis es so weit war, würde er in den Genuss höchster Lust kommen. Aber wie Alkmene schwängern? Sie und Amphitryon lebten nicht in Tiryns, sondern weit weg in Theben. Der Grund dafür war kompliziert, aber interessant.
Bei der Jagd hatte Amphitryon versehentlich Alkmenes Vater ELEKTRYON getötet (der natürlich sein Onkel wie auch sein Schwiegervater war). Die Tötung von Blutsverwandten, ob versehentlich oder nicht, zählte für die Griechen – daran muss ich Sie nicht erinnern – zu den düstersten und unverzeihlichsten Bluttaten. Amphitryon und Alkmene flohen nach Theben, wo der Herrscher KREON ihn seine Tat abbüßen ließ. Gereinigt und geläutert trennte Amphitryon sich in Theben kurzzeitig von seiner Frau und kehrte nach Mykene zurück, um dort eine Reihe von diffizilen dynastischen Differenzen beizulegen, worum Alkmene ihn gebeten hatte.
Deswegen lebte sie momentan allein in der großen Villa in Theben, die Kreon dem Paar zur Verfügung gestellt hatte. Sie war eine loyale, liebende Ehefrau, sodass Zeus entschied, ihr in Gestalt ihres geliebten Ehemannes Amphitryon entgegenzutreten18 und nicht als Adler, Ziege, Goldregen, Bär, Bulle oder irgendein anderes Tier oder Phänomen, in die er sich im Lauf seiner lüsternen Abenteuer verwandelt hatte.
Glaubwürdig ausstaffiert und staubbedeckt von der Straße, kam Zeus-Amphitryon eines Abends in der Villa an und berichtete der entzückten Alkmene, dass er in Mykene erfolgreich gewesen sei. Hingerissen davon, wie geschickt er die Schwierigkeiten gemeistert hatte, und froh, ihn sicher wieder zu Hause zu wissen, geleitete sie ihn in ihr Bett. Zeus dehnte die eine Nacht auf die Länge von dreien aus, um den Genuss voll auszukosten. Als der Morgen schließlich dämmerte, verließ er sie.
Amphitryon – der wahre Amphitryon – kehrte an diesem Morgen aus Mykene zurück und war erstaunt, dass Alkmene schon alles über seine triumphalen Erfolge wusste.
»Aber das hast du mir doch schon gestern Nacht erzählt, mein Lieber, du alberner Kerl von einem Ehemann«, sagte sie. »Und dann haben wir uns geliebt – und, ach, wie wundervoll das war! Wir haben uns immer wieder geliebt und mit solchem Feuer und Furor. Lass es uns noch einmal machen!«
Amphitryon war tagelang auf der staubigen Straße zwischen Tiryns und Theben unterwegs gewesen und hatte sich so sehr auf die Freuden der Liebe gefreut, dass er ihrer merkwürdigen Äußerung keine Beachtung schenkte und dankbar ins Bett hüpfte.
Hinterher konnte Alkmene es sich nicht verkneifen, den Unterschied zwischen dem Sex an diesem Morgen und in der Nacht zuvor zu erwähnen.
»Du machst Scherze«, sagte Amphitryon. »Letzte Nacht war ich noch auf der Straße. Frag meine Truppen.«
»Aber …«
Sie führten ein langes Gespräch, nur sie beide, und entschieden, dass allein TEIRESIAS weise genug und in der Lage wäre, dieses Geheimnis zu lüften. Teiresias sah nichts mit den Augen, alles jedoch mit seinem prophetischen Geist.
Der blinde thebanische Seher hörte sich die unterschiedlichen Darstellungen dessen, was am Tag zuvor geschehen war, an. »Der erste Besucher in deinem Bett war der Himmelsvater Zeus«, sagte er zu Alkmene. »Und nun vollzieht sich in deinem Innern etwas Bemerkenswertes.«
Und er hatte recht. Da sie kurz hintereinander mit Zeus und mit Amphitryon geschlafen hatte, wurde sie von beiden schwanger. Zwillinge wuchsen in ihrem Bauch, zwei Söhne – einer hatte Zeus zum Vater, der andere Amphitryon. Dieses Phänomen ist bei Säugetieren wie Katzen, Hunden und Schweinen als Polyspermie bekannt und bei Menschen zwar selten, aber nicht unbekannt. Es erfreut sich des Namens Superfekundation.
Auf dem Olymp war Hera nichts davon entgangen. Noch nie war die Königin des Himmels ob eines Seitensprungs ihres Gatten so erbost gewesen. Sie fand, dass seine Affären mit SEMELE, GANYMED, IO, KALLISTO, DANAË, LEDA und EUROPA nichts waren im Vergleich mit diesem monströsen, demütigenden Betrug. Vielleicht war es eine Untreue zu viel, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, vielleicht vermutete sie aber auch, Zeus habe echte Gefühle gehegt, oder sie war besonders gekränkt, weil dies eine Folge des Traumes war, den sie ihm mitgeteilt hatte. Aus welchem Grund auch immer, eine unerbittliche Hera beobachtete, wie Alkmenes Niederkunft immer näher rückte, und beschloss alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um die Frucht dieser empörenden Verbindung zu zerstören.
Hera konnte sich selbstredend darauf verlassen, dass die Eitelkeit ihres Mannes ihr schon bald Gelegenheit zur Rache verschaffen würde. Sie nahte in der Nacht, bevor Alkmene niederkam, als der König der Götter auf dem Olymp in Weinlaune war. Zeus blieb Zeus, so war er nun einmal.
»Das nächste Kind aus dem Hause Perseus wird ganz Argolis regieren«, platzte er heraus.
»Meinst du?«, fragte Hera schnell.
»Sicher meine ich das.«
»Schwöre es vor allen.«
»Wirklich?«
»Wenn du das meinst, schwöre es.«
»Nun gut«, sagte Zeus, verdutzt ob ihrer Ernsthaftigkeit, aber überzeugt davon, dass nichts schiefgehen konnte. Alkmene stand schließlich kurz vor der Niederkunft. »Ich erkläre in deinem Beisein«, sagte er mit lauter Stimme, »dass das nächste Kind, das in der Nachkommenschaft von Perseus geboren wird, über Argolis herrschen wird.«
Sie erinnern sich an Perseus’ anderen Enkel in Mykene, Sthenelos? Hera wusste, dass seine Frau Nikippe ebenfalls schwanger war, allerdings erst im siebten Monat. Dieser Umstand hätte anderen Leuten den Wind aus den Segeln genommen, aber Hera war nicht andere Leute. Sie war die Göttin der ehelichen Treue, die Königin des Himmels und, mehr noch, eine betrogene Ehefrau. Wo ein Wille war – und niemand hatte einen ausgeprägteren Willen als sie –, war ein Weg.
Sie rief ihre Tochter EILEITHYIA herbei, Göttin der Entbindung,19 und befahl ihr, sich unverzüglich nach Theben aufzumachen und mit zusammengepressten Beinen auf einem Stuhl vor Alkmenes Schlafzimmer auszuharren, bis sie weitere Nachricht erhielte. Diese Haltung so ganz in der Nähe der schwangeren Frau würde diese davon abhalten, ihre Beine für die Geburt breit zu machen. Wie Hera wusste, würde dies dem Kind bald die Luft abschnüren und es in ihrem Bauch töten. In der Zwischenzeit begab sie sich mit einem Trank zu Nikippe, der dafür sorgte, dass ihr Sohn mit Sthenelos vorzeitig zur Welt kam.
Ein komplizierter, grausamer, geschmackloser Plan, aber klug und wirkungsvoll. Eileithyia hatte solche Macht, dass Alkmene sich in Schmerzen wand und tatsächlich unfähig war, die Beine breit zu machen. In Tiryns wurde Nikippe erfolgreich von einem gesunden Jungen entbunden, den sie und Sthenelos EURYSTHEUS nannten.20
Triumphierend kehrte Hera auf den Olymp zurück. »Mein lieber Mann«, zwitscherte sie. »Du wirst hocherfreut sein. Ein Junge wurde geboren, niemand Geringeres als ein Nachkomme von Perseus!«
Zeus lächelte breit. »Ah, ja. Das habe ich mir schon gedacht.«
»Welch erfreuliche Nachrichten«, flötete Hera. »Ich freue mich so für das Paar. Sthenelos ist natürlich ein Enkel von Perseus, aber auch Nikippes Herkunft ist über jeden Zweifel erhaben. Was für ein Stammbaum! Geht nicht nur auf Pelops zurück, sondern auch …«
»Warte, warte, warte … Nikippe? Sthenelos? Was, verdammt noch mal, haben die damit zu tun?«
»Ach, habe ich das nicht erwähnt? Es sind Nikippe und Sthenelos, die der Welt einen Sohn geschenkt haben.«
»A… aber …«
»Sind das nicht wunderbare Nachrichten? Und nun wird dieser Junge – Eurystheus mit Namen –, Sohn des Sthenelos und Enkel von Perseus, über Argolis herrschen, genau wie du geschworen hast.«
»Aber …«
»Genau wie du geschworen hast«, wiederholte Hera zuckersüß. »Vor allen. Und ich weiß und werde dafür sorgen, dass diesem Jungen niemals ein Leid geschieht. Denn dein Wort ist Gesetz, und der mächtige Kosmos würde weinen und der Olymp würde einstürzen und die Götter fallen, solltest du so närrisch sein, und dein Wort brechen.«
»Ich … I…«
»Dein Mund steht offen, Liebling, und du sabberst ein wenig von deinem Bart direkt in den Schoß. Das ist äußerst unappetitlich. Möchtest du, dass Ganymed ein Taschentuch für dich holt?«
Zeus war nach allen Regeln der Kunst ausgetrickst worden. Hera wusste und er wusste, dass er gezwungen war, zu seinem Schwur zu stehen und diesen absolut unerwünschten Enkel des Perseus, diesen Eurystheus, zum Herrscher über Argolis zu machen – den vereinigten Ländern von Mykene, Korinth, Arkadien und Argos. Alle Pläne, die Zeus für seinen Sohn mit Alkmene hatte, drohten zu scheitern. Der Junge würde eine erbärmliche Totgeburt sein, und Hera würde gewinnen. Kein Ehepaar im Rosenkrieg wird den jeweils anderen einen Kampf des Willens gewinnen lassen, wenn es irgendwie geht. Aber Zeus fiel nichts ein, was er als Nächstes hätte unternehmen können. Er saß auf seinem Thron und grübelte finster nach.
Zum Glück für Zeus und die Geschichte war Alkmenes Wesen so liebreizend wie ihr Aussehen. Gute Menschen ziehen loyale, liebevolle Freunde an, und niemand war loyaler und liebevoller als die beiden Frauen, die ihr Beistand leisteten, GALANTHIS und HISTORIS. Sieben Tage und sieben Nächte hatten sie ihrer Freundin und Herrin dabei zugesehen, wie sie sich vor Schmerzen wand. Schließlich fasste Historis, eine Tochter von Teiresias und hochintelligent, einen Plan.
Draußen vor der Tür saß Eileithyia starr wie ein Statue, Beine eng zusammengepresst, und frage sich, wie lange es wohl dauern würde, bevor sie mit einiger Sicherheit annehmen konnte, dass das Baby in Alkmenes Bauch gestorben war. Sie musste sich dringend erheben, damit das Blut wieder zurück in ihre Schenkel fließen konnte.
Plötzlich ertönten aus dem Schlafzimmer Schreie. Konnte das die Neuigkeit sein, auf die sie wartete? Die Türen zu Alkmenes Zimmer wurden aufgerissen und Galanthis platze heraus. Sie rang die Hände und schrie, nicht vor Verzweiflung, sondern aus Freude.
»Verbreitet die Neuigkeiten, verbreitet die Neuigkeiten!«, rief sie. »Unsere Herrin hat entbunden. Oh, glücklicher Tag, glücklicher Tag!«
Entgeistert sprang Eileithyia auf. »Das kann nicht sein!«, schrie sie. »Das will ich sehen!«
Zu spät wurde ihr klar, dass sie überlistet worden war. Durch die offene Tür sah sie, wie Alkmene mithilfe von Historis endlich ihre Beine öffnete und presste. Zuerst einer, dann ein zweiter Junge erfüllte die Luft mit kräftigem Geschrei. Ihre Kleider raffend verließ Eileithyia die Szene. Sie wusste nur zu gut, wie groß Heras Zorn sein würde.
Unbändig in der Tat war Heras Rage, als sie herausfand, was passiert war. Mit einem eiskalten Fingerschnipsen verwandelte sie die freche und hinterhältige Galanthis in ein Wiesel.21
Nie hatte sie sich so betrogen und gedemütigt gefühlt. Von diesem Moment an schwor sie Alkmenes Sohn mit Zeus immerwährende Feindschaft.
Aber welcher der Zwillinge war der Sohn von Zeus und welcher der von Amphitryon? Beide waren gut aussehende Babys, lebhaft, stark und – wie man es bei Babys erwartet, die acht Tage zu spät kommen – robust. Die entzückten Eltern nannten den ersten Zwilling zu Ehren seines Großvaters Alkaios, Sohn des Perseus, Alkides, den anderen nannten sie IPHICLES.22 Wer von beiden der Sohn eines Sterblichen und wer der Sohn eines Gottes war, konnte man nicht unterscheiden.
Wer von den beiden der Sohn von Zeus war, würden sie noch schnell genug herausbekommen.
Die Villa, die König Kreon Alkmene und Amphitryon zur Verfügung gestellt hatte, während sie in Theben lebten, lag still im Mondlicht. Nur ein sehr aufmerksamer Wächter und dazu einer mit ungewöhnlich ausgeprägten Sinneswahrnehmungen hätte das sich unauffällig teilende hohe Gras an der äußersten Grundstücksgrenze bemerkt, als zwei türkisfarbene Schlangen über den Rasen zur Terrasse huschten.
Hera wollte bei ihrer Rache an dem Baby, das sich erdreistet hatte auf die Welt zu kommen, keine Zeit vergeuden. Sie hielt sich nicht mit der Frage auf, welcher von den Zwillingen der unstandesgemäße Abkömmling ihres Mannes war, und sandte zwei giftige Schlangen, um beide zu töten.
Ein besorgtes Wiesel beobachtete hilflos, wie sie die Terrasse vor dem Schlafzimmer der schlafenden Babys entlangglitten. Galanthis konnte nur hoffen und beten.
Amphitryon und Alkmene wurden am nächsten Morgen von einer hysterischen Historis geweckt.
»Oh, kommt, kommt!«, schrie sie und riss ihnen die Betttücher weg.
Aufgeschreckt folgten sie dem kreischenden Mädchen in das Kinderzimmer, wo sich ihnen ein ganz außergewöhnlicher Anblick bot. Zwei Babys lagen in ihrem Bettchen, das Gesicht des einen vor Angst entstellt und dunkelrot vom Schreien.
Das andere lag auf dem Rücken und strampelte. In jedem seiner Patschehändchen hielt es eine erdrosselte Viper. Es strahlte seine Eltern an, gluckste vor Vergnügen und winkte mit den Schlangen, als wären es Spielzeuge.23
»Nun«, sagte Amphitryon und schaute von einem Kind zum anderen. »Ich denke, wir wissen jetzt, welches Kind der Sohn von Zeus ist.«
»Alkides.«
»Genau.«
»Das hat Hera angezettelt«, sagte Alkmene, nahm den schluchzenden Iphikles auf den Arm und beruhigte ihn. »Sie hat diese Schlangen geschickt. Sie wird niemals ablassen von dem Versuch, meine Jungen zu zerstören.«
»Wie unfair gegenüber Iphikles«, tobte Amphitryon und kraulte seinen wahren Sohn unter dem Kinn. Wir müssen erneut Teiresias befragen.«
Noch am selben Abend begaben sie sich zu ihm, um seinen Rat zu hören. In ihrer Abwesenheit stahl sich der Gott Hermes leise in das Kinderzimmer, hob Alkides aus dem Bettchen, flog mit ihm auf den Olymp und übergab ihn der wartenden Athene.
Die beiden Götter schlichen sich an die schlafende Hera heran und legten den kleinen Alkides sacht an ihre Brust. Sofort begann er zu saugen. Aber er nuckelte so kräftig, dass Hera mit einem Schmerzensschrei aufwachte. Sie schaute nach unten, nahm Alkides von ihrer Brust ab und stieß ihn angewidert zur Seite. Milch aus ihrer Brustwarze spritzte in einem großen Strahl quer über den Nachthimmel und überzog die Sterne. Sterne, die seitdem als Milchstraße24 bekannt sind.
Hermes hatte das Baby geschickt aufgefangen und eilte mit ihm zurück nach Theben, um Alkides wieder in sein Bettchen zu legen, bevor jemand mitbekam, dass er fort gewesen war.
Diese ganze vermurkste Angelegenheit ging auf eine Idee von Zeus zurück. Er wollte, dass sein Sohn Alkides mit Heras Milch gestillt wurde, um ihn unsterblich zu machen. Seine Lieblingskinder Hermes und Athene hatten ihr Bestes gegeben, aber Alkides hatte kaum mehr als ein paar Tropfen zu sich genommen und keiner von ihnen wollte den Trick erneut anwenden.25
In der Zwischenzeit lauschten Alkmene und Amphitryon in Teiresias’ Tempel dem Rat des Sehers.
»Ich habe gesehen, dass Alkides große Taten vollbringen wird«, sagte er. »Schreckliche Monster erschlagen. Tyrannen stürzen und große Dynastien gründen. Er wird Ruhm erwerben wie kein Sterblicher vor ihm. Die anderen Götter werden ihm helfen, aber Hera wird ihn ohne Gnade verfolgen.«
»Können wir nichts tun, um sie zu besänftigen?«, fragte Alkmene.
Teiresias dachte kurz nach. »Nun, da gibt es etwas. Vielleicht könntet ihr den Namen des Kindes ändern.«
»Den Namen ändern?«, fragte Amphitryon. »Wie soll das helfen?«
»Indem du ihn beispielsweise ›Heras Ruhm‹ nennst? ›Heras Stolz‹«.
Und so wurde es beschlossen. Von nun an würde Alkides HERAKLES heißen.26
Der junge Herakles wuchs zusammen mit seinem Halbbruder Iphikles auf. Amphitryon und Alkmene erzogen sie gleich, aber die Schnelligkeit, mit der Herakles wuchs und an Gewicht und Muskeln zulegte, unterschied die beiden Jungen von Anfang an in den Augen aller, die ihnen begegneten.
Die Zwillinge wurden erzogen, wie es zu jener Zeit für Kinder eines königlichen Hauses üblich war. Wagenlenken, Speer- und Diskuswerfen, Hochsprung und Laufen unterrichtete Amphitryon. EURYTOS, der König von Oichalia, der berühmteste Bogenschütze von Griechenland und Enkel von Apollon, dem Gott der Bogenschützen höchstpersönlich, brachte dem jungen Herakles bei, wie man einen Bogen spannt und Pfeile mit großer Schnelligkeit und Zielgenauigkeit abschießt. Mit zehn hatte er bereits den Ruf eines furchterregenden Läufers, Hochspringers, Reiters, Tauchers, Weitwerfers und Bogenschützen. Deutlich wurde aber auch, dass er trotz seines gewinnenden und freundlichen Wesens ein feuriges und aufbrausendes Temperament besaß. Wenn er rotsah, konnte niemand außer seinem Vater ihn in den Griff bekommen.
Neben den physischen Fähigkeiten waren Rhetorik, Mathematik und Musik von herausragender Bedeutung für adelige junge Griechen, und in den besseren Familien war es eine Frage der Ehre, die besten Lehrer zu beschäftigen. LINUS, der Bruder von ORPHEUS und ebenfalls ein herausragender Musiker, brachte Herakles und Iphikles bei, wie man eine Lyra stimmt und spielt, wie man komponiert und singt, wie man präzise einen Rhythmus hält und wie man tanzt. Keine dieser eleganten Übungen fiel dem jungen Herakles leicht. Er hasste es, sich beim Versuch, einen Ton zu halten oder Tanzschritte auszuführen, gehemmt, plump und ungelenk zu fühlen. Der Tag kam, an dem Linus, erbost über Herakles’ Weigerung, zu den Unterrichtsstunden zu erscheinen, einen Stock erhob und ihm diesen über den Rücken zog. In Herakles’ Innerem brach ein Sturm los: Mit einem wilden Aufschrei griff er den Stock und sprang nach vorn, sodass er Linus unmittelbar gegenüberstand. Dann packte er ihn und schleuderte ihn durchs Zimmer. Linus fiel tot zu Boden, die Wirbelsäule und sämtliche Gliedmaßen zerschmettert.
Der Skandal war zu groß, als dass man ihn hätte vertuschen können, aber schlussendlich wurde Herakles vergeben. Iphikles war ebenfalls im Klassenzimmer gewesen und erzählte jedem, der es hören wollte, dass sein Bruder bis aufs Blut provoziert worden war. EUMOLPOS, ein Sohn von AUTOLYKOS27, übernahm den Musikunterricht. Zur gleichen Zeit bot CASTOR, der Zwilling von POLYDEUKES und wie Herakles Nachkomme einer Superfekundation,28 höchstpersönlich an, die Ausbildung in Waffenkunde und den Kampfkünsten zu vervollständigen.
Die Tötung von Linus offenbarte, dass der Geduldsfaden von Herakles sehr kurz war, etwas, das ihm und den Opfern seiner Ausbrüche in den kommenden Jahren noch viel Kummer bereiten würde. In den übrigen Bereichen seiner Ausbildung zeigte sich … wie soll man es freundlich ausdrücken? … es zeigte sich, dass, obwohl die Natur und das Schicksal29 ihn mit vielen guten Eigenschaften ausgestattet hatten, Witz und Weisheit, Geschick und Gerissenheit nicht unbedingt dazugehörten. Er war, wie wir vielleicht heute sagen würden, weit davon entfernt, das hellste Pixel auf dem Bildschirm zu sein. Er war nicht dumm, keinesfalls ein hirnloser Ochse, aber seine wirkliche Stärke war … seine Stärke.
Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass Herakles in seinen späten Teenagerjahren der größte, stärkste und schnellste junge Mann der Welt war. Die Götter, die auf seiner Seite waren, erwiesen ihm nun ihre Gunst, indem sie ihn für ein Leben voller Kämpfe, Herausforderungen und Belastungen ausstatteten. Athene schenkte ihm ein Gewand, Poseidon gab ihm vorzügliche Pferde, Hermes ein Schwert, Apollon Bogen und Pfeile und HEPHAESTOS eine wundersame Brustplatte aus purem Gold. Im Alter von gerade einmal achtzehn Jahren erschlug der junge Mann einen wilden Löwen auf dem Berg Kithairon30 und baute dadurch seinen Ruhm weiter aus. Volle neunundvierzig Tage lang verfolgte er das schreckliche Biest, während der König von Thespiai, der dankbare Thespis,31 dessen Reich am meisten unter diesem schrecklichen Ungeheuer gelitten hatte, Herakles für seine heroischen Anstrengungen belohnte, indem er ihm jede Nacht eine seiner fünfzig Töchter schickte.
Als zu guter Letzt der fünfzigste Morgen dämmerte, stellte Herakles den Löwen und tötete ihn. In der Nacht, nachdem er das fünfzigste Fest der Leidenschaft mit der fünfzigsten Tochter des Königs genossen hatte, ging Herakles nach Hause. Jede der Töchter gebar daraufhin einen Jungen, die jüngste und die älteste bekamen jeweils Zwillinge. Ein Sohn für jede Woche des Jahres. Wenn es um Liebesspiele ging, war Herakles ebenso viril und potent wie beim Töten.
Bei seiner Rückkehr verteidigte er Theben ganz allein gegen König ERGINOS von Orchomenos. Das Volk von Theben war schon immer stolz auf Herakles gewesen, nun aber wandelte sich Stolz zu Ehrfurcht. Sie verehrten ihn als den größten Thebaner seit Kadmos, dem Stadtgründer. Wäre es nach ihnen gegangen, hätte Herakles als König geherrscht. Theben hatte schon einen König, Kreon, der klug und politisch versiert genug war, Herakles die Hand seiner Tochter Megara anzubieten.32
Alles im Leben des jungen Herakles stand zum Besten. Sein Ruhm wuchs und verbreitete sich. Glückliche Jahre vergingen, in denen er Vater eines Sohnes und einer Tochter mit Megara wurde. Er wurde erwachsen und reifte zu einem liebevollen Ehemann und Vater heran, sehr wahrscheinlich zum Erben des Throns von Theben.
Herakles’ Alltag in Theben war fast modern zu nennen. Morgens gab er seiner Frau Megara und seinen Kindern einen Kuss und ging zur Arbeit, die aus dem Töten von Monstern und Stürzen von Tyrannen bestand. Moderne Pendler gehen vielleicht etwas weniger drastisch vor, wenn sie sich von lästigen Kollegen und Konkurrenten befreien wollen – die Drachen, die wir erschlagen, sind wohl eher metaphorisch zu betrachten als real –, aber die Methoden sind gar nicht so unterschiedlich.
An einem verhängnisvollen Abend kehrte Herakles zur Familienvilla zurück, wo er am Eingang auf zwei kleine, aber wild aussehende Dämonen mit feurigen Augen traf. Er griff sie sofort an, rang sie zu Boden, brach ihnen das Rückgrat und trampelte auf ihren knirschenden Köpfen herum, bis sie zermalmt und tot zu seinen Füßen lagen. Plötzlich stürmte ein riesiger, kreischender Drache aus dem Haus auf ihn zu. Aus Mund und Nasenlöchern schlug ihm Feuer entgegen. Herakles stürzte sich auf ihn, legte die Hände um seinen schuppigen Nacken und drückte mit aller Kraft zu. Erst als das Monster zu Boden ging und sein Leben aushauchte, riss Hera den Nebel des Wahns beiseite, mit dem sie ihn belegt hatte. Nach unten blickend sah er nun mit entsetzlicher Klarheit, dass er seine Frau Megara getötet hatte und dass die beiden Dämonen seine geliebten Kinder waren.
Dies war einer von Heras grausamsten Übergriffen und Beweis ihres unermesslichen Hasses. Zu sehen, wie ihr verabscheuter Feind ein glückliches und erfülltes Leben führte, hatte sie mehr und mehr erzürnt. Sie entschied sich, Herakles auf ein absolutes Nichts zu reduzieren, ihm zügig und unwiderruflich alles zu nehmen, was ihm etwas bedeutete. Nicht nur diejenigen, die er am meisten liebte, sondern auch seinen Ruf. Als die Nachricht von der Tat die Runde machte, sprach niemand mehr mit ihm oder näherte sich ihm. Er war beschmutzt. »Gefallener Held« ist eine abgenutzte Formulierung, aber niemand vor ihm ist je so tief im öffentlichen Ansehen gesunken, ausgehend von allumspannender Liebe und Verehrung hin zu Abscheu und Verachtung.
Herakles’ Trauer war überwältigend. Er wollte sterben, doch er wusste auch, dass er durch unerbittliche Selbstbestrafung Sühne leisten musste. Nur dann wäre es ihm erträglich, die Seelen von Megara und seinen Kindern in der Unterwelt zu treffen. Ohne Läuterung durch einen König, ein Orakel, eine Priesterin oder einen Priester mussten diejenigen, die sich eines Blutverbrechens schuldig gemacht hatten, versuchen, sich selbst zu läutern durch ein Leben voller Buße im Exil. Sollte es ihnen nicht gelingen, ihre Verbrechen zu sühnen, würden die Erinnyen, die wilden Furien, vom Erebus aufsteigen und sie mit eisernen Peitschen in die Tiefe jagen, bis sie wahnsinnig würden.
Herakles verließ Theben und rutschte auf den Knien33 nach Delphi, um Rat zu suchen.
»Um für seine verabscheuungswürdigen Verbrechen Buße zu tun, muss Herakles nach Tiryns reisen und sich demütig vor den Thron werfen«, verkündete Pythia.
Herakles konnte es nicht wissen, aber die Priesterin war von Hera verzaubert worden und diese Worte waren die ihren.
»Zehn Jahre lang muss er klaglos dienen«, fuhr die Priesterin fort. »Was man ihm aufträgt, muss er tun. Welche Aufgaben er auch immer erledigen soll, Herakles muss sie willig erledigen. Nur dann kann er frei sein.«
Heras Geist verließ die Priesterin, und nun erfüllten die Stimmen von Apollon und Athene sie.
»Erledige uneingeschränkt alles, was man dir aufträgt, und die Unsterblichkeit wird dein sein. Dein Vater hat es versprochen.«
Herakles wollte nicht unsterblich werden, aber er wusste, dass er auf jeden Fall zu gehorchen hatte. Er wandte den Kopf und blickte die Straße entlang Richtung Tiryns, der Hauptstadt von Mykene. Ihr König war der inzwischen erwachsene Eurystheus, Herakles’ Cousin, derjenige, dessen vorzeitige Geburt vor so vielen Jahren von Hera angeordnet worden war, um Zeus’ Plan zu ruinieren, den Thron für Herakles zu sichern.
Eurystheus besaß keine von Herakles’ Eigenschaften, weder Kraft noch Geist, Großzügigkeit, Talent oder natürliche Autorität. Er wusste nur allzu genau um den Ruf seines stärkeren, fähigeren, beliebteren Cousins. Hass, Neid und Missgunst schwelten lange schon in ihm. Welches Maß an Selbstkontrolle es für Herakles bedeutet haben muss, vor Eurystheus’ Thron niederzuknien und um Auferlegung einer Sühne zu bitten, können wir nur erahnen.
»Die Abscheulichkeit deiner widernatürlichen Verbrechen empört alle fühlenden Wesen«, sagte der König und genoss jedes Wort. »Du bist es nicht wert, in der Gesellschaft der Menschen zu leben, bis du den vollen Preis dafür entrichtet hast. Innerhalb von zehn Jahren wirst du ohne jede Hilfe und Bezahlung zehn Aufgaben für mich erfüllen. Hast du die letzte davon erfüllt, bin ich möglicherweise geneigt, dir zu vergeben, dich als meinen Cousin zu umarmen und dir die Freiheit zu gewähren. Sind wir uns einig?«
Hera hatte ihre Marionette gut instruiert.
Herakles beugte den Kopf.
Eurystheus rieb sich das Kinn und dachte lange nach. Wenn er seinen unbändigen Cousin schon herumkommandieren und zu nützlicher Arbeit anleiten sollte, konnte er genauso gut zu Hause beginnen. Eurystheus herrschte nicht nur über Mykene, sondern auch – dank Zeus’ voreiligem Versprechen – über die ganze Argolis, die großflächig von furchterregenden wilden Bestien geplagt wurde.35
Die grauenerregendste von ihnen war ein Löwe, der in Nemea, im Nordosten des Königreiches, auf Beutefang ging, nicht weit entfernt vom Isthmus von Korinth. Die Angst vor diesem schrecklichen Tier hielt die Reisenden und Händler davon ab, Geschäfte mit den Argoliden und den übrigen Menschen auf der Peloponnes zu machen. Als Nachkomme der grässlichen CHIMÄRE36 war dies kein gewöhnlicher Löwe. Sein goldenes Fell war so dick, dass Pfeile und Speere davon abprallten wie Strohhalme. Seine Krallen waren scharf wie Rasiermesser und konnten eine Rüstung durchdringen, als wäre sie aus Papier. Seine mächtigen Kiefer zerkauten Felsgestein wie Sellerie. Der Versuch, ihn zu bezwingen, hatte schon zahlreiche Krieger das Leben gekostet.
»Begib dich nach Nemea«, trug Eurystheus Herakles auf, »und töte den Löwen, der diese ländliche Gegend verwüstet.«
Schade eigentlich, dachte Eurystheus mit einem Grinsen. Er wird mir keine zehn Jahre zu Diensten sein. Schon die erste Aufgabe wird ihn umbringen. Nun ja.
»Einfach nur töten?«, fragte Herakles. »Soll ich ihn nicht herbringen?«
»Nein, ich will ihn nicht hier haben. Was soll ich mit einem Löwen?«
Unter dem schallenden Gelächter seiner buckelnden Untertanen tippte Eurystheus sich an die Stirn, als Herakles strammstand, sich verbeugte und den Thronsaal verließ.
»Arme wie Eichen, aber ein Hirn wie Eicheln«, prustete der König.
Herakles versuchte monatelang, die Bestie zu stellen, wie er es Jahre zuvor mit dem Thespischen Löwen gehalten hatte. Er wusste, dass seine Waffen, ganz gleich welch beeindruckender und göttlicher Quelle sie auch entstammten, gegen das undurchdringliche Fell des Löwen nichts ausrichten konnten. Er würde sich auf seine bloßen Hände verlassen müssen, also nutzte er diese Monate zum Trainieren. Er fand Gefallen daran, Bäume zu entwurzeln und Felsblöcke zu stemmen, bis seine rohe Kraft, die ohnehin schon gewaltig war, ihren Höhepunkt erreichte.
Als er spürte, dass er bereit war, verfolgte Herakles den Löwen bis zu seinem Versteck. Er stürzte sich auf das gewaltige Monster und rang es nieder. Noch nie hatte es jemand gewagt, die Bestie auf diese Weise anzugreifen. In einer engen Umklammerung gab Herakles dem Löwen keine Gelegenheit auszuholen und mit seinen Klauen oder Beißern zuzuschlagen. Welchen Nutzen hatte sein undurchdringliches Fell, wenn Herakles’ eiserner Griff ihm die Kehle abschnürte? Stundenlang rangen sie im Staub, bis der letzte Rest Leben aus ihm herausgepresst war und der große Nemeische Löwe nicht mehr atmete.
Herakles stand neben dem Körper und verneigte sich. »Es war ein fairer Kampf«, sagte er. »Und ich hoffe, du hast nicht gelitten. Ich hoffe auch, du vergibst mir, wenn ich dir nun die Haut abziehe.«
So viel Respekt vor einem Feind, auch wenn es sich nur um ein dummes Tier handelte, war typisch für Herakles. Solange seine Gegner lebten, kannte er keine Gnade, aber in der Sekunde, wo sie tot waren, tat er sein Möglichstes, um sie mit allen Ehren in die nächste Welt zu schicken. Er konnte nicht sicher wissen, ob Tiere eine Seele hatten oder auf ein Nachleben hoffen durften, selbst im Falle von Echidna und Typhon nicht, die von den primordialen Wesen abstammten, aber er verhielt sich, als wäre es so. Je größer der Kampf, den sie sich lieferten, desto ehrfurchtsvoller seine Totengebete.
Eurystheus’ herablassende Verabschiedung hatte ihn getroffen. Er wollte seine Beute häuten und das Fell im Triumph nach Mykene tragen, deswegen bat er den Löwen um Erlaubnis, sich seines Körpers bemächtigen zu dürfen. Doch Herakles musste feststellen, dass selbst seine schärfsten Messer und Schwerter nicht einmal einen Kratzer auf diesem Fell hinterließen. Schließlich kam er auf die Idee, dem Löwen die rasiermesserscharfen Krallen zu ziehen. Sie waren scharf genug, und Herakles balgte das Tier in einem einzigen Stück ab, den Kopf eingeschlossen. Er zog die tödlichen Krallen auf und fertigte daraus eine Halskette. Im Überschwang der Gefühle riss er die größte Eiche, die er finden konnte, aus dem Boden und entfernte sämtliche Äste, um so eine mächtige Keule zu erhalten.
Mit der Krallenkette um den Hals, dem undurchdringlichen Fell über den Schultern, dem Löwenkopf mit aufgerissenem Rachen und blitzenden Augen auf dem Haupt sowie der mächtigen Keule, die er seitlich vom Körper schwang, hatte Herakles seinen Look gefunden.
Eurystheus hatte nicht erwartet, Herakles so schnell und vor allem lebend wiederzusehen, und gewiss nicht so wüst eingekleidet, wie ein ungezähmter Bandit der Berge. Der König war allerdings gewieft genug, seine Bestürzung zu verbergen.
»Ach … das war zu erwarten«, sagte er mit einem unterdrückten Gähnen. »Ein alter Löwe ist keine Herausforderung. Nun ja, dann zur nächsten Aufgabe. Kennst du den See Lerna unweit von hier? Er wird von einer Hydra terrorisiert, die dort das Tor zur Unterwelt bewacht. Ich würde mich nie und nimmer einmischen, hätte das Ungeheuer nicht damit begonnen, unschuldige Männer und Frauen, die sich ihm nähern, anzugreifen. Ich bin zu beschäftigt, um mich selbst darum zu kümmern, also schicke ich dich, Herakles, um uns von diesem Ärgernis zu befreien.«
»Wie du wünschst«, erwiderte Herakles und verbeugte sich zustimmend, was den Kopf des Nemeischen Löwen dazu veranlasste, lautstark seinen Rachen zu schließen. Ohne es zu wollen, sprang Eurystheus verängstigt auf. Mit einem kaum verhohlenen verächtlichen Grinsen wandte Herakles sich um und zog davon.
Hera hatte den See Lerna mit ausgesuchter Niedertracht präpariert. Er wurde nicht nur von der Hydra heimgesucht, einer riesigen Wasserschlange mit neun Köpfen (einer davon unsterblich), die imstande waren, das tödlichste Gift zu versprühen, das die Welt je gekannt hatte. Zusätzlich hielt Hera in den Tiefen des Sees einen grausamen, gigantischen Krebs versteckt.
Als Herakles sich näherte, bäumte die Hydra sich auf, wobei ihre tückischen Köpfe Gift spritzten.37 Entschlossen holte er aus und schlug einen davon ab. Sofort wuchsen aus dem Stumpf zwei neue Köpfe.
Das würde schwierig werden. Jedes Mal, wenn Herakles einen Kopf abgeschlagen oder mit der Keule bearbeitet hatte, wuchsen an dieser Stelle zwei neue nach. Die Sache wurde nicht einfacher dadurch, dass nun auch die Krabbe aus dem Wasser hervorschoss und ihn wütend attackierte. Mit ihren gigantischen Scheren versuchte sie immer wieder ihn aufzuschlitzen und auszuweiden. Während er zur Seite sprang, ließ Herakles mit aller Kraft die Keule nach unten sausen und schlug ihre Schale in tausend Stücke. Die zermalmte Kreatur im Innern riss ihren schleimigen Körper hoch in die Luft, erzitterte und fiel tot in sich zusammen. Hera schenkte ihrem liebsten Krustentier einen Platz am Sternenhimmel, wo es heute als Sternbild Krebs erstrahlt. Doch sie war zufrieden. Ihre heißgeliebte Hydra war dabei, ihre Rache zu vollenden. Inzwischen hatte sie schon vierundzwanzig Köpfe, von denen jeder einzelne Gift verspritzte.
Herakles unternahm einen taktischen Rückzug. Als er sich in sicherer Entfernung niederließ, um darüber nachzusinnen, was er als Nächstes unternehmen sollte, trat sein Neffe Iolaos, der Sohn von Herakles’ Zwillingsbruder Iphikles, zwischen den Bäumen hervor.
»Onkel«, sagte er. »Ich habe alles mit angesehen. Wenn Eurystheus dich mit einer doppelten Prüfung belasten darf, sollte es mir erlaubt sein, dir zu helfen. Lass mich dein Knappe sein.«
In der Tat hatte das Eingreifen der Krabbe Herakles mächtig gefuchst. Stets nur eine Aufgabe, so war es abgemacht. Das Auftauchen einer zweiten, unangekündigten Gefahr schien ihm unfair. Er nahm das Angebot seines Neffen an und sie heckten gemeinsam einen neuen Angriffsplan aus. Ich neige zu der Annahme, dass das Vorhaben eher dem Kopf von Iolaos entsprang als dem von Herakles, der ein Mann der Tat war, ein Mann der Leidenschaft und ein Mann unbegrenzten Mutes, aber nicht unbedingt ein Mann des Geistes.
Der Plan sah vor, sich der Hydra systematisch zu nähern: Herakles würde vortreten und einen Kopf abschlagen. Anschließend würde Iolaos blitzschnell mit einer brennenden Fackel von der Seite kommen, den Stumpf ausbrennen und damit verhindern, dass weitere Köpfe an dieser Stelle nachwachsen konnten. Abhacken, kauterisieren, abhacken, so sah ihr System aus – und es funktionierte.
Nach stundenlanger anstrengender und ekelerregender Arbeit war nur noch ein Kopf übrig, der unvergängliche Kopf, der Kopf, der nicht sterben konnte. Zu guter Letzt hackte Herakles auch diesen ab und vergrub ihn tief in der Erde. Bis zum heutigen Tag steigen die giftigen Dämpfe seines Atems über den Wassern des Sees Lerna auf.
»Danke«, sagte Herakles zu Iolaos. »Jetzt kannst du nach Hause gehen. Und kein Wort zu deinem Vater.« Herakles wusste, dass sein Zwillingsbruder ihm böse wäre, wenn er hörte, dass sein Sohn sich in so großer Gefahr befunden hatte.
Herakles fand es nicht angebracht, sich der Hydra gegenüber ehrerbietig zu zeigen. Immerhin lebte der unsterbliche Kopf immer noch Hass sabbernd im Untergrund. Nicht deshalb also kniete er neben dem zuckenden Körper nieder, sondern um die Spitzen seiner Pfeile in das gerinnende Blut zu tauchen. Die giftgetränkten Pfeile würden sich als unermesslich nützlich erweisen – und als unermesslich tragisch.
Ihr Gebrauch würde die Welt verändern.
Nun wurde Eurystheus hinterlistig. Eine Wasserschlange war eine Sache, aber mit einem Olympier konnte es nicht einmal Herakles aufnehmen.
»Bring mir die goldene Kerynitische Hirschkuh«38, sagte er.
Er war davon überzeugt, dass die dritte Aufgabe Herakles’ letzte sein würde. Selbst wenn er erfolgreich wäre, würde sie zum sicheren Tod führen oder zumindest ewige Folter bringen.
Die Kerynitische Hirschkuh hatte goldene Hufe und ein goldenes Geweih und tat niemandem ein Leid. Flinker als jeder Jagdhund oder Pfeil, stellte sie eine Herausforderung für alle Jäger dar, aber keine Gefahr. Doch die Hindin war der Artemis heilig, und hier lag die Bedrohung. Wie brachial die Göttin ihr Eigentum schützte und jeden Frevel gegen sie oder jene, die ihr folgten, ahndete, war allseits bekannt.39 Herakles würde entweder an seiner Aufgabe scheitern oder von Artemis wegen Vermessenheit niedergestreckt werden. Wie auch immer, Eurystheus war sich sicher, dass der lästige Cousin nicht zurückkehren würde.
Fast ein Jahr lang verfolgte Herakles seine Beute über Berg und – vermutlich – auch Tal. Schließlich gelang es ihm, das Tier mit einem Netz einzufangen und zu bezwingen.
Einem so scheuen und schönen Wesen wollte er keinesfalls etwas antun. Vorsichtig warf er sich die Hirschkuh über die Schulter und sprach beruhigend auf sie ein, während er zurück nach Mykene lief.
Als sie einen Wald durchquerten, trat Artemis aus den Schatten.
»Du wagst es?«, zischte sie und erhob ihren silbernen Bogen.
»Göttin, Göttin, ich liefere mich deiner Gnade aus!« Herakles fiel auf die Knie.
»Gnade? Dieses Wort kenne ich nicht. Bereite dich auf den Tod vor.«
Als Artemis anlegte, trat ihr Zwilling Apollon aus dem Wald und drückte ihren Bogen nach unten. »Na, Schwester«, sagte er. »Weißt du nicht, dass es sich um Herakles handelt?«
»Und wäre es unser Vater, der Sturmbringer höchstpersönlich, würde ich ihn dafür erlegen, dass er es gewagt hat, meine Hindin zu stehlen.«
»Ich verstehe«, erwiderte Herakles kleinlaut. »Es ist ein furchtbares Sakrileg, aber ich bin an König Eurystheus gebunden und er war es, der mir befohlen hat, das Tier zu fangen. Es ist Heras Wille, dass ich ihm gehorche.«
»Heras Wille?«
Apollon und Artemis besprachen sich. Die Königin des Himmels pflegte bestenfalls eine kühle, formelle Beziehung zu den Kindern, die Zeus mit anderen Frauen zeugte,40 und hatte den Zwillingen das Leben nie leicht gemacht. Die Vorstellung, ihrem Feind zu helfen, amüsierte sie und ihren Bruder.
Artemis wandte sich an Herakles. »Du darfst deinen Weg fortsetzen«, verkündete sie. »Aber nachdem du meine Hirschkuh am Hof von Mykene vorgezeigt hast, musst du sie in die Wildnis zurückbringen.«
»Du bist so weise, wie du schön bist«, sagte Herakles.
»Gottchen«, rief Apollon. »Mit Schmeichelei wirst du bei meiner Schwester nicht weit kommen. Also los!«
Eurystheus war baff, als Herakles mit dem herrlichen Geschöpf zurückkehrte, und er kündigte an, es zum Prunkstück seiner privaten Menagerie zu machen. In Anbetracht seines Versprechens gegenüber Artemis antwortete Herakles jedoch:
»Gewiss, mein König. Tretet vor, das Tier gehört Euch.«
In dem Moment, wo Eurystheus sich näherte, kniff Herakles der Hirschkuh unter dem Schutz seines Löwenfells fest in die Seite. Eurystheus sprang hinzu und versuchte sie festzuhalten, als sie sich aufbäumte, doch mit einem Bellen galoppierte sie davon, wobei ihre goldenen Hufe auf den Palastfliesen Funken schlugen.
»Du hast deine Aufgabe nicht erfüllt!«, fauchte Eurystheus.
»Majestät, ich brachte die Hindin hierher wie abgemacht«, entgegnete Herakles. »Schade, dass Ihr nicht schnell genug wart, sie einzufangen, aber dafür kann ich nichts.« Er wandte sich an den Hof. »Ich habe doch sicher alles getan, was von mir verlangt wurde?«
Hin und wieder legte Herakles so etwas wie echte Gewitztheit an den Tag.
Als nächste Aufgabe sollte Herakles einen gigantischen Eber, der die Gegend um den Berg Erymanthos in Arkadien verwüstete, lebend fangen und nach Mykene bringen.
An sich war das keine große Herausforderung und wäre kaum der Rede wert gewesen, hätte es da nicht einen Vorfall gegeben, der unseren Helden als Flegel und Fiesling zeigt. Dies könnte man als ersten Schritt auf dem Weg zu seinem schrecklichen Ende bezeichnen. Herakles holte sich Rat bei einem Freund in der Nähe, der über die Gewohnheiten des Ebers im Bilde war, ein Kentaur namens PHOLOS. Als Nachkomme von IXION und der Wolkengöttin NEPHELE41 waren Kentauren Mischwesen. Vom Kopf bis zur Hüfte Mensch, war der Rest ganz und gar Pferd. Als herausragende Bogenschützen gaben sie leidenschaftliche und mutige Krieger ab, wurden aber gerne bösartig, gewalttätig und zügellos, wenn sie zu viel getrunken hatten. Große Ausnahmen waren Cheiron, Meister der Heilkünste und weiser Lehrer von Asklepios,42 später auch von Jason und Achilles, sowie Herakles’ Freund Pholos. Cheiron war der unsterbliche Nachkomme von Kronos und der Okeanide PHILYRA, wohingegen Pholos von SIILENUS abstammte, dem schmerbäuchigen Kumpel des Dionysos und einer der Meliaden, der Nymphen des Eschenbaums. Er riet Herakles, nicht vor dem Winter an den Fang des Erymanthischen Ebers zu denken.
»Locke ihn in eine Schneewehe, so geht es am besten. Sonst macht er dich fertig«, sagte er. »Bis dahin kannst du hier bei mir in der Höhle bleiben.«
Herakles leistete der Einladung nur zu gern Folge. Eines Abends nach dem Essen bediente er sich an einem Tonkrug gefüllt mit Wein. Dass es sich dabei um den gemeinschaftlichen Besitz des Kentaurenstammes handelte, konnte er nicht wissen. Der Geruch des Weines stieg den anderen Kentauren in die Nase und sie trabten heran, um ihren Anteil zu erhalten. Herakles’ hitziges Gemüt geriet daraufhin in Wallung – sein eigener Rausch war wohl auch nicht gerade hilfreich – und es kam zu einer ruppigen Auseinandersetzung. Der Streit wurde zum Kampf und der Kampf schließlich zur Schlacht, als Herakles eine Salve von Pfeilen abschoss, die mit dem tödlichen Blut der Hydra bestückt waren.43 Sogar der arme Pholos starb, als ein Pfeil herabfiel und genügend Haut oberhalb seines Hufs aufritzte, um das Gift der Hydra in seinen Blutkreislauf dringen zu lassen. Einige der arkadischen Kentauren überlebten. Unter ihnen war einer mit Namen NESSOS, der, wie wir noch sehen werden, dieses Massaker schon bald auf allerschrecklichste Art und Weise rächen wird.
Unterdessen beerdigte ein beschämter und reumütiger Herakles die Toten, bevor er sich der anstehenden Aufgabe widmete, dem Einfangen des Ebers. Schnee bedeckte die Höhen des Berges. Er verfolgte das Tier, stellte es in einer tiefen Verwehung, wuchtete es über seine Schultern und schleppte es nach Mykene.
Als Herakles mit einem Eber zurückkehrte, der immer noch äußerst lebendig war, hatte Eurystheus derart Angst vor der gewaltigen Bestie, dass er in einen Pithos, einen großen steinernen Krug sprang und sich dort versteckte.
»Und was soll ich mit ihm machen?«
»Schaffe ihn beiseite, sofort!«
Eurystheus’ Stimme hallte im Innern des Kruges nach.
Diese Szene wurde zu einem bevorzugten Sujet griechischer Vasenmaler, die es liebten, den ängstlichen Eurystheus in seinem Pithos abzubilden, während Herakles damit droht, ein riesiges, quiekendes Schwein auf ihn herabfallen zu lassen.
Die Hälfte war geschafft – das jedenfalls glaubte Herakles (weitere schmerzhafte Details bei Gelegenheit). Eurystheus wiederum war diesmal, diesmal, wirklich davon überzeugt, dass die Aufgabe, die er stellen würde, unlösbar war. Selbst wenn Herakles dabei am Leben blieb, dachte der König schadenfroh, würde sie ihn auf jeden Fall die Unsterblichkeit kosten. Schließlich besagte das Orakel, dass Herakles seine Aufgaben vollenden musste, bevor ihm Unsterblichkeit gewährt würde, Versuche allein reichten nicht aus. Wie Yoda es schon vor langer Zeit in einer sehr, sehr weit entfernten Galaxie formuliert hatte: »Tu es. Oder tu es nicht. Es gibt keinen Versuch.«
AUGIAS, König von Elis, ein Sohn des Sonnengottes Helios, besaß eine Herde mit dreitausend Stück Vieh. Die Tiere waren unsterblich und hatten erwartungsgemäß im Lauf der Jahre sehr viel mehr als die übliche Menge Dung44 produziert. Ihre Ställe waren seit dreißig Jahren nicht mehr gereinigt worden.
»Du wirst nach Elis gehen«, sagte Eurystheus zu Herakles, »und die Ställe von König Augias sorgfältig ausmisten – innerhalb eines Tages.«
Bei seinem Eintreffen in Elis suchte Herakles um eine Audienz beim König nach und schloss mit ihm ein Abkommen: Wenn es ihm gelänge, am folgenden Tag die Ställe zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang auszumisten, würde Augias ihm ein Zehntel seiner Herde abtreten. Sollte ich den Eindruck erweckt haben, Herakles wäre ein hirnloser Ochse gewesen, ein saudummer Einfaltspinsel, ein Muskelprotz minderer Intelligenz, habe ich Sie ein wenig an der Nase herumgeführt. Er war direkt – das ist die Qualität, die ich am ehesten mit ihm verbinde. Wir sind heutzutage vielleicht geneigt zu glauben, das Indirekte, Subtile, die ausgeklügelte Taktik seien intelligenter und effektiver als der unkomplizierte Angriff, aber dem ist nicht immer so. Ich glaube, weder der clevere Theseus noch der berechnende Odysseus hätten jemals einen derart simplen und zugleich brillanten Plan ersonnen wie die Umleitung der örtlichen Flüsse Peneios und Alpheios. Natürlich war enorme Kraft vonnöten, um Öffnungen in die Stallwände zu schlagen und Platz für die Flussläufe zu graben, aber in ihrer Schlichtheit war die Idee großartig. Genau wie Herakles es geplant hatte, schoss das Wasser durch die Ställe und fegte den gesammelten Mist von dreißig Jahren hinweg. Die nährstoffreiche Sturzflut ergoss sich über Wiesen und Felder und düngte das Land meilenweit.
Ein triumphaler Herakles erschien vor Augias, um seine Belohnung von dreihundert Stück Vieh einzufordern, aber der König, der seine Herde mehr als alles auf der Welt liebte, weigerte sich zu zahlen.
»Eurystheus hat dich als Sklaven hierhergeschickt, um meine Ställe auszumisten«, sagte er. »Folglich wäre jedwede Belohnung unnötig und falsch. Davon abgesehen habe ich gar kein Abkommen mit dir getroffen.«
»Habt ihr wohl!«, rief Augias’ Sohn PHYLEOS, der Herakles bewunderte und entsetzt mitansehen musste, wie niederträchtig der Vater sich gegenüber seinem Helden verhielt. »Ich habe es genau gehört.«
Der König wurde wütend und verbannte beide aus seinem Königreich. Phyleos ging nach Dulichion, einer Insel im Ionischen Meer,45 während Herakles sich wutentbrannt auf den Weg zurück nach Mykene machte. Er schwor, eines Tages zurückzukehren und sich an Augias zu rächen.
Die Bewohner von Elis hingegen jubelten Herakles zu, als er ihr Königreich auf dem Weg zurück nach Tiryns durchquerte. Angereichert mit all dem Dung, brachten die Felder der gesamten Region nun wieder Wohlstand. Er hatte Nemea zu einem sicheren Ort gemacht, desgleichen Lerna und den Berg Erymanthos. Aus Herakles, dem Helden aus Sicht der Könige und Krieger, war nun auch ein Volksheld geworden.
Herakles traf im Palast von Tiryns ein, nur um zu erfahren, was Eurystheus als Nächstes mit ihm vorhatte. Schweigend saß der König auf seinem Thron und zupfte sich am Bart.
»Also gut«, sagte er schließlich. »Deine nächste Aufgabe wird darin bestehen, den See Stymphalos von einer Vogelplage zu befreien.«
Wenn es um die Stymphalischen Vögel geht, sind sich die Quellen, auf die wir uns in Bezug auf die Taten des Herakles normalerweise verlassen, uneins. Heute geht man davon aus, dass es sich um furchterregende, menschenfressende Geschöpfe in der Größe von Kranichen handelte, ausgestattet mit Schnäbeln aus Eisen und Krallen aus Messing und giftigem Kot. ARES, dem Gott des Krieges, heilig, befielen sie die baumgesäumten Ufer des Stymphalos, richteten in der Landwirtschaft und in den Dörfern des nordöstlichen Arkadiens schwere Verwüstungen an und machten ein Gebiet im Umkreis von vielen Kilometern gänzlich unbewohnbar. Die Erde am Fuß der Bäume, in denen die Vögel nisteten, wurde zu stinkendem Sumpf. Als Herakles sich näherte, versank er bis zu den Schultern in verseuchtem Schlamm. Athene sah seine Misere und versorgte ihn mit einer großen bronzenen Klapper aus der Schmiede von Hephaestos. Ihr rasend schnelles, ohrenbetäubendes Stakkato versetzte die Vögel derart in Angst und Schrecken, dass sie von ihren Schlafplätzen aufstoben. Herakles war nun in der Lage, sie in genügend großer Anzahl abzuschießen, woraufhin die übrigen davonflogen. Bei anderer Gelegenheit werden wir ihrer tödlichen Bedrohung erneut begegnen.
»Der Kretische Stier?«, wiederholte Herakles.
»Ja«, antwortete Eurystheus unwirsch. »Muss ich dir alles zweimal sagen? Der Kretische Stier. Ochse. Mastrind. Männlich. Kuh. Kreta. Insel. Fangen.«
Vor vielen Jahren war vor der Küste Kretas ein weißer Stier den Fluten des Meeres entstiegen. Meeresgott Poseidon hatte ihn als Antwort auf die Gebete des Königs MINOS gesandt, der seinen Untertanen Ehrfurcht einflößen und mit einem Zeichen bedeuten wollte, dass seine Herrschaft gottgewollt sei. Nachdem seine Brüder diesen Beweis akzeptiert hatten, sollte der Stier dem Poseidon geopfert werden. Aber beide, Minos und seine Frau PASIPHAË, waren von der Schönheit des Stiers so verzaubert, dass sie es nicht übers Herz brachten, ihn zu schlachten. Pasiphaë ging sogar so weit, sich mit ihm einzulassen. Sie gebar einen Sohn, ASTERION, halb Stier, halb Mensch, auch als Minotauros bekannt. Er lebte in einem raffinierten Labyrinth, das von Minos’ Architekten, Erfinder und Konstrukteur, dem berühmten DAIDALOS, erdacht wurde.
Inzwischen wütete der Stier durch Kreta, grausam, furchterregend und nicht zu zähmen. Um Minos einen Gefallen zu tun, sandte Eurystheus Herakles, der den Bullen überwältigen und nach Tiryns bringen sollte – lebendig.
Mit deutlich anderen Methoden als sein jüngerer Cousin Theseus setzte Herakles nicht auf Technik, sondern auf Selbstvertrauen, Stärke und seine durch nichts zu erschütternde Ausdauer. Er fand den Stier, brüllte ihn an, machte ihn wild und baute sich vor ihm auf. Beim Angriff packte er ihn ganz einfach bei den Hörnern46 und zerrte daran herum. Der Stier widersetzte sich mit aller Macht. Nach und nach kämpfte Herakles ihn zu Boden und wälzte sich mit ihm herum, wie er es mit dem Nemeischen Löwen und dem Erymanthischen Eber gehalten hatte. Keine Sekunde die Hörner loslassend, brüllte er in die Ohren des Stiers, schlug, boxte, zwickte und biss ihn. Schlussendlich lag das besiegte Tier erschöpft im Staub unter ihm und gab auf. Herakles stemmte das Viech empor, saß auf und ritt mit ihm über die Wellen zurück auf die Peloponnes. Er führte den Stier in den Palast und zu Eurystheus, der wieder einmal in den großen Tonkrug hüpfte, um sich dort zu verstecken.
»Ist ja gut, verdammt noch mal. Weg mit ihm, aber flott!«
»Bist du sicher, dass du ihn nicht hinter den Ohren kraulen willst?«
»Weg mit dem verdammten Ding!«
Hätte Eurystheus aus dem Krug herausgerufen »Opfere ihn den Göttern!«, hätte die Weltgeschichte möglicherweise einen anderen Verlauf genommen. So jedoch entließ Herakles folgsam den Stier in die Freiheit. Endlich von seinem Bezwinger befreit, bockte er und galoppierte meilenweit durch das östliche Festland Griechenlands nach Hause, zur Ebene von Marathon. Dort versetzte er die örtliche Bevölkerung in Angst und Schrecken, bis, wie wir sehen werden, ein anderer großer Held ihm entgegentrat und seinem Leben ein Ende setzte.
»Du hast dich also um den Stier gekümmert«, sagte Eurystheus, und zupfte sich am Bart. »Ziemlich pfiffig, gewiss, aber ein einzelner Stier ist kaum eine Herausforderung, nicht wahr?«
Herakles schwieg. Er wartete auf neue Instruktionen.
»Nun denn. Ich möchte, dass du mir die vier Stuten des DIOMEDES bringst.«
»Weißt du denn gar nichts? Er ist der König von Thrakien. Stuten sind weibliche Pferde. Pferde sind Vierfüßler mit Mähnen und Hufen. Es gibt vier davon. Vier ist die Zahl zwischen drei und fünf. Geh jetzt – und komm nicht zurück ohne sie, verstanden?«
Auf seinem Weg nach Thrakien machte er in PHERAI Halt, um seine Freunde zu besuchen, König ADMETOS von Pherai und Königin ALKESTIS, ein Paar, dessen Geschichte es wert ist, ihr zu lauschen.
Viele Jahre zuvor hatte Zeus sich genötigt gesehen, Apollons Sohn Asklepios zu töten, den Meister der Medizin und Heilkünste.47
Ares und Hades hatten sich über Asklepios’ Angewohnheit beklagt, Verstorbene wieder zum Leben zu erwecken und damit sowohl den Krieg als auch den Tod lächerlich zu machen. Zeus hatte ihre Einschätzung geteilt und Asklepios mit einem Blitz erschlagen. Apollon war daraufhin wutentbrannt in die Schmiede von Hephaestos gestürmt und hatte die drei ZYKLOPEN zur Rede gestellt, die zuständig für die Herstellung von Zeus’ Blitzen waren. Den König der Götter konnte Apollon nicht für den Tod von Asklepios bestrafen, aber die Zyklopen: Arges, Steropes und Brontes. Er tötete alle drei mit Pfeil und Bogen. Solch ein Frevel war nicht hinnehmbar. Zeus verbannte Apollon vom Olymp und verurteile ihn dazu, in Knechtschaft für einen Sterblichen zu arbeiten. Berühmt für seine Gastfreundschaft (stets ein sicherer Weg in Zeus’ Herz), wurde als Sterblicher König Admetos von Thessalien ausgewählt, dem man Apollon für ein Jahr und einen Tag als Viehhirten sandte.
Die Strafe war für Apollon alles andere als eine Buße. Von Anfang an kamen die beiden hervorragend miteinander aus. Admetos, der gerade erst den Thron geerbt hatte, war noch ledig, charmant, gastfreundlich, warmherzig und attraktiv. Weit davon entfernt, Apollons Gebieter zu sein, wurde er sein Geliebter. Apollon machte es Spaß, als Hirte zu arbeiten. Er stellte sicher, dass sämtliche Kühe von Admetos Zwillinge gebaren, und erhöhte so den Wert der königlichen Herde erheblich. Der Besitz von Vieh galt zu dieser Zeit – wie heutzutage größtenteils auch – als Zeichen von Reichtum und Status. Admetos war erfolgreich, und Apollons Zeit der Knechtschaft verging wie im Fluge. Die beiden blieben Freunde und der Gott half seinem Liebling sogar, Alkestis zu gewinnen, eine der neun Töchter von König PELIAS von Iolkos.48 Alkestis war so schön, dass Prinzen und Edelleute aus ganz Griechenland um ihre Hand anhielten. Ihr Vater bestimmte, dass er sie mit demjenigen verheiraten würde, der in der Lage wäre, einen Eber und einen Löwen vor einen Streitwagen zu spannen. Zwei so unverträgliche wilde Bestien nebeneinander einzuspannen, hatte bislang keiner der Bewerber geschafft, aber mit Apollons Hilfe gelang es Admetos. Er brachte den Streitwagen genau vor Pelias zum Stehen und gewann so die Braut.
Der Gott half seinem Freund ein weiteres Mal, als der im Zuge der ganzen Aufregung um Alkestis vergessen hatte, Apollons Zwillingsschwester Artemis genügend zu huldigen. Artemis war unter den Olympiern wahrscheinlich diejenige, die sich am schnellsten gekränkt fühlte. Sie bestrafte Admetos für seine Nachlässigkeit, indem sie Schlangen in die Brautkammer schickte, und verpasste der Hochzeitsnacht damit möglicherweise einen kleinen Dämpfer. Apollon steckte Admetos jedoch, welche Gebete und Opfergaben seine empfindliche Schwester am ehesten besänftigen würden. Die Schlangen verschwanden und die Flitterwochen nahmen ungetrübt ihren Lauf. Die Ekstase der Hochzeitsnacht bereitete den Boden für das perfekte Eheglück und die Verbindung von Admetos und Alkestis erwies sich als so freudvoll wie jede andere in Griechenland.
Apollon lag Admetos so sehr am Herzen, dass er die Vorstellung, sein geliebter Freund könne sterben, nicht ertragen konnte. Statt Zeus zu bitten, seinem Günstling die Unsterblichkeit zu schenken, so wie Selene und Eos es für einen sterblichen Geliebten gehalten hatten,49 ging Apollon die Sache anders an. Er lud die Moiren, die drei Schicksalsgöttinnen KLOTHO, LACHESIS und ATROPOS, auf den Olymp ein und machte sie sehr betrunken.
»Ihr liebsten Moiren«, sagte er zu ihnen und lallte und torkelte dabei ein wenig, als sei er so berauscht wie sie, »ich liebe euch.«
»Ich dich verdammt noch mal auch«, sagte Atropos.
»Du bist der … hicks … Beste«, kiekste Klotho.
»Sag ich schon lange«, rülpste Lachesis und wischte sich eine Träne aus den Augen.
»Ich bringe jeden um die Ecke, der was anderes behauptet, und mach ihn alle.«
»Da hast du verdammt recht.«
»Wenn ich euch Ladys also um einen Gefallen bitten würde …«, sagte Apollon.
»Raus damit.«
»Ohner schledigt – schon erledigt.«
»Brauchst nur zu fragen.«
»Mein Freud Admetos. Toller Kerl. Ein wahrer Prinz.«
»Ich dachte, er ist König?«
»Klar, er ist König, aber auch ein Prinz von einem Mann.«
»Ergibt irgendwie Sinn«, gab Atropos zu, »Prinz von einem König.«
»Aber kein König von einem Prinzen?«
»Die Sache ist die«, sagte Apollon, um auf den Punkt zu kommen. »Ich würde mich gern eurer Hilfe versichern, damit sein Leben nicht endet.«
»Das Beenden von Leben ist mein Job«, sagte Atropos.
»Ich weiß«, sagte Apollon.
»Du willst, dass ich seinen Lebensfaden nicht abschneide?«
»Das wäre mehr als großzügig.«
»Du möchtest, dass er ewig lebt?«
»Wenn das möglich wäre.«
»Oh, das ist ganz schön viel verlangt. Den Lebensfaden abschneiden, das ist das, was ich mache. Ihn nicht abschneiden … na, das ist was anderes. Was meint ihr, Schwestern?«
Apollon schenkte ihnen nach. »Noch ein Getränk, während ihr darüber nachdenkt?«
Die Moiren steckten die Köpfe zusammen.
»Weil wir dich lieben«, sagte Klotho schließlich.
»Sehr …«, fügte Lachesis hinzu.
»Weil wir dich sehr lieben, werden wir es erlauben. Nur dieses eine Mal. Wenn dein Freund … wie war noch mal sein Name?«
»Admetos. Admetos, König von Pherai.«
»Wenn Admetos von Pherai jemanden findet, der an seiner Stelle stirbt …«
»… dann sehen wir keinen Grund, warum wir seinen Lebensfaden abschneiden sollten …«
»Abschneiden sollten …«
»Genau.«
Das war also der Handel, über den Apollon seinen Freund Admetos aufklärte.
»Du wirst nie in die Unterwelt kommen, wenn du jemanden findest, irgendjemanden, der an deiner Stelle geht.«
Admetos besuchte seine Eltern. Sie hatten ihre beste Zeit bereits hinter sich, wie er fand, und einer der beiden würde sicher einwilligen, früher zu gehen, damit er unsterblich würde.
»Du hast mich gezeugt«, sagte er zu seinem Vater PHERES, »und es ist gewiss deine Pflicht, dafür zu sorgen, dass ich weiterleben kann.«
Admetos war ebenso überrascht wie gekränkt, dass Pheres gänzlich abgeneigt war mitzuspielen.
»Ja, ich habe dich gezeugt und großgezogen, damit du über dieses Land herrschst, aber ich sehe nicht ein, warum ich deswegen für dich sterben soll. Es gibt kein Gesetz unserer Vorfahren und kein griechisches Gesetz, das von den Vätern verlangt, für ihre Kinder zu sterben. Du wurdest geboren, um dein eigenes Leben zu leben, ob es nun gut oder schlecht ausfällt. Ich habe dir alles gegeben, was du benötigst. Ich erwarte nicht von dir, dass du für mich stirbst, und du solltest nicht von mir erwarten, für dich zu sterben. Du liebst also das Tageslicht. Wie kommst du darauf, dass dein Vater es hasst? Sei dir dessen bewusst: Wir sind sehr lange tot. Das Leben mag kurz sein, aber es ist süß.«
»Ja, aber du hast dein Leben gelebt und ich …«
»Ich habe mein Leben gelebt, wenn es auf natürliche Weise zu Ende geht, nicht, wenn du es sagst.«
Vom eigen Fleisch und Blut zurückgewiesen, warf Admetos sein Netz weiter aus. Unsterblichkeit war ihm zuvor zwar nie in den Sinn gekommen, aber nachdem Apollon ihm eröffnet hatte, dass es möglich sei, war er wie besessen von dem Gedanken. Nun glaubte er, ein Recht darauf zu haben. Er hatte angenommen, es wäre ein Leichtes, jemanden zu finden, der für ihn sterben würde. Es stellte sich jedoch heraus, dass alle genau wie sein Vater grundlos begierig darauf waren, am Leben zu bleiben. Schlussendlich war es seine loyale und liebende Ehefrau Alkestis, die ihn rettete. Sie kündigte an, dass sie gerne anstelle ihres Mannes sterben würde.
»Ist das dein Ernst?«
»Ja, mein Liebling«, sagte sie ruhig und tätschelte seine Hand.
»Das würdest du wirklich für mich tun?«
»Mit Vergnügen, wenn es dich glücklich macht.«
Ein kostbarer Marmorsarg wurde gefertigt und Alkestis bereitete sich auf die Zeit vor, die für Admetos’ Ableben bestimmt war und die nun ihr eigenes Ende bedeuten würde. Doch als der Tag nahte, besann sich Admetos eines anderen. Ihm war bewusst geworden, wie sehr er Alkestis liebte und wie arm sein Leben ohne sie sein würde. Im Gegenteil, er begriff nun, dass eine lange, endlose Existenz so ganz allein schlimmer als der Tod wäre. Er flehte seine Frau an, ihn nicht zu verlassen. Doch ihre Absichtserklärung, seinen Platz einzunehmen, war von den Moiren vernommen und akzeptiert worden. Sie musste sterben – und sie starb.
Genau in diesem Moment, als ein verzweifelter Admetos versuchte, mit dem klarzukommen, was er angerichtet hatte, tauchte Herakles im Palast auf.
So aufmerksam in seinen Pflichten als Gastgeber war Admetos, dass er es nicht übers Herz brachte, den Gast abzuweisen. Er tat alles, seinen Kummer zu verbergen, und war bereit, den Ankömmling mit der Wärme und Großzügigkeit zu bewirten, für die er berühmt war. Dennoch kam Herakles nicht umhin festzustellen, dass sein Freund Schwarz trug.
»Nun, um die Wahrheit zu sagen, hatten wir einen Todesfall im Palast.«
»Dann ziehe ich weiter. Ich kann ein anderes Mal kommen.«
»Nein, nein. Bitte tritt ein, ich bestehe darauf.«
Herakles war immer noch unsicher. Gastgeber haben Pflichten, Gäste allerdings auch. »Wer ist gestorben? Hoffentlich niemand, der dir nahesteht.«
Admetos wollte den Freund nicht mit seinem Kummer belasten. »Keine Blutsverwandten, versprochen …«, was strenggenommen stimmte. »Eine Frau aus dem Haushalt, das ist alles.«
»Oh, in dem Fall …« Herakles trat in die große Halle. Gierig blickte er zu dem Tisch, auf dem der Leichenschmaus bereitstand. »Ich habe immer schon gesagt, dass es bei dir den köstlichsten Wein und den besten Kuchen gibt«, sagte er und bediente sich satt an beidem.
»Zu freundlich«, entgegnete Admetos. »Ich lasse dich einen Moment allein, aber bitte fühle dich ganz wie zu Hause.«
Herakles schlug gut gelaunt zu. Er trank den gesamten Wein und rief laut nach mehr. Der erste Hofmeister traf mit grimmiger Miene ein. Er war ein Diener der alten Schule. Nicht einmal das Risiko, die berüchtigte Wut des stärksten Mannes der Welt zu entfachen, konnte ihn zurückhalten.
»Schämen Sie sich nicht?«, zischte er. Wie können Sie dermaßen viel essen und trinken in einem Haus, das so tief in Trauer ist?«
»Warum zur Hölle sollte ich nicht? Wer ist tot? Nur irgendein Dienstmädchen oder so.«
»Hört ihn euch an, ihr Götter! Unsere liebe Königin ist von uns gegangen und er wagt es, sie ›irgendein Dienstmädchen‹ zu nennen!?«
»Alkestis? Aber Admetos hat mir gesagt …«
»Seine Majestät befindet sich in diesem Moment im Garten und heult sich die edlen Augen aus dem Kopf.«
»Oh, was für ein Narr ich bin!«
Herakles erlitt nun einen seiner üblichen Anfälle von Schuldgefühl und Selbstkasteiung. Er schlug sich an die Brust und nannte sich selbst den unsensibelsten Blödmann, der je gelebt habe, unwürdig, irgendjemandes Gast zu sein, ein Arschloch, Clown, Tölpel und Geringster der Geringen. Dann kam er wieder zu sich und erkannte, was er zu tun hatte.
»Ich werde in die Unterwelt gehen«, nahm er sich vor, »und jeden niederstrecken, der mich davon abhält, Alkestis hierher zurückzuholen. Ich schwöre es.«
Wie das Schicksal es wollte, waren so drastische Maßnahmen gar nicht vonnöten. Bevor er losstürmte, begab er sich zum Marmorsarg von Alkestis, um ihr die letzte Ehre zu erweisen. Dort traf er auf THANATOS, den Gott des Todes, der gerade dabei war, ihre Seele abzuholen.
»Du hast hier nichts verloren«, sagte Thanatos. »Ich befehle dir …«
Mit einem Schrei sprang Herakles ihn an, bearbeitete ihn mit den Fäusten und rang den hilflosen Thanatos zu Boden.
Kurz darauf verließ Admetos seinen Garten und begab sich zurück in den Palast. »Wo ist Herakles?«, fragte er.
»Ach, der«, näselte der Hofmeister. »Er ist abgereist, als er erfuhr, dass die Königin tot ist. Den sind wir los, würde ich schätzen.«
In diesem Moment platzte Herakles herein. »Ich bin zurück«, sagte er und schlug Admetos auf die Schulter. »Und ich habe jemanden mitgebracht.« Er wandte sich um und rief: »Du kannst jetzt kommen!«
Alkestis trat ein und stand vor ihrem staunenden Ehemann, ein scheues Lächeln auf den Lippen.
»Ich habe buchstäblich mit dem Tod gerungen und bringe sie dir zurück«, sagte Herakles. »Also kümmere dich gefälligst darum, dass du sie diesmal behältst.«
Admetos schien ihn nicht zu hören. Er hatte nur Augen für seine Frau.
»Ja. Also. Dann will ich euch jetzt verlassen. Werde in Thrakien erwartet. Muss mich um ein paar Pferde kümmern.«
Eurystheus hatte Herakles zwar wegen der vier Stuten des Diomedes losgeschickt, ihm aber ansonsten kaum etwas über sie erzählt. Wir jedoch kennen ihre Namen. Sie hießen PODAIGOS, die »Schnelle«, XANTHOS, die »Blonde/Fahle«50, LAMPON, die »Glänzende«, und DEINOS, die »Schreckliche«.51
Natürlich wusste unser Held auch nicht, dass der verkommene König die Pferde mit Menschenfleisch fütterte und alle vier daraufhin wahnsinnig geworden waren, weswegen man sie mit eisernen Fußfesseln an bronzene Futterkrippen schloss. Sie stellten eine Gefahr für jeden dar, der sich ihnen näherte.52
Als Herakles im Palast von Diomedes eintraf, wurde er von seinem jungen Freund und Liebhaber ABDEROS, einem Sohn des Hermes, begleitet.53 Herakles bat Abderos auf die Pferde aufzupassen, während er sich mit dem König beriet.
Von Neugierde übermannt, kam der Junge den Stuten zu nahe. Eine von ihnen biss ihm in die Hand und schleppte ihn zu den Ställen. Er wurde in Sekundenschnelle zerrissen und aufgefressen.
Herakles begrub die zerschundenen Überreste und gründete um die Ruhestätte herum eine Stadt, die er zu Ehren seines verlorenen Geliebten Abdera54 nannte.
Völlig verzweifelt und aufgelöst richtete Herakles seine gesamte Wut gegen Diomedes. Er erschlug die Palastwachen, schnappte sich den König und warf ihn seinen eigenen Pferden zum Fraß vor. Der unangenehme Geschmack ihres vormaligen Herrn hatte zur Folge, dass die Rosse ihren Appetit auf Menschenfleisch verloren. So gelang es Herakles, sie vor einen Streitwagen zu spannen und mit ihnen zurück nach Mykene zu fahren. Eurystheus, der sich inzwischen an die Enttäuschung gewöhnt haben musste, Herakles unversehrt zurückkehren zu sehen, widmete Hera die Stuten und züchtete sie als seine eigenen Vollblüter. Später glaubten die Griechen, dass Bukephalos, das berühmte Pferd Alexanders des Großen, aus dieser Zucht stammte.
»Weit im Osten an den Ufern des Thermodon lebt die Rasse der Amazonen«, brachte ADMETE atemlos vor Aufregung hervor.
Herakles verbeugte sich. Eurystheus hatte seiner Tochter zur Feier ihrer Volljährigkeit eine der Aufgaben des Herakles geschenkt.
»Schick ihn los, er kann alles tun, was du willst, mein Schatz«, waren seine Worte gewesen. »Je schwieriger und gefährlicher, umso besser. Herakles hat es bisher viel zu leicht gehabt.«
Admete wusste sofort, was sie dem Helden abverlangen wollte. Wie viele junge griechische Mädchen verehrte sie diesen Bund von starken, unabhängigen und ausgesprochen entschlossenen Frauen und träumte schon lange davon, eine Amazone zu sein.
»Die Töchter des Ares und der Nymphe HARMONIA, die Amazonen, haben sich dem Kampf und einander geweiht«, sagte sie zu Herakles.
»Das habe ich gehört«, antwortete dieser.
»Ihre Königin …« – Admete lief vor Aufregung rot an – »ist Hippolyte. Hippolyte, die Mutige, Hippolyte, die Schöne, Hippolyte, die Unerschütterliche. Kein Mann kann sie erobern.«
»Sie trägt einen Gürtel, einen ungewöhnlich prachtvollen juwelenbesetzten Gürtel, ein Geschenk ihres Vaters Ares. Den will ich.«
»Entschuldigung?«
»Du sollst mir den Gürtel der Hippolyte bringen.«
»Und wenn sie ihn lieber behalten möchte?«
»Keine Spielchen mit meiner Tochter, Herakles. Gehorche ihr.«
Also segelte Herakles Richtung Osten in das Land der Amazonen. Der Ruhm dieser stolzen Kriegerinnen hatte sich in der gesamten alten Welt verbreitet.55 Auf Pferden reitend – die ersten Krieger der Welt, die dies praktizierten – hatten die Amazonen sämtliche Stämme besiegt, denen sie im Kampf gegenüberstanden. Wenn sie ein Volk eroberten oder unterwarfen, nahmen sie die Männer mit nach Hause, die sie für fähig hielten, die besten Töchter zu zeugen, und schliefen mit ihnen. Hatten die Männer ihre Pflicht getan, wurden sie getötet, wie die Männchen bei vielen Spinnenarten, Heuschrecken und Fischen. Alle männlichen Neugeborenen wurden ebenfalls getötet und nur die Mädchen in ihrem Bund großgezogen. Bezichtigte man sie der Grausamkeit, wiesen sie darauf hin, wie häufig Mädchen in der »zivilisierten« Welt allein auf Berghöhen ausgesetzt wurden, damit sie starben,56 und wie viele Frauen als Gebärmaschinen benutzt wurden, ohne dass ihnen ein anderer Lebensinhalt zugestanden wurde, als zu dienen, zu gehorchen und Vergnügen zu bereiten.
Herakles unterschätzte keineswegs die Größe der Aufgabe, die ihm bevorstand, doch als sein Schiff Pontos die Südküste des Schwarzen Meeres erreichte, war er überrascht, von einer freundlichen Gesellschaft samt Königin Hippolyte höchstpersönlich begrüßt zu werden. In der antiken Welt hatten nicht nur die Amazonen und ihre Königin einen Ruf als heroische Kämpferinnen. Seit mehr als acht Jahren vollbrachte Herakles klaglos das Unmögliche, und die Kunde seiner Kraft, Courage und Ausdauer hatte sich in nah und fern verbreitet. Er hatte die Welt von Gefahren und Terror befreit. Er war Magie und Monstrosität mit Wagemut und Würde begegnet. Nur kleinliche und neidische Seelen würden dies nicht zu schätzen wissen. Die Bewunderung der Amazonen für solche Qualitäten wie Wagemut, Würde und Kraft wog stärker als ihr Misstrauen gegenüber Männern, und so hießen sie ihn und seine Truppe freundlich und respektvoll willkommen.
Herakles und seine Männer wurden mit Blumengirlanden behängt und es gab ein Festmahl am Ufer des Thermodon.57
Herakles fühlte sich stark von Hippolyte angezogen. Sie besaß Selbstvertrauen, Witz und eine natürliche Autorität, wie es sie auf der Welt nur selten gibt. Sie erhob nie die Stimme oder wollte Aufmerksamkeit oder Bewunderung erheischen, und doch ertappte Herakles sich dabei, dass er sich nur um sie kümmerte und mehr Bewunderung für sie hegte als für jede andere Frau und sogar jeden anderen Mann.
Sie schien ihn ebenfalls zu mögen. Wenn der Hauch eines Lächelns sich auf ihrem Gesicht zeigte, wenn ihre Hände kurz davor waren, die Muskeln seines Oberarms zu berühren, dann war dies nicht spöttisch gemeint, sondern amüsiert ob der wundersamen Erscheinung eines solchen Prachtexemplars von Mann.
»Der müsste reichen«, sagte sie und nahm ihren Gürtel ab.
Sie hatte recht, ihre Taille und der Bizeps von Herakles wiesen denselben Umfang auf. Sie schloss die Schnalle und verkündete, dass der Gürtel seine Erscheinung erheblich verbessere.
»Dieser schreckliche Löwenkopf mitsamt Fell, die hässliche Keule … sicher nützlich, um Narren und Feiglinge abzuschrecken, aber ein Mann sollte sich nie scheuen ein wenig Farbe und Glanz an den Tag zu legen.«
Sie lächelte wieder, als Herakles den juwelenbesetzten Gürtel um seinen Arm genauer unter die Lupe nahm. Ihr fiel auf, dass er düster die Stirn runzelte.
»Sag jetzt bloß nicht, so ein Armreif würde nicht zu deiner Männlichkeit passen. Da hätte ich dich aber anders eingeschätzt.«
»Nein, nein«, sagte Herakles. »Das ist es nicht …«
»Was dann?«
»Du hast von den Aufgaben gehört, die mein Cousin Eurystheus mir gestellt hat?«
»Die ganze Welt weiß von den Taten des Herakles.«
»So nennt man das?«
»Selbst wenn man davon ausgehen kann, dass deine Taten im Zuge der mündlichen Überlieferung mächtig übertrieben wurden, hast du geradezu Wunder vollbracht.«
»Die meisten Geschichten sind bestimmt Unsinn.«
»Nun, ist es wahr, dass Eurystheus, als du den Erymanthischen Eber in seinen Thronsaal getragen hast, so verängstigt war, dass er kopfüber in einen steinernen Krug gesprungen ist?«
»Ja, das ist wahr«, gab Herakles zu.
»Und dass du Diomedes an seine eigenen Pferde verfüttert hast?«
Wieder nickte Herakles.
»Also sage mir, großer Held, was ist es, das dich so mit Sorge erfüllt?«
»Weißt du, ich stehe gerade vor der neunten meiner Aufgaben, dieser ›Taten‹, wie du sie nennst. Das ist der Grund, warum ich hier bin.«
Hippolyte erstarrte. »Ich hoffe, es geht nicht darum, dass du Hippolyte in Ketten vor diesen widerlichen Tyrannen zerren sollst?«
»Nein, nein … das nicht. Es geht um den Gürtel …« Er blickte auf den Gürtel, der seinen Oberarm umspannte. »Seine Tochter Admete schickte mich los, ihn herbeizuschaffen. Aber nun, da ich dich kennengelernt habe, bringe ich es nicht übers Herz …«
»Ist das alles? Er ist dein, Herakles. Nimm ihn mit Freuden als Geschenk von mir an. Von Krieger zu Krieger.«
»Aber er war ein Geschenk von deinem Vater, dem Gott Ares.«
»Und jetzt ist er ein Geschenk von deiner geliebten Hippolyte, der Frau.«
»Es heißt, dass sein Träger im Kampf unsichtbar ist. Stimmt das?«
»Ich habe ihn getragen, seit ich vierzehn bin, und bin nie besiegt worden.«
»Dann habe ich kein Recht …«
»Bitte. Ich bestehe darauf. Und jetzt lass mich sehen, ob alles an deinem Körper so gut proportioniert ist …«
Wir lassen Herakles und Hippolyte bei ihrer stürmischen Umarmung im königlichen Zelt an den Ufern des Thermodon nun allein.
Man könnte annehmen, diese neunte Aufgabe sei für Herakles wirklich zu leicht gewesen. Die Göttin Hera sah das mit Sicherheit so. Der Hass, den sie gegen ihn nährte, war im Lauf der Jahre nicht geringer geworden. Vielmehr wurde er jedes Mal, wenn er über einen Gegner triumphierte, intensiver. Seine Beliebtheit machte sie wütend. Sie hatte sich vorgenommen, ihn zu demütigen und zu zerstören. Stattdessen wurden Kinder und sogar Städte nach ihm benannt und Lieder über ihn geschrieben, die seine Kraft priesen, seinen Mut und seine Zuversicht. Sie würde der Welt schon zeigen, dass sie den falschen Mann feierten.
In Gestalt einer Amazonenkriegerin lief Hera am Flussufer entlang und säte Verwirrung, Zweifel und Misstrauen.
»Herakles darf man nicht trauen … er ist hier, um unsere Königin zu entführen … Ich habe gehört, dass seine Männer sogar in diesem Moment planen, uns als Gefangene zu nehmen, zu vergewaltigen und als Sklavinnen auf den Märkten von Argolis zu verkaufen … Wir sollten ihn töten, bevor er uns alle vollkommen zerstört …«
Im Zelt schnellte Herakles urplötzlich hoch.
»Was ist das für ein Geräusch?«
»Nur meine Frauen, die mit deiner Mannschaft feiern, ganz bestimmt«, sagte Hippolyte schläfrig.
»Ich höre Pferde.«
Herakles lehnte sich über die liegende Hippolyte hinweg und hob ein Stück Zeltleinwand an. Amazonen auf Pferden schossen Pfeile auf seine Männer! Eine Truppe von ihnen galoppierte auf das Zelt zu. Augenblicklich pulsierte das Blut in seinen Schläfen und er sah roten Nebel. Das Lächeln und die Gastfreundschaft waren eine Falle gewesen. Hippolyte hatte ihn an der Nase herumgeführt.
»Verräterin!«, schrie er. »Du … hinterlistige … Hexe!«
Er nahm ihren Kopf in die Hände und dreht ihr beim letzten Wort den Hals herum, dass er zerbrach wie ein trockener Ast.
Er schnappte sich seine Keule und rannte aus dem Zelt. Er holte aus und fällte auf einen Streich drei Amazonen, die auf ihn zuritten. Die anderen sahen Hippolytes Gürtel um seinen Arm, das Symbol ihrer Macht und Unbesiegbarkeit. Die Kämpfe weiteten sich aus. Herakles’ Männer, durch den Anblick ihres glühenden Führers, der wie ein Löwe brüllte, ermutigt, sammelten sich. Innerhalb kurzer Zeit waren die Flussufer mit den Leichen von Amazonen übersät.
Herakles und seine Männer machten auf ihrer langen Heimreise Halt in Troja. Zu dieser Zeit herrschte dort LAOMEDON, Enkel von König TROS, der Troja und den Trojanern ihren Namen gab, und Sohn von König ILOS, der der Stadt ihren anderen Namen gab, Ilion, wie in Homers großer epischer Dichtung, der Ilias.
Troja war eine vornehme Stadt und der Bau ihrer Wehrmauer erst kürzlich von den Göttern Apollon und Poseidon vollendet worden. Doch der gierige, doppelzüngige und närrische Laomedon hatte sich geweigert, sie für ihre Arbeit zu entlohnen. Als Vergeltung schoss Apollon verseuchte Pfeile auf die Stadt ab, während Poseidon das Feld von Ilion flutete und ein Seeungeheuer sandte, um die Trojaner zu jagen und zu verspeisen, die versuchten, aus der verpesteten Stadt zu fliehen. Die Priester und Orakel von Troja weissagten Laomedon, der einzige Weg, Troja von Krankheit, Hungersnot und Unheil zu befreien, bestehe darin, seine Tochter HESIONE nackt an einen Felsen in der Talaue zu ketten, damit das Seeungeheuer sich an ihr gütlich tun konnte.58
In dieser Situation traf Herakles ein. Er versprach Hesione zu befreien, wenn er dafür die Pferde erhielte, die aus Zeus’ Geschenk an Tros gezüchtet worden waren. Laomedon willigte ein und Herakles tötete prompt das Monster und rettete Hesione. Wieder einmal brach Laomedon sein Wort und hielt sich nicht an die Vereinbarung. Er weigerte sich, die Pferde abzugeben.
Herakles blieb nicht genügend Zeit, um sich darum zu kümmern. Sein Jahr war fast vorüber, und er musste dringend zu Eurystheus, damit der ihm seine zehnte Aufgabe stellen konnte. Er schwor wiederzukommen und sich an Laomedon zu rächen, reiste dann aber zurück nach Mykene.
»Da!« Herakles schleuderte Admete den Gürtel vor die Füße. »Ich hoffe, er bringt dir Glück!59 Und nun, mächtiger König, meine zehnte und letzte Aufgabe, wenn es dir beliebt.«
Eurystheus rutschte verlegen auf seinem Thron hin und her. Er war sicher, dass einige der Höflinge bei der Anrede »mächtiger König« gekichert hatten.
»Nun denn, Herakles«, sagte er. »Du wirst nach Erytheia gehen und mir GERYONS Rinder bringen. Die ganze Herde.«60
Sie werden sich erinnern: Als Perseus der Gorgone Medusa den Kopf abschlug, entsprangen der klaffenden Wunde zwei ungeborene Kinder aus ihrer Affäre mit Poseidon. Eines war das fliegende Pferd Pegasos, das andere Chrysaor, der junge Mann mit dem goldenen Schwert. Chrysaor hatte zusammen mit KALLIRRHOË, der »süßfließenden« Tochter der Titanen Okeanos und Tethys, den dreiköpfigen Geryon gezeugt, ein entsetzliches Ungeheuer, das auf der westlichen Insel Erytheia eine enorme Herde von roten Rindern resolut bewachte.61 Um auf die seltenen und wertvollen Zuchttiere aufzupassen, hatte er den Riesen EURYTION, einen Sohn des Ares, und einen bissigen zweiköpfigen Hund namens ORTHOS, einen Bruder von KERBEROS, an seiner Seite.
Erytheia lag tief in den unerkundeten westlichen Bereichen der Welt, sodass Herakles weiter reisen musste als je zuvor. Ihm wurde so heiß und er war so besorgt, während er durch die Libysche Wüste zog, dass er wutentbrannt die sengende Sonne anbrüllte und damit drohte, Helios im Sonnenwagen mit seinem Pfeil abzuschießen. Helios mag zwar der unsterblichen Rasse der Titanen angehört haben, fürchtete sich aber dennoch vor der schrecklichen Zerstörung, die die Pfeile des Herakles anrichten konnten.
»Nicht schießen, Herakles, Sohn des Zeus«, schrie er leicht panisch.
»Dann hilf mir!«, brüllte Herakles zurück.
Helios willigte ein, nicht so nahe an der Erde zu fliegen, wenn der Held nur verspräche, nicht zu schießen. Außerdem bot er an, Herakles seine goldene Schale zu leihen, um ihm die Reise angenehmer zu machen. Jeden Tag fuhr Helios mit seinem Sonnenwagen von den Ländern des fernen Ostens62 über den Himmel bis ins weit entfernte Königreich von Okeanos.63 Dort verbrachte er die Nacht in seinem westlichen Palast, bevor er sich wieder in einer großen Schale oder Schüssel, die von Okeanos’ schnell fließender Strömung getragen wurde, Richtung Osten aufmachte. Dieser »Fluss des Ozeans« umspannte die Welt und brachte Helios in seinen östlichen Palast zurück, wo er die Pferde versorgte und sich am nächsten Tag aufs Neue aufmachte.
Herakles nahm die Leihgabe dankbar an, eine seetüchtige Schale,64 in der er mit angezogenen Knien komfortabel saß und nach Erytheia befördert wurde. An einer Stelle wurden die Wasser, die ihn trugen, ziemlich rau, und er drohte Okeanos damit, nun doch seine Pfeile einzusetzen. Ich glaube, Herakles war nicht so arrogant zu glauben, dass er einen Gott übertreffen konnte, aber er betrachtete alle Lebewesen, göttlich oder sterblich, als gleich. Auf jeden Fall beunruhigte die Drohung Okeanos, der sich vor den schrecklichen Pfeilen genauso fürchtete wie einst sein Neffe Helios, und er besänftigte das Meer. Herakles kam schnell, trocken und sicher in Erytheia an.
An der Küste wurde er vom wilden Gebell des Orthros, des zweiköpfigen Hundes, begrüßt.
»Orthros!«, rief Herakles. »Du, wie so viele der hässlichsten Kreaturen auf der Welt, bist ein Sohn von Typhon und Echidna. Weißt du nicht, dass deine letzte Stunde geschlagen hat? Ich habe bereits deine Schwester, die Lernäische Hydra, und deinen Sohn, den Nemeischen Löwen, getötet. Jetzt bist du an der Reihe, von der Erde abzutreten.«
Mit einem Schrei aus beiden Kehlen stürzte sich das Wesen auf Herakles, der seine Keule erhob und sie auf einen der Köpfe donnern ließ. Der andere erhob sich mit einem überraschten Aufschrei, um seinen Kumpel zu betrachten, der leblos an ihrem gemeinsamen Nacken baumelte. Bevor der zweite Kopf Zeit zum Trauern hatte, sauste die Keule wieder herab und beendete das Leben des Hundes.
Der Viehhirt Eurytion hörte den Aufruhr und näherte sich, seine eigene mächtige Keule schwingend.
»Das werde ich dir heimzahlen«, knurrte er. »Ich habe diesen Hund geliebt.«
»Jetzt kannst du ihm Gesellschaft leisten«, schrie Herakles und schoss einen Pfeil in seinen Hals. Das Gift der Hydra tat seine Wirkung und Eurytion war tot, bevor sein Körper auch nur den Boden berührte.
Herakles machte sich nun daran, das Vieh zusammenzutreiben. Schon bald tauchte Geryon auf der Bildfläche auf.
Nur sehr wenige Sterbliche lebten lange genug, um zu berichten, wie er aussah, sodass die Angaben über seine physische Erscheinung recht unterschiedlich sind. Alle stimmen darin überein, dass dieser Sohn von Chrysaor und Kallirrhoë drei Köpfe hatte. Die meisten berichten, er habe auch drei Rümpfe gehabt, obwohl eine Quelle behauptet, dass die drei Köpfe einem einzigen Nacken und Torso entsprangen. Am meisten gehen die Meinungen darüber auseinander, wie die drei Rümpfe mit dem Boden verbunden waren. Manche geben an, dass sie sich zu einer Hüfte verschlankten und der Riese deswegen nur ein Paar Beine hatte, andere hingegen sind sicher, dass ihm drei Paar zur Verfügung standen. Ich neige zu den zwei Beinen, aber der Variante mit den drei Rümpfen plus Köpfen zu. Unzweifelhaft ist, dass Geryon ein riesiges, dreiköpfiges Monster mit ausgesprochen schlechter Laune war.
»Wer wagt es, mein Vieh zu stehlen?«, grölte der linke Kopf.
»Herakles.«
»Dann stirb, Herakles«, sagte der mittlere Kopf.
»Wenn du stirbst«, antwortete Herakles, »wird dein Tod dreimal schmerzhafter sein als alle Tode zuvor.«
Kaum ausgesprochen, schoss er einen Pfeil direkt in Geryons Nabel. Das Gift der Hydra bahnte sich seinen Weg in die drei Köpfe und verbrühte und zersetzte alles auf seinem Weg dorthin.
»Es brennt!«
»Es brennt!«
»Es brennt!«
Die Schreie waren grauenerregend.
Wie genau Herakles das Vieh übers Meer transportierte, ist nicht überliefert. Wir müssen annehmen, dass er so viele Tiere wie möglich in der Schale des Helios unterbrachte und mehrfach hin- und herschwamm.
Als Erinnerung an seine große Reise errichtete er zwei gewaltige Steinsäulen, eine auf der nördlichen, iberischen Seite der Meerenge, die sich vom Mittelmeer aus zum Atlantik öffnet, die andere auf der südlichen, marokkanischen Seite. Die afrikanische Säule wird Ceuta genannt, die iberische ist als Felsen von Gibraltar bekannt.
Herakles brauchte ungewöhnlich lange, um das Vieh zu Eurystheus zu transportieren. Er trieb es durch Spanien und das Baskenland, quer durch Südfrankreich, das nördliche Italien und an der Dalmatinischen Küste entlang, bevor die ersten Berge und Täler Griechenlands ihm anzeigten, dass er sich seiner Heimat näherte. Doch die gehässige Hera sandte Wolken von Bremsen nach unten, deren schmerzhafte Stiche die Tiere in Panik versetzten, bis sie unkontrolliert wegrannten und sich überall in Griechenland verstreuten.65 Herakles gelang es, die meisten wieder einzufangen, doch es war ein müder und von der Reise erschöpfter Herakles, der die Herde durch die Tore von Tiryns in den Palasthof von König Eurystheus trieb.
»Ach du meine Güte«, sagte Eurystheus und zupfte sich am Bart. »Ist das alles? Ich hatte gehofft, Geryons Herde würde mehr als tausend Tiere zählen, doch sogar meine ungeschulten Augen sehen hier nicht mehr als fünf- oder sechshundert.«
»Das sind alle, die übrig sind«, sagte Herakles. »Und nun ist mein Dienst hier zu Ende. Ich habe alles ausgeführt, was du mir aufgetragen hast, und mehr. Es ist Zeit, dass du mich aus meiner Knechtschaft entlässt und mir erlaubst, als freier Mann, der seine Untaten abgebüßt hat, heimzukehren.«
Eurystheus lachte hämisch. »Oh nein, das glaube ich kaum«, sagte er. »Nein, nein, du schuldest mir noch zwei Aufgaben.«
»Die Rede war von zehn Aufgaben und zehn Aufgaben habe ich erledigt.«
»Ach, aber die zweite Aufgabe«, sagte Eurystheus. »Dein Neffe Iolaos hat dir geholfen, die Hydra zu besiegen. Hätte er die Wunden nicht versiegelt, wärst du nie erfolgreich gewesen. Die Verabredung beinhaltet, dass du jede Aufgabe allein und ohne Hilfe beendest. Also können wir die Hydra nicht mitzählen.«
»Das ist ungeheuerlich!«
»Ts, ts, kein Ausbruch deines berühmten Jähzorns, reiß dich am Riemen, Herakles! Du weißt, was Megara und ihren Kindern widerfuhr.«
Eurystheus genoss es. Er leckte sich die Lippen, als Herakles verschämt schwieg. »Und dann ist da die Sache mit den Ställen in Elis. »Du hast eine Belohnung von König Augias angenommen, nicht wahr?«
»Ja, aber …«
»Das heißt, dass du deine Pflicht nicht als Teil deiner Buße getan hast, sondern als Lohnarbeiter. Das kann nun wirklich nicht zählen.«
»Du hast mich nie bezahlt!«
»Das ist etwas anderes. Indem du eine Bezahlung verlangt hast, wurden die Bedingungen unseres Abkommens verletzt. Aus deinen zehn Aufgaben sind nun zwölf geworden.«
Natürlich war es Hera, die Eurystheus diese grausamen Spitzfindigkeiten durch eine ihrer Priesterinnen eingeflüstert hatte.
Herakles ließ den Kopf hängen. Würde er jetzt die Fassung verlieren und zuschlagen oder beleidigt abziehen, wären alle Mühen und Plagen der letzten zehn Jahre vergebens gewesen. Die Unsterblichkeit, die das Orakel von Delphi ihm versprochen hatte, konnte er nur erlangen, wenn er seine Schuld abgebüßt hatte, und allein sein feiger Cousin, Eurystheus, dieser grinsende Despot, dieses Werkzeug von Hera, konnte das sicherstellen. Unsterblichkeit per se interessierte ihn nicht, aber als Unsterblicher konnte er in die Unterwelt gelangen und Megara und die Kinder nach oben holen.
»Angesichts des mageren Viehbestandes, den du mir heute gebracht hast, kannst du von Glück sagen, dass ich dir nicht drei weitere auferlege«, sagte Eurystheus. »Eigentlich sollte ich das tun, aber du hast Glück, dass ich unter Triskaidekaphobie leide. Wenn du also mit deinem Jammern und Wehklagen fertig bist, stelle ich dir die elfte Aufgabe: Bring mir die goldenen Äpfel der Hesperiden.«
Die Hesperiden, Nymphen des Abends, waren die drei wunderschönen Töchter von NYX, der Göttin der Nacht, und EREBOS, dem Gott der Finsternis, der dem formlosen Chaos entsprang. Man erzählte sich, dass die Hesperiden einen Garten besaßen, in dem ein Apfelbaum mit goldenen Äpfeln wuchs, die jeden, der sie aß, unsterblich machten. Gaia selbst, die Erdgöttin und Mutter von allem, hatte Zeus und Hera einige dieser Früchte zu ihrer Hochzeit überreicht, und nun hatte Hera ein anderes grausiges Kind von Typhon und Echidna, den hundertköpfigen Drachen LADON, dazu bestimmt, den Baum zu bewachen.
Das schier unlösbare Problem, mit dem Herakles sich konfrontiert sah, war nicht der Drache, der sich um den Baum wand – solche Hindernisse waren nebensächlich für ihn –, sondern die Tatsache, dass niemand auch nur die geringste Ahnung hatte, wo sich der Garten der Hesperiden befand. Manche sagten, weit nördlich des Mittelmeeres in den eisigen Gefilden der Hyperboreer, andere behaupteten, er liege westlich von Libyen.
Im nördlichen Europa traf Herakles die Nymphen des Flusses Eridanos.66 Sie drängten ihn, den Rat von NEREUS zu suchen, einem der Alten Männer des Meeres.67
»Wenn du dich an ihm festklammern kannst, wird er dir alles erzählen, was du wissen musst«, sangen sie im Chor.
Wie die meisten Meeresgötter konnte Nereus seine Gestalt ändern. Sein Wissen war immens und wie alle, die mit der Fähigkeit der Weissagung gesegnet waren, sagte er stets die Wahrheit … aber selten die ganze Wahrheit und noch seltener eine unverschleierte, unkomplizierte, unverblümte Wahrheit.
Ich weiß nicht, wie lange Herakles brauchte, bis er Nereus aufgespürt hatte, aber er fand ihn schließlich an irgendeinem abgelegenen Ufer im Sand schlummernd. In dem Moment, wo Herakles seine Schulter berührte, verwandelte Nereus sich in ein fettes Walross. Herakles umarmte ihn fest. Jetzt war Nereus ein Otter. Herakles fiel in den Sand und ließ nicht los. In schneller Reihenfolge hielt er einen Pfeilschwanzkrebs umschlungen, eine Seekuh, eine Seegurke und einen Thunfisch. Egal welche Gestalt Nereus annahm, Herakles hielt ihn fest und weigerte sich loszulassen. Schließlich gab Nereus auf und wurde zu einem bärtigen alten Fischer – vielleicht die größte Ähnlichkeit mit sich selbst, die er je aufwies.
»Du musst einmal Mutter Meer umkreisen«, sagte Nereus, »bis du auf jemanden triffst, der dich von einem höher gelegenen Ort ruft. Du wirst ihm helfen und er wird dir seinerseits helfen.«
Kein weiteres Wort konnte Herakles aus ihm herausbringen, also lockerte er seinen Griff und beobachtete, wie Nereus als Möwe in den Himmel aufstieg.
Mit der Küste von Afrika beginnend, streifte Herakles an den äußeren Rändern der bekannten Welt entlang und hielt nach Hinweisen Ausschau. Weil er nun einmal Herakles war, beseitigte er unterwegs allerlei Missstände. In den Ländern zwischen dem heutigen Marokko und Libyen68 traf er den Halbriesen ANTAIOS, einen Sohn von Gaia und Poseidon, dessen größtes Vergnügen darin bestand, Passanten zu einem Ringkampf herauszufordern. Wer den Kampf verlor, war dem Tod geweiht. Am Meeresufer hatte Antaios einen Tempel für seinen Vater errichtet, der einzig aus den Schädeln und Knochen seiner unzähligen Opfer bestand. Herakles war zu Ohren gekommen, dass sein jüngerer Cousin Theseus auf dem Weg nach Athen König KERKYON in der neuen Kampfkunst Pankration besiegt hatte, einer Kombination aus Ringen und Boxen, wobei Techniken wie Treten, Werfen, Körperfinten sowie das Ausnutzen der Stärke und des Eigengewichts des Gegners zum eigenen Vorteil zum Einsatz kamen. Herakles war es gewohnt, beim waffenlosen Kampf allein seine Muskelkraft einzusetzen, dennoch hatte er sich die Kunst des Theseus angeeignet und spürte, dass ein schwerfälliger Rabauke wie Antaios keine Gefahr für ihn sein würde, mochte er auch noch so gut kämpfen. Herakles lief zum Tempel und forderte ihn heraus.
»Ho!«, dröhnte Antaios begeistert. »Ich also werde es sein, der in die Geschichte eingeht als derjenige, der den Volkshelden Herakles besiegt und getötet hat? Dann soll es so sein!«
Wie es der Brauch verlangte, entkleideten sie sich und stellten sich einander nackt gegenüber. Wie Stiere, die eine Rechnung zu begleichen haben, stampften sie mit den Füßen in den Sand. Herakles bewegte sich als Erster, setzte einen Bodycheck gegen Antaios ein, nahm ihn in den Schwitzkasten und schleuderte ihn mit solcher Wucht über seine Hüfte zu Boden, dass die Erde bebte. Die Kraft des Wurfes hätte gewiss jeden anderen Gegner getötet oder zumindest außer Gefecht gesetzt, aber zu Herakles’ Überraschung sprang Antaios auf und stieß nach vorn, als wäre nichts geschehen. Wie merkwürdig.
Für die Griechen bestand das Ziel beim Ringen darin, den Gegner zu Boden zu werfen und ihn zu schultern, bis er aufgab. Herakles konnte Antaios ohne Mühe nach unten zwingen, doch anstatt die Kräfte zu verlieren und aufzugeben, schien er jedes Mal nur stärker zu werden. Herakles musste feststellen, dass er derjenige war, der müde wurde. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, schließlich war er genauso groß wie sein Gegner. Er riss ihm die Beine weg und schleuderte ihn immer wieder auf die Erde. Und doch sprang Antaios einfach mit frischer Kraft auf, als wäre nichts geschehen. Es war fast, als ob – natürlich!
Herakles dämmerte es. Antaios war ein Sohn von Gaia. Jedes Mal, wenn er den Boden berührte, bezog er Kraft von seiner Mutter Erde.
Herakles wusste nun, was zu tun war. Mit letzter Kraft schlang er seine Arme um Antaios, ging in die Hocke, drückte dessen Beine zur Seite, hob ihn hoch und stemmte ihn über seinen Kopf, bis er fühlte, wie die Kraft den Körper des Riesen verließ. Unter Aufbietung aller Reserven brach er ihm das Rückgrat und warf ihn zu Boden. Gaias Berührung konnte ihn nicht zurück ins Leben bringen. Herakles fand, dass sein mächtiger Schädel ein hübsches Herzstück für den Giebel von Poseidons Tempel abgeben würde.
Herakles nahm seine Reise nach Osten wieder auf und traf auf BUSIRIS, einen der fünfzig Söhne des Aigyptos.69 Die Griechen ekelten sich vor den Menschenopfern, die die Priester des OSIRIS – von ihnen hatte Busiris seinen Namen erhalten – darbrachten. Um dieser grausigen Praxis ein Ende zu setzen, ließ Herakles sich als Opfer gefangen nehmen und fesseln. Als das Messer sich seiner Brust näherte, zerbrach er seine Handschellen und tötete Busiris zusammen mit allen Priestern seines Ordens. Herakles gab der Stadt von Busiris einen neuen Namen und taufte sie zu Ehren seiner Geburtsstadt Theben – deshalb müssen bis zum heutigen Tag alle Geographen und Historiker zwischen Theben in Griechenland und Theben in Ägypten70 unterscheiden.
Trotz solcher Ablenkungen verlor Herakles nie sein Ziel aus den Augen: die Suche nach dem Garten der Hesperiden.
Er folgte der Aufforderung vom Alten Mann des Meeres, nämlich Mutter Meer zu umkreisen (worunter er korrekt die Umrundung des Mittelmeeres71 verstand), und gelangte schließlich in die Region zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer. Als er den Kaukasus erreichte, ertönte, wie Nereus es prophezeit hatte, eine Stimme von ganz oben.
»Willkommen, Herakles. Ich habe dich erwartet.«
Herakles schaute hoch und schützte seine Augen gegen die Sonne. Eine Gestalt war an einen Felsen gekettet.
»Prometheus?«
Wer sonst konnte das sein? Zeus hatte ihn an die steil abfallende Wand eines gewaltigen Felsens gekettet und einen Adler72 geschickt, der dem Titanen ein Stück von seiner Leber herausriss und dieses verschlang. Da Prometheus unsterblich war, wuchs die Leber Nacht für Nacht nach und die Tortur begann am folgenden Tag aufs Neue. Zahllose Generationen von Männern und Frauen hatten gelebt und waren gestorben, seitdem ihr Schöpfer und Held gezwungen worden war, diese Qualen zu erdulden.
Herakles wusste natürlich, wer diese Gestalt am Felsen war. Jeder wusste das. Aber nur Herakles wagte es, seinen Bogen zu heben und den Racheadler des Zeus abzuschießen, als der aus der Sonne hinabstieß.
»Ich kann nicht so tun, als täte es mir leid, ihn sterben zu sehen«, sagte Prometheus und schaute zu, wie er tot herunterfiel. »Er ist lediglich dem Gebot des Himmelsvaters gefolgt, aber ich muss gestehen, dass ich gelernt habe diesen Vogel zu hassen.«
Herakles war es ein Leichtes, die Fesseln des Prometheus mit einem Schlag seiner Keule zu zerschmettern.
»Danke, Herakles«, sagte der Titan und rieb sich die Handgelenke. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich auf diesen Moment gefreut habe.«
»Ich bezweifle, dass mein Vater ebenso dankbar sein wird.«
»Zeus? Da sei dir mal nicht so sicher. Du bist sein Gefäß in Menschenform. Ich habe von deinen Wundertaten gehört. Die Stimmen der Vögel haben mich über die Ereignisse auf der Welt unterrichtet, und in meinen Träumen suchen mich Visionen heim. Ich weiß, dass du genau wie mein Cousin Theseus die Welt von den schlimmsten Ungeheuern befreist, den Drachen, Schlangen und vielköpfigen Monstern. Durch die Arbeit von Helden wie dir reinigen die Götter die Welt von ihren urtümlichen Wesen.«
»Warum sollte Zeus das wollen?«
»Er ist dem Gesetz der Ananke73 genauso unterstellt wie wir alle. Er weiß, dass die Welt für das Menschengeschlecht sicher gemacht werden muss, damit es gedeihen kann. Der Tag wird kommen, an dem sogar die gütigsten Wesen aus dem Blickfeld der Sterblichen verschwinden werden – die Nymphen, Faune und Geister des Waldes, der Wasser, Berge und Meere. Sie werden nurmehr Legenden sein. Ja, wir Titanen auch. Sogar die Götter hoch oben auf dem Olymp werden in der Erinnerung der Menschen verblassen. Ich sehe es, ja, aber es liegt noch in weiter Zukunft. Bis dahin haben wir noch viel zu tun. Bald wird man dich rufen, um Zeus und die Götter aus großer Gefahr zu retten, der Bedrohung durch Riesen. Sie bereiten sich just in diesem Moment darauf vor, sich zu erheben und den Olymp zu erobern. Deswegen wurdest du geboren.«
Herakles runzelte die Stirn. »Willst du mir damit erzählen, ich sei nichts weiter als ein Werkzeug der Götter? Habe ich dazu nichts zu sagen?«
»Schicksal, Verhängnis, Notwendigkeit, Vorsehung. Die sind real. Aber auch dein Verstand, dein Wille, dein Geist, Herakles. Du kannst fortlaufen vor alldem. Finde eine wunderschöne Gefährtin, mit der du den Rest deines Lebens in Frieden verbringst, kümmere dich um deine Herde, erziehe deine Kinder und lebe ein ausgeglichenes Leben voller Liebe und Behaglichkeit. Vergiss, welche Pläne Zeus mit dir hat. Vergiss Hera und Eurystheus. Vergiss das grausame Spiel, das sie mit deiner Reue treiben. Du hast mehr als genug bezahlt für deine Schuld. Tu es. Du bist frei.«
»Ich würde … ich würde ein solches Leben mögen. Oh, und wie …«, erwiderte Herakles. »Und doch weiß ich, dass ich deswegen nicht auf der Welt bin. Nicht, weil du es mir gesagt hast oder dein Orakel, sondern weil ich es fühle. Ich weiß, wozu ich fähig bin. Mich dem zu verweigern wäre Betrug. Am Ende meiner Tage würde ich mich selbst hassen.«
»Siehst du, Herakles? Es ist dein Schicksal, Held zu sein, die Last der Aufgaben zu tragen – und dennoch ist es deine Wahl. Du hast beschlossen, dich zu fügen. Das ist das Paradox des Lebens. Wir stimmen aus freien Stücken zu, dass wir keinen Willen haben.«
Das alles war für Herakles ein wenig zu hoch. Er sah, aber er verstand nicht und empfand dieselbe Verwirrung wie wir beim Thema freier Wille versus Schicksal. »Nun ja, wie auch immer, ich habe eine Aufgabe zu erledigen.«
»Stimmt, ja. Die elfte Aufgabe, die dein Cousin dir stellt. Die Goldenen Äpfel. Du wirst sie nicht vom Baum pflücken können, kein Sterblicher kann das. Mein Bruder Atlas trägt das Himmelsgewölbe auf seinen Schultern. Das war seine Strafe für die Beteiligung am Krieg der Titanen gegen die Olympier.74 Du musst Atlas dazu überreden, dir zu helfen. Der Garten der Hesperiden liegt ganz im Westen. Du hast noch eine lange Reise vor dir. Genug Zeit, um einen Plan zu schmieden. Jetzt …« Der Titan erhob sich und streckte die Beine. »Jetzt werde ich wohl losziehen und Zeus suchen. Ich werde den Kopf neigen und ihn um Vergebung bitten. Ich bin überzeugt davon, dass seine Wut mir gegenüber verraucht ist. Vielleicht merkt er sogar, dass er mich braucht.«
»Aber du kannst in die Zukunft sehen, du weißt, was als Nächstes geschieht.«
»Ich denke voraus. Ich ziehe in Betracht und stelle mir vor. Das ist nicht ein und dasselbe. Lass es dir gut gehen, Herakles, und nimm meinen Segen.«
Während Herakles sich zu den Hesperiden aufmachte, lenkte Prometheus seine Schritte Richtung Olymp, zum Thron des Zeus.
»Hilf mir«, bat Zeus. »Promemus? Promedes. Es war doch Pro- irgendwas, da bin ich mir sicher.«
»Lustig«, entgegnete Prometheus. »Sehr, sehr lustig.«
»Dein Betrug hat mir Tag um Tag das Herz gebrochen. Eine Leber wächst schneller nach als ein Herz. Ich habe niemals einen Freund so sehr geliebt wie dich.«
«Ich weiß«, sagte Prometheus, »und es tut mir leid. Notwendigkeit ist eine harte …«
»Oh ja, verstecke dich nur hinter der Notwendigkeit.«
»Ich verstecke mich hinter gar nichts, Zeus. Ich stehe vor deinem Thron und biete dir meine Dienste an.«
»Deine Dienste? Ich habe schon einen Mundschenk.«
Athene hatte gelauscht und kam hinter einem Felsen hervor. »Ach komm, Vater, bringen wir es hinter uns. Umarme ihn.«
Es wurde still. Zeus erhob sich seufzend. Die beiden traten aufeinander zu. Prometheus öffnete die Arme.
»Du bist dünn geworden«, sagte Zeus.
»Fragt sich nur, warum. Blinkt da ein bisschen Weiß in deinem Bart auf?«
»Die Last des Amtes.«
»Oh, um Himmels willen«, rief Athene. »Macht schon.«
»Athene, klug wie immer«, bemerkte Prometheus, als die beiden sich aus einer unerträglich ungelenken, unerträglich männlichen Umarmung lösten. Nie war die Redewendung ›Um Himmels willen‹ passender als in diesem Moment. »Die Giganten kommen. Du weißt, dass sie kommen?«
Zeus nickte.
Manche behaupten, dass Herakles bei der Überquerung des Schwarzen und des Mittelmeeres nochmals die Schale des Helios benutzte, doch welches Fortbewegungsmittel es auch war, zu guter Letzt fand er den Garten der Hesperiden.
Über eine Mauer spähend, sah er einen Baum mit glänzenden goldenen Äpfeln. Um seinen Stamm wand sich der große Schlangendrache Ladon. Beim Anblick eines Sterblichen, der über die Mauer linste, hob er den Kopf und fauchte.
Herakles schoss seinen Pfeil ab, der Drache schrie vor Schmerz auf und glitt langsam den Baumstamm hinab. Ein weiteres Kind von Echidna und Typhon war tot.
Herakles kletterte über die Mauer und näherte sich dem Baum. Er erlebte, wovor Prometheus ihn gewarnt hatte, nämlich, dass er als Sterblicher nicht imstande war, die Äpfel zu pflücken. Ihm fehlte nicht die Kraft, doch jedes Mal, wenn er seine Hand ausstreckte, verschwanden die Früchte.
Nach einer Stunde vergeblichen Bemühens gab er auf, verließ den Garten und machte sich zur Küste auf, um nach Atlas zu suchen.
»Der Versuch«, sagte Herakles in einem seltenen Anfall von Humor zu sich selbst, »war fruchtlos.«
In der Hitze der Mittagssonne traf er auf einen angestrengten, angespannten, angeschlagenen Atlas.
»Hinfort, mein Herr. Hinfort. Ich hasse es, wenn man mich anstarrt.«
Der Anblick dieser massigen Gestalt, die solche Last auf ihren Schultern trug, war umwerfend. Sie werden ihn von frühen Weltkarten her kennen, deren Name »Atlas« auf das mythologische Vorbild zurückgeht. Das Meer westlich von ihm wird zu seinen Ehren »Atlantischer Ozean« genannt.
»Ich muss mich entschuldigen«, sagte Herakles. »Ich überbringe Grüße von deinem Bruder Prometheus.«
»Ha!«, knurrte Atlas. »Der Narr. Hat die Lektion gelernt, dass es gefährlicher ist, ein Freund von Zeus zu sein als sein Feind.«
»Er hat mir erzählt, dass du mir die Äpfel beschaffen kannst, die im Garten der Hesperiden wachsen.«
»Geh und hol sie dir selbst, wirst schon sehen, wie weit du kommst.«
»Da war ein Drache, aber den habe ich getötet.«
»Ist der Junge nicht clever? Und wo sind dann die Äpfel?«
»Jedes Mal, wenn ich sie pflücken wollte, waren sie verschwunden.«
»Ha! Das waren die Hesperiden. Man kann sie nur abends sehen. Sie sind meine Freunde. Sie kommen und unterhalten sich mit mir. Sie tupfen mir in der Nachmittagshitze die Stirn trocken. Warum sollte ich dir helfen, sie zu bestehlen? Was habe ich davon?«
Herakles erklärt ihm die Art seiner Aufgabe. »Sieh mal, wenn ich ohne Äpfel für meinen Cousin Eurystheus nach Tiryns zurückkehre, werde ich von meinem schrecklichen Verbrechen nicht reingewaschen. Deine Hilfe wäre für mich also von allergrößtem Wert. Aber ich kann auch etwas für dich tun. Seit Generationen stöhnst du unter dem Gewicht des Himmels. Ich könnte dir die Last abnehmen, während du für mich die Äpfel pflückst. Ich bekäme, was ich benötige, und du hättest die lang ersehnte Erleichterung ohne den Himmel, der auf dir lastet.«
»Du? Den Himmel tragen? Aber du bist ein Sterblicher. Ein ziemlich muskulöser Sterblicher allerdings«, fügte er hinzu und musterte Herakles von oben bis unten.
»Oh, ich bin stark genug, ganz bestimmt.«
Atlas dachte nach. »Nun denn. Wenn du meinst, dass du den Himmel stemmen kannst, ohne erdrückt zu werden, dann komm her und wir versuchen es.«
Herakles hatte schon viele Beweise seiner übermenschlichen Kräfte erbracht, aber noch nie in einem Fall wie diesem. Als Atlas den Himmel auf seine Schultern legte, stolperte er und verlor fast die Balance.
»Um Himmels willen, Mann, willst du zum Krüppel werden? Deine Beine sollen das Gewicht tragen, nicht dein Rücken. Verstehst du denn gar nichts vom Heben?
Herakles gehorchte und ließ seine Schenkel die unglaubliche Belastung übernehmen.
»Ich hab’s«, japste er. »Ich halte ihn!«
»Nicht schlecht«, sagte Atlas. Er richtete sich auf und drückte den Rücken durch. »Hab nicht gedacht, dass ich je wieder aufrecht stehen würde. Alle Äpfel?«
»Bring mir die Äpfel der … Hesperiden … das ist es … was … man mir … gesagt hat …«, keuchte Herakles. »So … ja. Ich glaube … alle …«
»Und der Drache ist tot?«
»Gut. Also. Bin gleich zurück.«
Atlas verschwand und Herakles konzentrierte sich auf seinen Atem. Was immer auch geschieht, sagte er sich, ich werde meinen Kindern erzählen können, dass ich einmal den Himmel auf den Schultern getragen habe. Wenn er an seine Kinder dachte, dann nicht an all die Söhne und Töchter, die er im Lauf der Jahre überall auf der Welt gezeugt hatte, sondern an die beiden, die er unter Heras Einfluss getötet hatte. Das Gewicht des Himmels auf den Schultern ist weniger schrecklich, dachte er, als das Blut der eigenen Kinder an den Händen.
Wie lange Atlas brauchte.
Helios zog schon recht tief vorbei und tauchte in die Röte des westlichen Palastes ein.
Endlich erschien Atlas mit einem Korb voller Äpfel.
»Danke dir, Atlas. Danke! Das ist sehr nett von dir.«
»Ganz und gar nicht«, sagte Atlas, während in seinen Augen etwas aufblitzte. »Ist mir ein Vergnügen, dir zu helfen. Ich kann dir sogar noch mehr helfen, indem ich nach Tiryns reise und die hier deinem Cousin Eurystheus persönlich überreiche. Würde gar keine Umstände machen …«
Herakles wusste nur zu gut, was der Titan im Schilde führte. Er war, wie wir schon herausgefunden haben, vielleicht nicht der feinsinnigste Mann auf der Welt, aber gewiss kein Narr. Er zog die direkten und unkomplizierten Methoden vor, hatte aber im Lauf der Zeit gelernt, dass Heuchelei und Betrug stärkere Waffen sein können als rohe Gewalt.
»Wirklich?«, rief er im Tonfall dankbarer Aufgeregtheit. »Das wäre ja herrlich. Aber du kommst doch zurück?«
»Natürlich, natürlich«, versicherte Atlas ihm. »Ich werde die Äpfel bei Eurystheus abliefern und sofort zurückfahren – ohne auch nur eine Nacht in seinem Palast zu schlafen. Wie hört sich das an?«
»Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll! Aber bevor du gehst, brauche ich wirklich ein Nackenpolster … Wenn du das Gewicht noch einmal kurz halten könntest, dann kann ich meinen Umhang zusammenraffen und ihn mir um die Schultern legen.«
»Ja, das scheuert ganz schön am oberen Rücken, was?«, sagte Atlas munter und befreite Herakles von seiner Bürde. »Sogar meine Blasen haben Blasen … Warte! Wohin gehst du? Komm zurück! Du Verräter! Betrüger! Lügner! Ich bring dich um! Ich zermalme dich in tausend Stücke! Ich … Ich …«
Es dauerte eine Nacht und einen Tag, bevor Herakles den brüllenden, jaulenden, fluchenden Titanen nicht mehr hörte. Viele Jahre später, als die Tage der Götter an ihr Ende gekommen waren, gab Zeus nach und verwandelte Atlas in ein Gebirge, das seinen Namen trägt. Bis heute schultert es in Marokko den Himmel.
Eurystheus wusste, dass er die Äpfel nicht behalten durfte. Alle Priesterinnen von Hera und Athene bestanden darauf, dass sie zurückgegeben wurden. Über Nacht lagerte man sie in Athenes Tempel und am nächsten Morgen waren sie verschwunden. Athene höchstpersönlich hatte sie in den Garten der Hesperiden zurückgebracht.
Aber der Appetit auf goldene Äpfel würde in der Menschheitsgeschichte noch einmal eine Rolle spielen.
In der Zwischenzeit wurden Eurystheus’ Lippen von einem freudlosen Lächeln umspielt, als er überlegte, welches die zwölfte und finale Aufgabe sein sollte. Die zwölfte und sehr finale Aufgabe.
»Bring mir … nun, lass mich nachdenken … ja. Bring mir …«
Eurystheus genoss die Stille, die sich am Hof ausbreitete, und machte eine dramatische Pause.
»Bring mir …«, sagte er und inspizierte seine Fingernägel, »bring mir Kerberos.«
Das kollektive Luftschnappen seines Hofstaates überstieg seine Erwartungen.
Zuverlässig ruinierte Herakles auch diesen Moment. »Oh, Kerberos?«, rief er, und wenn er noch »ist das alles?« hinzugefügt hätte, wäre der große Auftritt von Eurystheus kaum nachhaltiger gestört worden. »Geht in Ordnung. Freilaufend oder an der Leine?«
»Ist beides recht«, schnappte Eurystheus. Dann, mit einer herrischen Handbewegung: »Geh mir nun aus den Augen.«
In Wahrheit war Herakles’ Unbekümmertheit nur vorgetäuscht. Als er hörte, was Eurystheus von ihm verlangte, hatte sein Herz einen Sprung gemacht wie ein Iltis im Käfig. Kerberos, der Höllenhund, war eine weitere groteske Abscheulichkeit aus der Vereinigung von Echidna und Typhon. Herakles hatte Kerberos’ Schwester Hydra und seine Brüder Orthros und Ladon getötet. Vielleicht wusste Kerberos das nicht. Vielleicht verspürten solche Monster keine Zuneigung für ihre Geschwister. Herakles zweifelte nicht daran, dass er den wilden dreiköpfigen Hund bezwingen konnte, aber wie er ihn aus dem Hades schaffen sollte, stand auf einem anderen Blatt. Der König der Toten würde ihn vor unüberwindbare Hindernisse stellen.
Als er vom Palast des Eurystheus aufbrach, begann ein nebulöser Plan in seinem Kopf Gestalt anzunehmen. Wenn er zusammen mit Kerberos die Unterwelt sicher verlassen wollte, wäre es von Vorteil, sich mit Hades gut zu stellen. Der einfachste Weg zu seinem Herzen führte über seine Frau PERSEPHONE. Sechs Monate im Jahr herrschte sie an seiner Seite als Königin der Unterwelt. In der Welt darüber betrauerte ihre Mutter Demeter, die Göttin der Fruchtbarkeit, den Verlust ihrer geliebten Tochter, und Wachstum wie Lebenskraft, die zu Demeters Aufgabenfeld gehörten, verkümmerten langsam zum trockenen Tod des Herbstes und der fruchtlosen Kälte des Winters. Wenn Persephone dann nach sechs Monaten aus dem Reich des Todes aufstieg, erwachte neues Leben und die Knospen des Frühlings öffneten sich, gefolgt von einem ersprießlichen, ergiebigen, ertragreichen Sommer, bis es Zeit für Persephone war, wieder in die Unterwelt zurückzukehren, wo der ganze Zyklus von vorn begann.
Über die Jahre hinweg hatten die Griechen gelernt, diesen Rhythmus von Tod und Erneuerung mit einem Ritual zu feiern, das als Eleusinische Mysterien bekannt war, eine dramatische Zeremonie, welche die Entführung von Persephone durch Hades und ihren Abstieg in sein Königreich, die verzweifelte Suche Demeters nach ihrer Tochter und schließlich ihre Rückkehr in die Oberwelt veranschaulichte. Herakles glaubte, wenn er in diese rituelle Welt eingeführt sei, könne er sich bei der Königin der Unterwelt beliebt machen und durch sie vielleicht Hades’ Erlaubnis erhalten, dessen Lieblingstier ans Tageslicht zu führen.
Die von Eumolpos, dem Gründer und Zelebranten des Ordens, angeführten Priester, Priesterinnen und Hierophanten von Eleusis erhörten Herakles’ Bitte und führten ihn ordnungsgemäß in die Geheimnisse ihres Kultes ein, der Wachstum, Tod und Erneuerung zum Thema hatte.75
Herakles reiste nun zum Kap Tainaron auf der Peloponnes, dem südlichsten Punkt Griechenlands,76 wo sich eine Höhle mit einem der Eingänge zur Unterwelt befand. Hier traf er sich mit dem Psychozauberer per se, dem wichtigsten Begleiter toter Seelen, Hermes höchstpersönlich, der ihm seine Begleitung anbot. Niemand kannte den Weg durch die Hohlräume, Gänge, Galerien und Hallen des Hades besser als Hermes.
Auf dem Weg zum Thronsaal von Hades und Persephone traf er zufällig auf seinen Cousin Theseus, der im Stuhl des Vergessens neben seinem Freund PEIRITHOOS gefangen war. Im Gegensatz zu den anderen Spektralschatten, die durch die Gegend flirrten, waren sie keine Geister, keine körperlosen Gespenster, sondern lebendige Männer. Durch einen Zauber von Persephone verstummt und von zwei riesigen Schlangen, die sie umschlängelten, gefesselt, streckten sie in stummem Flehen die Hände aus. Herakles befreite Theseus, der unter gebrabbelten Dankesbekundungen nach oben ins helle Tageslicht stolperte. Als er jedoch dasselbe für Peirithoos tun wollte, bebte die Erde unter ihm. Sein Verbrechen, die versuchte Verschleppung von Persephone, war zu schlimm gewesen, als dass er Vergebung fand.77 Als Herakles tiefer in das Innere der Höhle vordrang, entdeckte er den Schatten von Medusa. Angewidert von ihrem grässlichen Aussehen und den sich windenden Schlangen auf ihrem Haupt, zog er das Schwert. Hermes packte seine Hand: »Sie ist nur noch ein Schatten, ein Phantom und kann niemandem mehr etwas antun.«
Etwas weiter entfernt entdeckte er den Schatten eines alten Freundes MELEAGROS, des Prinzen, der die Kalydonische Jagd geleitet hatte. Herakles war einer der wenigen Helden gewesen, die an diesem sagenhaften Abenteuer nicht teilgenommen hatten. Also erzählte Meleagros ihm die Geschichte und warum sie dieses traurige und schmerzliche Ende gefunden hatte. Wie seine Mutter, rasend wegen seiner Taten, einen Ast auf das Feuer gelegt hatte, dessen Abbrennen seinen Tod bedeutete.78
»Aber deine Heldentaten haben sogar diese traurigen Höhlen erreicht«, sagte Meleagros. »Es tut meinem Herzen gut zu wissen, dass es dort draußen in der Welt der Lebenden jemanden gibt wie dich. Wenn ich noch leben würde, würde ich dich einladen, deine Familie mit der meinigen zu verbinden.«
»Warum nicht?«, entgegnete Herakles tief bewegt. »Hast du keine Schwester oder Tochter, die ich heiraten könnte?«
»Meine Schwester DEÏANEIRA ist eine große Schönheit.«
»Dann werde ich sie, wenn ich von der Bürde meiner Aufgaben befreit bin, zur Frau nehmen«, versprach Herakles. Meleagros lächelte geisterhaft und glitt hinfort.
Zu guter Letzt öffnete Herakles die Tür zum Thronsaal und verkündete der Königin und dem König der Unterwelt, dass sie Besuch hätten.
Persephone, geschmeichelt durch Herakles’ fromme Unterwerfung unter die Regeln der Eleusinischen Mysterien, hieß ihren Halbbruder freundlich willkommen. Ihr Mann war weniger begeistert.
»Warum soll ich dir meinen Hund geben?«
Herakles breitete die Arme aus. »Eurystheus hat mich wegen ihm geschickt, mächtiger Pluton.«79
»Du wirst ihn zurückbringen?«
»Sobald ich von meinen Pflichten entbunden bin, werde ich mich darum kümmern. Du hast meinen heiligen Eid.«
»Mir gefällt das nicht. Mir gefällt das ganz und gar nicht.«
»Nein, ich kann das verstehen«, stimmte Herakles zu. »Hera sieht das auch so.«
»Wie bitte?«, entgegnete Hades scharf.
»Hera steckt hinter diesen Aufgaben. Sie will mich scheitern sehen.«
»Willst du damit sagen, dass Hera stinksauer sein wird, wenn ich dir meinen Hund leihe?«
»Stinksauer? Sie wird wütend sein!«, sagte Herakles.
»Nimm ihn, er ist dein.«
»Wirklich?«
»Wenn du versprichst, ihn zurückzubringen. Du musst ihn natürlich bezwingen. Hier kannst du keine Waffen einsetzen. Nicht hier unten. Kein Schwert, keine Keule, auch nicht deine berühmten vergifteten Pfeile. Sind wir uns da einig?«
Herakles nickte.
»Hermes wird dich entwaffnen, dich begleiten und dafür sorgen, dass du kein falsches Spiel treibst. Du kannst jetzt gehen.«
Auf dem Weg nach draußen stupste Hermes ihn an. »Und da heißt es, du seist ein Idiot. Woher wusstest du, dass Hades etwas für dich tun würde, wenn du ihm erzählst, dass Hera es hassen würde?«
»Wer sagt, ich sei ein Idiot?«
»Egal, Hand auf deine Waffen und mir gefolgt. ›Hera wird wütend sein!‹ – warte nur, bis ich Zeus davon erzähle. Der wird es lieben.«
Der Kampf mit Kerberos war ein unvergesslicher Anblick. Hermes klatschte in die Hände wie ein entzücktes Kind und stieg mit flatternden Flügelschuhen ein wenig in die Luft. So aufgekratzt war er, als Herakles, den Nemeischen Löwen fest um den eigenen Leib gegürtet, die drei Hälse des blindwütigen Hundes brutal im Würgegriff hielt. Währenddessen schlug der Schlangenschwanz von Kerberos wild umher und suchte nach einer Gelegenheit, die rasiermesserscharfen Fangzähne in ein Stück frei liegender Haut zu stoßen.
Am Ende zahlte sich Herakles’ Beharrlichkeit aus, und der große Hund brach erschöpft zusammen. Herakles, der wie viele griechische Helden Hunde kannte und mochte, kniete an seiner Seite nieder und flüsterte ihm ins Ohr: »Du kommst mit mir, Kerberos. Sämtliche Kinder von Echidna und Typhon sind nun tot, außer dir, denn du hast eine Aufgabe und gehörst untrennbar zum großen Mysterium des Todes. Aber zuerst brauche ich deine Hilfe in der Welt da oben.«
Kerberos streckte die Zunge heraus und legte eine Pfote auf Herakles’ Arm.
»Bist du bereit? Du bist müde. Ich werde dich tragen.«
Aus Hermes’ Entzücken wurde Verwunderung, als er sah, wie Herakles Kerberos packte und ihn sich über die Schulter warf.
»So leicht, als würde er sich einen Wollschal umlegen«, sagte Hermes zu niemandem im Besonderen.
Als Herakles mit Kerberos an seiner Seite in den Thronsaal trat, hatte Eurystheus noch einmal Veranlassung, in den steinernen Krug, den Pithos, zu hüpfen.
»Wirklich?«, fragte Herakles erstaunt. »Du willst ihn nicht begrüßen? Ein paar von seinen Tricks sehen?«
»Geh weg!«
»Und dann bin ich frei? Habe ich genug getan?«
»Ja.«
»Lauter, damit der ganze Hof es hören kann.«
»JA, verdammt. Du bist frei. Du hast alles getan, worum ich dich gebeten habe. Ich gebe dich frei.«
Der Fußtritt, den Herakles dem steinernen Krug verpasste, muss eine Woche lang in den Ohren von Eurystheus gehallt haben. Herakles zog mit Kerberos ab. Sie verabschiedeten sich an den Pforten zur Hölle.80
»Auf Wiedersehen, du schrecklicher Wüstling«, sagte Herakles liebevoll. »Die Götter allein wissen, was ich nun machen soll.«
»Nein, wissen sie nicht«, sagte Hermes und trat mit Herakles’ Waffen aus den Schatten. »Es ist an dir, dich zu entscheiden. Alles, was dein Vater Zeus weiß, ist, dass du noch viele Heldentaten vollbringen, vielleicht sogar den Olymp retten wirst.«
Das Erste, was Herakles nach seiner Befreiung aus der Knechtschaft des Eurystheus tat, war, nach einer Ehefrau Ausschau zu halten.81 Ihm war zu Ohren gekommen, dass König Eurytos von Oichalia einen Wettbewerb im Bogenschießen abhielt und dem Gewinner die Hand seiner schönen Tochter IOLE versprochen hatte. Herakles hätte nicht erfreuter sein können. Eurytos war genau der Mann, der ihm schon als Kind beigebracht hatte, wie man einen Bogen spannt und damit schießt, und er würde einen perfekten Schwiegervater abgeben.
Er meldete sich zum Wettbewerb an und erzielte (ausnahmsweise ohne seine vergifteten Pfeile zu benutzen) mühelos das beste Ergebnis. Als Eurytos dies sah, disqualifizierte er Herakles.
»Aber warum?« Herakles war am Boden zerstört. »Ich dachte, du wärst stolz auf deinen Schüler und froh, mich als Schwiegersohn zu haben?«
»Nach dem, was du Megara und deinen eigenen Kindern angetan hast?«, sagte Eurytos. »Meine geliebte Tochter Iole verheiratet mit einem Frauenmörder? Einem Kindsmörder? Niemals.«
Eurytos’ Sohn IPHITOS bewunderte Herakles und legte bei seinem Vater ein gutes Wort für ihn ein, aber der König wollte nichts davon wissen. Herakles stürmte davon und schwor Rache. Kann sein, kann auch nicht sein, dass er dabei ein paar Tiere aus Eurytos’ Viehherde mitgehen ließ. Jedenfalls fehlten anschließend zwölf Tiere aus der Herde. Iphitos kam nach Tiryns, um Herakles zu besuchen und mit ihm über eine Rückgabe zu verhandeln, aber in einem seiner schrecklichen Wutanfälle warf Herakles ihn von der Stadtmauer in den Tod.82
Die Götter bestraften dieses Verbrechen gegen die Xenia, das heilige Prinzip der Gastfreundschaft, indem sie Herakles mit einer Krankheit infizierten.83
Wieder einmal auf der Suche nach Abbitte und Reinigung, besuchte Herakles König NELEUS von Pylos und bat ihn, die erforderlichen Riten durchzuführen, da gesalbte Könige das Recht dazu besaßen.84
Aber Neleus war ein alter Freund von Eurytos. Iphitos war für ihn wie ein zweiter Sohn gewesen, und er weigerte sich rundheraus, Herakles von der Mordtat reinzuwaschen. Unser Held verließ Pylos und schwor auch hier Rache.
Herakles hegte also mehrfachen Groll. Hinzu kam der Ärger wegen Augias, der die vereinbarte Stückzahl Vieh als Lohn für die Reinigung seiner verdreckten Ställe nicht gewähren wollte. Herakles hatte auch nicht vergessen, dass Laomedon von Troja seine Schuld nicht beglichen hatte, als er Hesione vor dem Seeungeheuer rettete, das Poseidon gesandt hatte.
»Eurytos, Neleus, Augias und Laomedon«, murmelte er vor sich hin, als er nach Delphi aufbrach. »Sie alle werden bezahlen.«
Er kniete vor dem Orakel nieder. »Ich muss gereinigt werden. Sag mir, was ich zu tun habe.«
»Du bist unrein«, sagte die Priesterin namens Xenoklea.85 »Du hast einen Gast ermordet. Wir können nicht zu dir sprechen, bevor du gereinigt bist.«
»Deswegen komme ich zu dir, damit du mir sagst, wie ich gereinigt werden kann.«
Kein weiteres Wort war Xenoklea zu entlocken.
In diesem Moment verlor Herakles die Geduld und er schnappte sich den heiligen Dreifuß, den sie in der Hand hielt.
»Verdammt«, schrie er. »Dann ziehe ich eben los und hole mir mein eigenes Orakel.«
Apollon stieg vom Olymp herab, um in seinem Tempel nach dem Rechten zu sehen, aber Herakles schnauzte auch den Gott streitsüchtig an. So etwas traute nur er sich.
Zeus trennte die beiden mit einem Blitzschlag. Widerstrebend reichten die beiden Halbbrüder sich die Hand. Herakles gab den Dreifuß zurück und Xenoklea erteilte Herakles auf Befehl von Apollon den Rat, den er suchte.
»Du kannst vom Mord an Iphitos nur gereinigt werden, wenn du dich in die Sklaverei begibst«, sagte sie. »Drei Jahre lang musst du jemandem klaglos dienen. Der Lohn, der dir zusteht, geht als Entschädigung an Eurytos für den Verlust seines Sohnes.«
Würde das denn nie ein Ende haben? Zwölf Jahre hatte er sich in der Knechtschaft von Eurystheus befunden, und nun wurde er zu drei weiteren verurteilt? Man kann natürlich sagen, Herakles war selbst schuld, weil er Megara und seine Kinder tötete und Iphitos von einer Mauer stieß. Man kann zu seiner Entschuldigung aber auch anführen, dass er unter dem Einfluss von Wahnvorstellungen stand, die Hera ihm gesandt hatte. Auch wurde er wohl mit einer Art Krankheit geboren, die ihn anfällig für Aufwallungen und Halluzinationen machte. Außerdem brachte seine Reue ihn immer wieder dazu, ehrenhafte Wiedergutmachung zu suchen. Doch wie sehr man auch geneigt sein mag, Herakles zu vergeben, muss man auch zugeben, Aufwallungen und Täuschungen hin oder her, dass er in der Lage war, die unerbittlichsten Rachegelüste zu hegen. Diese neue Bestrafung stärkte nur noch seine Racheschwüre. Eurytos, Neleus, Augias und Laomedon – alle würden bezahlen müssen.
Doch zuerst musste er sich auf eine erneute Zeit der Unterjochung einstellen. Xenoklea hatte es so eingerichtet, dass er das Eigentum von Königin OMPHALE von Lydien sein würde,86 die ihr Königreich seit dem Tod ihres Mannes, des Bergkönigs TMOLOS, allein regierte.87 Sie schien eine perverse Befriedigung daraus zu ziehen, ihren neuen Sklaven zu demütigen. Davon abgesehen trug sie äußerst gerne Keule und Löwenfell, die Erkennungszeichen des Herakles. Obendrein verdonnerte sie ihn dazu, Frauenkleider anzulegen, wenn er ihr diente. Trotz dieser Demütigung – oder vielleicht gerade deswegen, wer weiß? – verliebte er sich in Omphale, trug brav Frauenkleider und beschützte das Königreich Lydien vor Briganten und Monstern, die dessen Frieden bedrohten, und zeugte sogar einen Sohn mit ihr.88
Als die drei Jahre vorüber waren, bot Omphale, wie von Xenoklea angeordnet, den Lohn, den Herakles verdient hätte, Eurytos an. Der lehnte voller Verachtung ab. »Ich habe einen Sohn und zwölf Stück Vieh verloren und du kommst mir mit dem Lohn von drei Jahren?«
Endlich frei, stellte Herakles ein Heer auf und segelte los, um sich zunächst an dem Feind zu rächen, der in der Nähe lebte: König Laomedon von Troja. Herakles wurde von seinen alten Freunden, den Brüdern TELAMON und PELEUS, begleitet, die dabei gewesen waren, als Laomedon sich geweigert hatte, seine Schulden bei Herakles zu begleichen. Sie plünderten die Stadt und schlachteten sowohl den König als auch seinen gesamten Haushalt ab außer Hesione, die Telamon zur Braut gegeben wurde.89 Herakles verschonte auch den jüngsten Sohn von Laomedon, Prinz PRIAMOS, der in den rauchenden Ruinen der ehemals blühenden Stadt zurückgelassen wurde.90
Herakles segelte nun zurück nach Griechenland und warb weitere Verbündete für eine Invasion von Elis, dem Königreich des Augias. Der bekam Wind davon und stellte seine eigene Armee unter dem Kommando der vereinigten Zwillinge EURYTOS91 und KTEATOS auf.92 Sie waren zwar an der Hüfte zusammengewachsen, doch ihre vereinten Kräfte und ihre göttliche Herkunft machten sie zu Feinden der Extraklasse. Sie töteten Herakles’ Bruder Iphikles, den geliebten Zwilling, mit dem er als Neugeborener das Bett geteilt hatte, an das Hera die Schlangen geschickt hatte. Dies löste bei Herakles einen seiner Wutausbrüche aus, die ihn zu einem Zyklon der Grausamkeit werden ließen. Mit dem Schwert zerschlug er Eurytos und Kteatos in der Mitte und trampelte auf ihren sterbenden Körpern herum. Dann tötete er Augias und alle seine Kinder außer einem, dem Sohn Phyleos, der sich für ihn eingesetzt hatte, als er seine Belohnung für das Reinigen der Ställe einforderte, und der für seinen Ungehorsam mit der Verbannung auf die Insel Dulichion bezahlt hatte. Herakles rief ihn aus seinem Exil zurück, um anstelle seines toten Vaters zu regieren.
Es war hier, in Elis, dass Herakles zu Ehren seines Vaters Zeus Wettbewerbe für Athleten etablierte, die alle vier Jahre stattfanden. Er taufte sie Olympische Spiele, nach dem Sitz des Zeus auf dem Gipfel des gleichnamigen Berges.
Nun wandte Herakles seine Aufmerksamkeit Neleus und Pylos zu, die sich geweigert hatten, sein Bußritual für den Mord an Iphitos durchzuführen. Er griff das Königreich93 an und wieder schlachtete er sämtliche Mitglieder des Königshauses ab. Außer einem. Wie bei Augias gab es einen einzigen Sohn, der den Thron übernehmen sollte. Der junge Prinz NESTOR hatte das Glück gehabt, beim Angriff von Herakles abwesend zu sein. Er kehrte in ein verwüstetes Pylos zurück, das er im Lauf der Jahre zu einem friedlichen, wohlhabenden Königreich machte,94 womit er sich den Ruf eines der weisesten Könige in der griechischen Geschichte erwarb. Nestor war nicht nur wegen seines gesunden Urteilsvermögens berühmt, sondern in seinen späten Jahren auch für seine herausragenden Verdienste bei der Suche nach dem Goldenen Vlies und als geschätzter Ratgeber und mutiger Verbündeter von AGAMEMNON im Trojanischen Krieg.
Nestors Vater Neleus hatte während der Verteidigung von Pylos Unterstützung von seinem Verbündeten HIPPOKOON, dem König von Sparta, erhalten. Der unerbittliche Herakles griff nun auch diesen König an. Obwohl er sich wie ein kleinlicher, rachsüchtiger Wutanfall ausnehmen mag, hatte der Angriff auf Sparta Folgen, die lange in der Geschichte nachhallen sollten.
Herakles tötete den König und seine Söhne und setzte dessen älteren Bruder TYNDAREOS auf den Thron, den rechtmäßigen König von Sparta, den Hippokoon einige Jahre zuvor vertrieben hatte. Das ist erwähnenswert, weil Tyndareos und seine Frau Leda eine so bedeutsame Rolle in der Geschichte des Trojanischen Krieges spielen würden. Fraglich, ob es ohne die Einsetzung von Tyndareos als König von Sparta je einen Trojanischen Krieg gegeben hätte.
Es mag aussehen, als habe Herakles nichts anderes getan, als zu wüten und zu morden, aber in Wahrheit war er – wie ich bereits angemerkt habe – dabei dienlich, einerseits die Welt von überkommenen und grausamen Bedrohungen zu befreien und andererseits neue Herrscher und Dynastien zu etablieren, die in der hellenischen Geschichte eine wesentliche Rolle spielen sollten. Wenn Kadmos der Gründerheld von Theben war und Theseus der Gründerheld von Athen, dann kann Herakles als Gründerheld von Griechenland gelten.
Wie so viele Geschichten im alten Griechenland beginnt auch diese mit einem Viehdiebstahl. Der Sonnengott Helios war auf seine herausragende Viehherde überaus stolz.95 Ihr Diebstahl durch den Giganten ALKYONEUS erwies sich als endgültige Provokation, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und zu dem führte, was die Griechen die Gigantomachie nennen sollten – die Gigantenschlacht.
Sie erinnern sich vielleicht, dass die Giganten dem Blut entsprangen, das den abgeschnittenen Genitalien des primordialen Gottes Uranos entströmte. Damit gehörten sie zur Generation von Gaia, sie waren »Gaia-gen«, woraus im Lauf der Zeit die Bezeichnung GIGANTEN entstand.96
Gaia hatte von Heras Traum gehört, der Vision, nach der ein Aufstand der Giganten gegen die Olympischen Götter und deren Niederschlagung durch einen Sterblichen bevorstehe. Mit großer Aufmerksamkeit registrierte sie die Taten menschlicher Helden, um einen Hinweis darauf zu finden, ob die bewusste Person geboren worden war und die Prophezeiung sich bald erfüllte.
Da ihr bewusst war, dass der Diebstahl von Helios’ Viehherde einen Krieg auslösen würde, suchte sie nach einem Heilkraut,97 das ihre Giganten vor allem Schaden schützen sollte, den ein sterblicher Held ihnen zufügen würde. Zeus kam ihr jedoch zuvor: Er wies Selene und Helios an, ihre Mond- und Sonnenwagen nicht in Bewegung zu setzen, und während es Nacht wurde auf der Welt, sammelte er selbst eine große Menge an Kräutern.
Nach dieser ersten Vorbereitung rief Zeus die zwölf Olympier und Prometheus, mit dem er sich inzwischen versöhnt hatte, zum Kriegsrat zusammen.
»Wir müssen uns auf einen Angriff vorbereiten«, sagte Zeus. »Hera hat diesen Moment geträumt. Athene, geh nach unten und bring uns Herakles. Wir brauchen ihn nun.«
Die Gewalt brach aus, als der Viehdieb Alkyoneus den Olymp erklomm, die Götter beiseitestieß und sich auf Hera warf. Herakles kam gerade noch rechtzeitig, um ihn von ihr herunterzuzerren und mit einem seiner vergifteten Pfeile auf ihn zu schießen. Alkyoneus stürzte, erhob sich aber wieder und trat erneut ins Gefecht ein, als wäre nichts geschehen. Was Herakles auch tat, Alkyoneus schien sich immer wieder zu erholen. Athene nahm Herakles beiseite.
»Alkyoneus zieht Kraft aus seiner Mutter Erde. Du kannst ihn nicht töten, solange er sich auf ihr befindet.«
»Ach, gegen so einen habe ich schon einmal gekämpft«, erinnerte sich Herakles an seine Begegnung mit dem Ringer Antaios. Er schleuderte Alkyoneus ein letztes Mal zu Boden und schleppte ihn von Griechenland nach Italien. Dort verließ ihn schließlich die Kraft, und Herakles begrub ihn unter dem Vesuv, wo er bis zum heutigen Tag vor sich hin grummelnd liegt und darauf wartet, wieder auf- und auszubrechen und seine Wut auf die Menschheit auszuspucken.
Nun begannen die anderen Giganten mit ihrem Angriff auf den Olymp. Man ist sich nicht einig, wie viele es waren – ausgehend von den zahlreichen Abbildungen auf Keramiken sowie von Skulpturen, Reliefs und anderem scheint die Anzahl der Götter und Giganten in etwa gleich gewesen zu sein. Überall im Mittelmeerraum bebte die Erde, als Herakles, Prometheus und die Götter einen langen, harten Kampf fochten, um den Olymp und ganz besonders Hera zu beschützen, auf die sich die Giganten einer nach dem anderen stürzten. Nach Alkyoneus versuchte zuerst EURYMEDON, der König der Giganten, sie anzugreifen, dann PORYPHYRION, der Purpurne. Die Giganten schienen zu glauben, dass Nachkommen aus einer Verbindung mit Hera große Helden würden. Die brutaleren unter ihnen mochten annehmen, dass eine Vergewaltigung von Hera die Götter zutiefst demütigen und sie zwingen würde, vor lauter Scham aufzugeben.
Doch Herakles schlug jede neue Angriffswelle nieder. Nicht einen Moment dachte er an all den Schmerz und das Leid, das Hera ihm zugefügt hatte.
Wie von Hera vorhergesagt, konnten Zeus’ Blitze die Giganten nicht in Schach halten, dennoch versetzten sie sie in einen Schockzustand. Während die Schlacht wütete, traf Zeus einen nach dem anderen, und Herakles nutzte ihre Benommenheit, um ihnen mit seinen vergifteten Pfeilen den Rest zu geben.
Als alles vorüber war, wurde der mächtigste der Giganten, ENKELADOS, immer noch wutschnaubend, von Athene unter dem Ätna festgesetzt. Die Giganten würden sich nie wieder erheben.
Hera hatte im Traum alles vorhergesehen. Ein menschlicher Held, der von Perseus abstammte, war aufgetaucht und hatte die Götter gerettet. Ihr Hass verwandelte sich in dankbare Liebe und Feindseligkeit in Freundschaft. Nie wieder würde sie Herakles Halluzinationen senden oder ihn mit schrecklichen Flüchen belegen. Er konnte den Rest seines Lebens frei von ihren Heimsuchungen leben.
Wie zu der Zeit, nachdem er seine Taten vollbracht hatte, dachte Herakles nun wieder ans Heiraten. Diesmal rief er sich das Treffen mit dem Schatten von Meleagros im Reich des Hades in Erinnerung, wo er dem alten Freund versprochen hatte, dessen Schwester Deïaneira zur Frau zu nehmen.
Also machte er sich zu Deïaneiras Wohnsitz in Kalydon auf, wo er um ihre Hand anhalten wollte, nur um herauszufinden, dass der Flussgott ACHELOOS gegen ihren Willen um sie warb. Er hatte sich ihr in drei verschiedenen Gestalten genähert:98 als Stier, als Schlange und als Wesen, das halb Stier, halb Mensch war. Acheloos mag dies als verführerische Brautwerbung empfunden haben, die unweigerlich das Herz einer jeden jungen Frau rühren musste, aber Deïaneira war entsetzt und angeekelt.99
Neben diesem ständig die Gestalt wechselnden Monster sah Herakles wie ein süßer, normaler, geeigneter Heiratskandidat aus und sie nahm erleichtert seinen Antrag an. Doch um sie für sich zu gewinnen, musste er zuallererst seinen Rivalen besiegen.
Acheloos war natürlich unsterblich, weswegen Herakles ihn nicht einfach töten konnte, aber er rang ihn problemlos zu Boden, bis er aufgab, und brach dabei eines der Hörner des Gottes ab. Um es zurückzuerhalten, bot Acheloos ihm das sagenumwobene Füllhorn an, das die Römer CORNUCOPIA nannten. Der junge Zeus hatte es versehentlich vom Kopf seiner geliebten AMALTHEA gerissen, der Ziege, die ihn als Baby auf Kreta gesäugt hatte.100
Als Entschädigung hatte Zeus das Horn auf magische Weise mit Essen und Trinken gefüllt. Egal, wie oft es geleert wurde, füllte es sich stets aufs Neue. Von da an trug Herakles es immer am Gürtel und musste nie Hunger leiden.
Mit Deïaneira verheiratet zu sein, gefiel ihm. Seit er viele Jahre zuvor mit Megara zusammengelebt hatte, war er nicht mehr so glücklich und zufrieden gewesen. Das Paar lebte in Kalydon und hatte vier Söhne, HYLLOS, GLENOS, KTESIPPOS101 und ONITES, sowie eine Tochter namens MAKARIA. Alles wäre eitel Sonnenschein gewesen, hätte Herakles nicht wieder einmal die Fassung verloren, mit fatalen Folgen. Eines Abends kleckerte der Mundschenk seines Schwiegervaters OINEUS etwas Wein über Herakles, und der holte aus und schlug den unglücklichen Jungen mit einem Fausthieb tot.
Aus Verzweiflung über seine Ungeschicklichkeit beschloss Herakles, Kalydon für eine Weile zu verlassen. Zusammen mit Deïaneira begab er sich nach Trachis, das von seinem Freund KEYX und dessen Frau ALKYONE regiert wurde.
Es war auf dem Weg dorthin, dass sich etwas zutrug, was Herakles schlussendlich das Leben kosten und ihm einen schrecklichen Tod einbringen sollte.
Um nach Trachis zu gelangen, mussten Herakles und Deïaneira die schnell fließenden Wasser des Evinos überqueren. Als sie sich näherten, sahen sie, dass am Ufer ein Kentaur in einem hellen purpurfarbenen Hemd stand. Er bot Deïaneira freundlicherweise die Überfahrt an. Herakles erkannte ihn nicht, aber er erkannte Herakles. Bei dem Kentauren handelte es sich nämlich um Nessos, einen derjenigen, die Herakles angegriffen hatte, als er sich bei der Jagd nach dem Erymanthischen Eber in der Höhle des Pholos aufhielt.
Nessos und Deïaneira hatten es zur Hälfte geschafft, als er versuchte, sie zu belästigen. Herakles hörte ihre Schreie, sah, was passierte, und platzierte einen seiner Pfeile im Rücken des Kentauren. Der stolperte durch das Wasser bis zum Flussufer und legte Deïaneira dort im Gras ab.
Bisher hatte Nessos den tödlichen Pfeilen ausweichen können, doch jetzt durchströmte ihn ihr tödliches Gift. Selbst im Todeskampf kam ihm ein diabolischer Racheplan in den Sinn. Deïaneira gegenüber gab er nicht zu, Herakles zu kennen. Sanftmütig und mitleidig, wie sie war, zeigte sie sich entsetzt darüber, wie gewaltsam ihr Ehemann reagiert hatte. Sie kniete nieder, streichelte Nessos’ Flanken und bat um Vergebung.
»Nein, nein«, hechelte er. »Es war alles mein Fehler … Ich war so von deiner Schönheit gefangen. Dein Mann hatte recht, mich zu bestrafen … Hör mir zu … wenn ich mit dir verheiratet wäre, würde ich dir nie von der Seite weichen, aber du weißt ja, wie Männer sind. Zieh mir das Hemd aus, es ist verzaubert. Trage es immer bei dir. Sollte der Tag kommen, an dem du das Gefühl hast, dein Mann sei deiner überdrüssig geworden, dann gib es ihm zum Anziehen … du wirst sehen, dass seine Liebe zu dir aufs Neue erwachen wird …«
»Oh, du süßes Ding!«, rief Deïaneira gerührt von seinen Komplimenten.
»So … wenig … Zeit … Schnell, nimm das Hemd …«
Zärtlich zog sie ihm das Hemd aus, so blutgetränkt es auch war, faltete es und steckte es gerade in ihre Tasche, als Herakles durch den Fluss gerannt kam. Er versetzte dem sterbenden Kentauren einen Tritt.
»Verdammter Wüstling. Sich so an jemandem zu vergreifen.«
Deïaneira und Herakles ließen sich am Hof von König Keyx nieder, doch nach etwa einem Jahr zog Herakles nach Oichalia, um seinen letzten Racheschwur einzulösen. Obwohl er glücklich mit Deïaneira verheiratet war, hatte er seinem alten Erzfeind Eurytos nicht vergeben, dass er ihn vom Wettbewerb um seine Tochter Iole ausgeschlossen hatte. Eine Beleidigung war eine Beleidigung und man hatte dafür zu bezahlen. Er verwüstete Oichalia, schlachtete Eurytos und seine gesamte Familie ab außer Iole, die er als Sklavin behielt. Im Triumph schleppte er sie zusammen mit der übrigen Beute nach Trachis. Als Deïaneira sie sah, wurde sie von Furcht und Eifersucht ergriffen.
»Das Mädchen, das er immer schon heiraten wollte. Sie ist jünger und schöner als ich. Welche Chance habe ich da?«
Ihr fiel das verzauberte Hemd ein, das Nessos ihr geschenkt hatte. So konnte sie die Zuneigung von Herakles zurückgewinnen.
»Willkommen zu Hause, mein Liebling«, rief sie und umarmte ihn zärtlich. »Du hast eine weitere Schlacht gewonnen, wie ich gehört habe?«
»Ach, du kennst das ja. Nichts Besonderes, wirklich.«
»Ich habe ein Geschenk für dich. Eine Belohnung für deinen bemerkenswerten Sieg.«
»Wirklich? Was ist es?« Herakles liebte Geschenke.
»Etwas, das du heute Abend tragen kannst. Ein Hemd.«
»Ein Hemd? Oh, ein Hemd. Danke.« Herakles versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
»Ich werde Lichas damit auf dein Zimmer schicken. Du versprichst, es zum Essen zu tragen?«
»Wie du willst«, sagte Herakles und tätschelte ihr Kinn. Frauen waren so lustig. Leicht verärgert, leicht zu erfreuen.
Eine halbe Stunde später erschien Lichas auf Herakles’ Zimmer, brachte ihm das Hemd und half ihm hinein. Vielleicht fünf oder sechs Minuten lang empfand Herakles nichts. Dann begann sein Rücken zu jucken und er musste sich ausgiebig kratzen. Das Jucken verwandelte sich in Feuer und er drehte und wendete sich, als er versuchte, es sich vom Leib zu reißen. Das Gift der Hydra im getrockneten Blut war durch seine Körperwärme wieder aktiviert worden und bohrte sich nun in sein Fleisch, verätzte und zerfraß es.
Niemand hatte Herakles je so schreien gehört. Keiner, der ihn nun hörte, würde diese Töne je vergessen. In verzweifelter Wut holte er aus und schlug nach Lichas, der sofort tot war. Sein Sohn Hyllos kam hereingerannt.
»Deïaneira … ihr Hemd …«, brüllte Herakles, während Tränen über sein Gesicht strömten, er aufstampfte und sich durchs Zimmer warf, bevor er in den Garten taumelte und wie ein wildes Tier umherrannte.
Entsetzt betrachtete Hyllos, wie sein Vater in tödlicher Pein begann, Bäume zu entwurzeln. Herakles’ Neffe Iolaos und Dutzende anderer Freunde und Gefolgsleute strömten von den schrecklichen Schreien alarmiert nach draußen. Alle wussten, wie es war, wenn Herakles die Fassung verlor, sie waren Zeugen seiner Anfälle und Ausfälle gewesen, aber das hier war etwas anderes. Deïaneira kam nun auch aus dem Haus gerannt und begann ebenfalls zu schreien. Was hatte sie nur getan?
Das Entwurzeln der Bäume schien ein Zeichen von Wahnsinn zu sein, doch selbst im Todeskampf vollbrachte Herakles eine Tat. Es wurde deutlich, dass er einen Scheiterhaufen baute.
Er kletterte darauf und legte sich hin. »Zündet ihn an!«, schrie er. »Zündet ihn an!«
Niemand rührte sich. Niemand wollte von der Geschichte als derjenige erinnert werden, der Herakles verbrannt hatte.
»Ich flehe euch an!«
Schließlich nahm Philoktetes, geschätzter Freund und Kamerad in vielen Abenteuern, eine Fackel aus ihrer Wandhalterung und trat einen Schritt vor.
»Tu es, alter Freund«, keuchte Herakles.
Philoktetes weinte.
»Wenn du mich liebst, dann tu es für mich.«
»Aber …«
»Meine Zeit ist gekommen. Ich weiß es.«
Philoktetes berührte den Scheiterhaufen mit der brennenden Fackel.
»Nun schnell«, sagte Herakles. »Nimm meinen Bogen und meine Pfeile.«
Philoktetes tat es und verbeugte sich.
»Sie sind … machtvoll«, japste Herakles. »Schütze sie mit deinem Leben.«102
Er bäumte sich auf, als eine weitere Schmerzwelle ihn durchfuhr. Die Flammen schlugen hoch.
»Das Feuer…«, flüsterte er, als alle vortraten, um sich zu verabschieden, »ist nicht so schmerzhaft wie das Gift … Eigentlich … ist es ein begnadetes Geschenk.«
»Oh, mein Freund …«
»Oh, mein Onkel …«
»Oh, mein Vater …«
Mit einem Schaudern und einem Seufzer verließ die Seele Herakles. Der große Held hatte endlich Frieden gefunden, befreit von seinen schier unerträglichen Mühen und Qualen.
Hyllos wandte sich wutentbrannt an seine Mutter. »Du hast ihn getötet. Warum hast du das getan? Warum?«
Deïaneira rannte jammernd zurück ins Haus und erdolchte sich.
Zeus erinnerte sich an sein Versprechen und erhob Herakles’ Seele in den Olymp.103 In einer berührenden Zeremonie verlieh man ihr Gestalt, geformt aus den Roben von Hera – früher einmal bittere Feindin, nun liebevolle Freundin und Stiefmutter –, und sie wurde wiedergeboren.
Hier, im Kreise von Göttern und Göttinnen, mit denen er seinen Vater Zeus teilte, erreichte Herakles Unsterblichkeit und göttlichen Status. Als Zeichen der Zuneigung bestimmte Hera ihren weiblichen Mundschenk, die Göttin Hebe, zu seiner letzten und ewigen Ehefrau.104 Schlussendlich gewährte Zeus seinem liebsten menschlichen Sohn einen Platz am Himmel, als Herkules, dem fünftgrößten Sternbild an unserem Nachthimmel.
Wieder zurück auf der Erde, stellten die Söhne von Herakles – die HERAKLIDEN – eine Armee auf. Sie besiegte den tyrannischen Eurystheus, der immer noch in Tiryns herrschte; Hyllos selbst brachte den fliehenden König zur Strecke und enthauptete ihn. Sie übernahmen die Kontrolle in Argolis, bevor sie ATREUS, Sohn des Pelops, auf den Thron von Mykene setzten. Eine Zeitlang kehrten Frieden und Wohlstand auf der Peloponnes ein.
Für die meisten Griechen und andere Mittelmeeranrainer war Herakles der größte aller Helden, das non plus ultra, der Unvergleichliche, das Musterbeispiel und Vorbild für alles, was einen Helden ausmacht. Die Athener hingegen bevorzugten seinen Bruder im Geiste, Theseus. Er zeigte, wie wir noch sehen werden, nicht nur die Kraft und den Mut, die einen großen Helden ausmachen, sondern auch Intelligenz, Witz, Einsicht und sogar Weisheit – Qualitäten, von denen die Athener (sehr zum Verdruss ihrer Nachbarn) annahmen, dass sie ihrem eigenen Charakter und ihrer Kultur auf einzigartige Weise entsprächen.105
Dennoch war Herakles der stärkste Mann, der je gelebt hat. Kein Mensch und fast kein unsterbliches Wesen konnte ihn physisch bezwingen. Geduldig und klaglos nahm er alle Prüfungen und Katastrophen hin, die ihm im Lauf seines ereignisreichen Leben aufgehalst wurden. Zur Kraft gesellte sich Ungeschicklichkeit, die im Zusammenspiel mit den apokalyptischen Wutausbrüchen jeden verletzen oder sogar töten konnte, der ihm im Weg stand. Wo andere listig und clever waren, war er direkt und einfach. Planten andere im Voraus, stolperte er hinein, schwang seine Keule und brüllte wie ein Stier. Meistens erschienen seine Unzulänglichkeiten eher liebenswert als befremdlich. Wie die List im Fall von Atlas und die Manipulation des Hades zeigen, war er nicht ganz ohne Grips, Entschlossenheit und praktische Vorstellungskraft, welche die Griechen Nous nennen. Alles in allem hatte er mehr gute als schlechte Seiten. Sein Mitleid mit anderen und seine Bereitschaft, denen in Not zu helfen, war so grenzenlos wie das Leid und die Scham, die ihn überkamen, wenn er Fehler machte und Menschen dabei verletzt wurden. Er war nachweislich bereit, sein eigenes Glück über Jahre hintanzustellen, um Wiedergutmachung für den (meist unbeabsichtigten) Schaden zu leisten, den er verursacht hatte. Dass ihm Heimtücke und Heuchelei gänzlich fremd waren, wog seinen Hang zum Kindischen vollständig auf. Außerdem besaß er eine Qualität, die mit Blick auf seine Tugenden oft übersehen wird: Standhaftigkeit, die Fähigkeit, etwas ohne Klagen durchzustehen. Sein ganzes Leben lang wurde er von einer grausamen, bösartigen und unerbittlichen Göttin gequält, geplagt und schikaniert, die einen Rachefeldzug gegen ihn führte und ihn für ein Verbrechen bestrafte, für das er nicht verantwortlich war – seine Geburt. Keine Aufgabe war heldenhafter als die Aufgabe, Herakles zu sein. In seinem klaglosen Leben voller Drama und Durchhaltewillen, in seiner Leidenschaft und seinem Verlangen, das Richtige zu tun, zeigte er, wie die amerikanische Mythographin Edith Hamilton es ausdrückt, eine »Größe der Seele«.
Herakles mögen weder die kecke Beweglichkeit und der Charme von Perseus und Bellerophon zu eigen gewesen sein noch der Intellekt von Ödipus, das Herrschertalent von Jason oder der Witz und die Vorstellungskraft von Theseus, aber er besaß ein mitfühlendes Herz, das stärker und wärmer war als das ihre.