Die Griechen glaubten, dass Theben in Böotien der erste Stadtstaat, die erste Polis der Welt, sei.218 Die Familie ihres Gründers Kadmos durfte sich rühmen, den einzigen Olympischen Gott mit sterblichem Blut in den Adern zu ihren Mitgliedern zu zählen. Sie war über Generationen hinweg berüchtigt für interne dynastische Konflikte, Flüche und Morde mit ruinösen Konsequenzen und stand Tantalos und dem fluchbeladenen Haus von Atreus in nichts nach. Wenn sie ihre Kinder nicht briet, opferte sie sie, wohingegen diejenigen, die es bis ins Erwachsenenalter schafften, ihre Eltern ermordeten, sofern sie nicht gerade Inzest mit ihnen trieben.219
Kadmos und HARMONIA zeugten Semele, die explodierte und Dionysos gebar, ihren Sohn mit Zeus. Kadmos und Harmonia zeugten außerdem Agaue, Autonoë und Ino. Agaue zeugte PENTHEUS, der von seinen Tanten und seiner Mutter in Stücke gerissen wurde – ein Schicksal, das vom Gott Dionysos veranlasst wurde als Strafe für das Versäumnis der drei Frauen, seiner Mutter und damit ihrer Schwester Semele die gebührende Ehre zu erweisen.220 Wie wir in der Vorrede zur Geschichte von Jason erfahren haben, brachte Ino Learchos und Melikertes zur Welt. Sie versuchte es so einzurichten, dass Phrixos und Helle geopfert würden, und wurde schließlich in Leukothea verwandelt, die weiße Göttin des Meeres.
Neben ihren vier Töchtern zeugten Kadmos und Harmonia auch einen Sohn, POLYDOROS, der LABDAKOS zeugte, der wiederum LAIOS zeugte, welcher – als genügte die Feindschaft zwischen Ares und Dionysos nicht, um das Haus Kadmos zu vernichten – einen weiteren Fluch auslöste.221
Kurz gesagt, war König Labdakos, als sein Sohn Laios noch ein Baby war, von den Zwillingen AMPHION und ZETHOS gestürzt worden.222 Unter Lebensgefahr hatten kadmeische Getreue das Kleinkind Laios aus Theben geschmuggelt, um zu gewährleisten, dass die königliche Linie eines Tages wiederhergestellt werden konnte.
Laios wuchs als Gast des Königs Pelops von Pisa auf. 223 Anscheinend verliebte er sich in Pelops’ unehelichen Sohn CHRYSIPPOS, brachte ihm bei, wie man einen Streitwagen lenkt, und nahm ihn mit zu den Nemeischen Spielen, wo die Jugend sich im Wagenrennen maß.
Anstatt ihn sicher zurück zu Pelops zu bringen, verschleppte er seinen Freund Chrysippos am Ende der Spiele nach Theben, wo Laios den Thron zurückforderte. Chrysippos, der in diese Entführung nicht eingewilligt hatte und sich seiner öffentlich bekannten Rolle als ausgehaltener Liebhaber schämte, beging Selbstmord.224 Als die Kunde davon Pelops ereilte, verfluchte er Laios und dessen Nachkommen auf alle Zeiten.
Ob als Resultat des Fluches, wegen eingeschränkter Spermienbeweglichkeit oder beidem stellte Laios – der seinen Thron zurückerobert und eine thebanische Adelige namens IOKASTE geheiratet hatte – fest, dass er keine Kinder zeugen konnte. Nicht zum ersten Mal folgen wir der Geschichte eines Königs ohne Erben, der das Delphische Orakel aufsucht und um Rat bittet.
Der Sohn von Laios und Iokaste wird seinen Vater töten.
Nun, das würde ihm nicht passieren. Die Prophezeiung, nach der Akrisios von Argos von seinem Enkel getötet werden würde, war schon schlimm genug, aber das hier … Akrisios war tatsächlich, wenn auch unabsichtlich, von der Hand seines Enkels, des Helden Perseus, getötet worden, aber Akrisios, dachte Laios, war ein Narr gewesen. Er hätte gewiss einen besseren Weg gefunden, dem Orakel ein Schnippchen zu schlagen, als das Baby in eine hölzerne Kiste zu packen und auf hoher See auszusetzen. Er hätte dem Balg den Kopf abschlagen lassen, und damit hätte es sich gehabt. Und doch war es vielleicht nicht unklug, sich vom Hochzeitsbett fernzuhalten.
Aber Laios war ein Mann, Wein war Wein, und Iokaste war schön. Am Morgen nach einem prächtigen Fest erinnerte er sich kaum noch daran, eine äußerst leidenschaftliche Nacht mit ihr verbracht zu haben, doch als sie ihm neun Monate später einen Sohn schenkte, begann er das Dilemma von Akrisios zu verstehen. Seinen eigenen Sohn zu töten würde die wütenden Furien auf den Plan rufen. Er saß auf dem Thron und zupfte sich am Bart. Schließlich ließ er seinen treuesten Diener, ANTIMEDES, kommen.
»Nimm dieses Baby und lege es auf die Bergspitze des Kithairon.«
»Ja, Herr.«
»Und, Antimedes, um sicherzugehen, bindest du ihn am Hang fest. Ich will nicht, dass er herumkrabbelt, hast du verstanden?«
Antimedes verbeugte sich und tat, wie ihm aufgetragen wurde. Er durchbohrte die Fußknöchel des Babys mit eisernen Krampen und verband sie mit einem Haken, den er tief in den Fels schlug. Es dauerte nicht lange, bis ein Schafhirt namens PHORBAS auftauchte, angezogen vom lauten Babygeschrei.
»Oh meine guten Götter«, rief er aus, zerschmetterte die Fesseln mit einem Felsbrocken und nahm das brüllende Kind auf den Arm. »Wer macht denn so etwas Furchtbares?«
Das Baby schrie und schrie.
»Pst, Kleines. Nicht gut, wenn ich dich behalte. Einfache Leute vom Land gehen so nicht mit Babys um. Nur ein großer, mächtiger Herrscher kann so etwas Grausames tun. Nein, nicht gut, wenn ich dich behalte.«
Zufällig hatte Phorbas Besuch aus Korinth von einem befreundeten Schäfer namens STRATON. Dieser nahm den Findling gerne mit zu sich nach Hause.
Zurück in Korinth zeigte Straton das Baby dem König und der Königin POLYBOS und MEROPE. Lange schon kinderlos, adoptierten sie den Kleinen und zogen ihn auf wie ihren eigenen Sohn. Nach den Narben, die die Fesseln an seinen Knöcheln verursacht hatten, nannten sie ihn Ödipus, was so viel wie »geschwollener Fuß« bedeutet.
Und so wuchs Ödipus weit entfernt von Theben und ohne die geringste Ahnung von seiner Herkunft auf. Sein Leben wäre vermutlich wie das eines jeden anderen attraktiven, intelligenten, stolzen und noch dazu von den Eltern so verwöhnten Prinzen verlaufen, wäre da nicht die Boshaftigkeit eines Trinkkumpans gewesen, der immer schon eifersüchtig auf Ödipus’ Beliebtheit und lässige Überlegenheit gewesen war. Eines Abends wurde der junge Mann schier verrückt angesichts der vielen Frauen, die sich um Ödipus bemühten.
»Die sind nur hinter dir her, weil sie meinen, du wärst ein Prinz«, platzte er im Vollrausch heraus.
»Nun«, sagte Ödipus lächelnd. »Ich weiß, dass es ungerecht ist, aber zufälligerweise bin ich ein Prinz, und daran lässt sich wohl kaum etwas ändern.«
»Das denkst du vielleicht«, stichelte der Freund. »Bist du aber nicht.«
»Wie bitte?«
»Du bist ein Bauernbastard, ein Waisenjunge, sonst nichts.«
Die anderen in der Gruppe versuchten ihn zum Schweigen zu bringen, aber Alkohol und Bosheit hatten ihn im Griff.
»Königin Merope war immer schon unfruchtbar, das weiß jeder. Unfruchtbar wie die libysche Wüste. Du bist adoptiert, Kumpel. Du bist genauso wenig Prinz wie ich. Wahrscheinlich sogar weniger. Frag deine sogenannten Eltern, wie du zu den Narben an deinen Füßen gekommen bist.«
Andere Freunde eilten herbei, um die Wogen zu glätten.
»Hör nicht auf ihn, Ödipus. Er weiß nicht, was er sagt. Du siehst doch, wie betrunken er ist.«
Aber Ödipus konnte nur zu gut die Angst in ihren Augen lesen. Nach einer schlaflosen Nacht ging er zum Königspaar, um sich zu vergewissern.
»Natürlich bist du unser Sohn! Wie kommst du darauf, dass dem nicht so wäre?«
»Die Narben an meinen Knöcheln?«
»Du warst eine Steißgeburt. Sie mussten dich mit einer Zange holen.«
Polybos und Merope waren so aufgebracht und empört, dass Ödipus ihnen glaubte. Fast glaubte. Es gab nur einen Weg, die Sache ein für alle Mal zu klären. Er machte sich auf den Weg nach Delphi.
Er wusste nicht, welche Antwort er auf seine schlichte Frage »Wer sind meine wahren Eltern?« erwartete, aber es war gewiss keine schlichte Antwort, die er erhielt.
Ödipus wird seinen Vater töten und mit seiner Mutter schlafen.
Mehr bekam er aus Pythia nicht heraus. Wie immer bei den Orakeln wurde jede weitere Frage mit Schweigen beantwortet.
Ödipus verließ Delphi wie benommen und nahm eine Straße, die ihn in die genau entgegengesetzte Richtung von Korinth führte. Er durfte Polybos und Merope nie wiedersehen. Das Risiko, Polybos etwas anzutun, war zu groß. Und was den zweiten Teil der Prophezeiung betraf … bei dieser Vorstellung wurde ihm körperlich übel. Er mochte seine Mutter sehr, aber so?
Eines war sicher, je größer die Entfernung, die er zwischen sich und Korinth legte, desto besser.
Ödipus fand langsam Gefallen an seiner Wanderschaft. Als Prinz von Korinth war er es gewohnt, stets in Begleitung von Dienern, Gefährten und Leibwächtern zu sein. Das Leben als freier, unbegleiteter Reisender hatte durchaus seine Vorteile. Es machte ihm Spaß, herauszufinden, wie weit er mit den wenigen Münzen in seiner Tasche kam. Er schlief unter Hecken, bot sich in jeder Stadt, in die er kam, als Gärtner, Lehrer, Barde, Bäckergehilfe oder sonst was an. Er hatte geschickte Hände, war flink auf den Beinen und besaß eine fabelhaft schnelle Auffassungsgabe. Kopfrechnen, Sprachen, Buchführung und das Auswendiglernen langer Poesiezitate – all dies bewältigte er dank seines höchst beweglichen Intellekts spielend.
Eines Nachmittags befand er sich nahe einem Dorf namens Daulis an der Kreuzung dreier Straßen. Während er sich noch den Kopf darüber zerbrach, welche Richtung er einschlagen sollte, sauste ein opulenter Wagen auf ihn zu. Der alte Mann, der ihn lenkte, erhob sich vom Sitz und versuchte ihn aus dem Weg zu scheuchen.
»Beweg dich, Bauer«, schrie er und ließ seine Peitsche knallen.
Das war mehr, als der stolze Ödipus ertragen konnte. Er schnappte nach der Peitsche, zog daran und zerrte den alten Mann vom Wagen herunter. Vier Bewaffnete sprangen vom Rücksitz auf und rannten schreiend auf ihn zu. Ödipus entwand einem das Schwert und tötete im anschließenden Kampf drei der Männer. Der vierte rannte davon. Als Ödipus sich hinabbeugte, um den Alten zu untersuchen, stellte sich heraus, dass sein Genick durch den Sturz gebrochen war.
Ödipus bedeckte die vier Leichen mit Erde und befahl ihre Seelen der Unterwelt an. Er spannte die Pferde aus, gab ihnen einen Klaps aufs Hinterteil und ließ sie davonpreschen.
Und wieder überlegte er, welchen Weg er einschlagen sollte. Im Geiste nannte er die Alternativen »Straße eins«, »Straße zwei« und »Straße drei«, dann brach er einen Ast vom nächstgelegenen Olivenbaum und zählte, während er die Blätter einzeln abpflückte. »Eins, zwei, drei … eins, zwei, drei … eins zwei, drei … eins, zwei! So soll es sein. Ich nehme Straße zwei.«
Was passiert wäre, hätte sich ein Blatt mehr – oder weniger – am Ast befunden, werden wir nie erfahren. Angelegenheiten von größter Wichtigkeit mögen von solchen Fragen abhängen, aber wir können nur Vermutungen darüber anstellen, wohin die Straßen führen, die wir nicht nehmen.
Gut gelaunt lief Ödipus Straße zwei entlang, und das war’s. Sein Schicksal war besiegelt.
Die Provinz Böotien, durch die Ödipus ging, war ein Land voller ansehnlicher Felder, freundlicher Täler und glitzernder Flüsse. Es stellte sich heraus, dass der Weg, für den er sich entschieden hatte, einen Bergpass hinan führte. Eine Stimme rief ihn.
»Würde nicht da langgehen, wenn ich du wäre.«
Ödipus wandte sich um und sah einen alten Mann, der sich auf einen Stock stützte.
»Nein? Warum nicht?«
»Der da ist der Berg Phikion.«
»Und?«
»Kennst du nicht die Geschichte mit der SPHINX?«
»Nein. Was ist eine ›Sphinx‹?«
»Ich bin ein armer Mann.«
Ödipus seufzte und drückte ein paar Münzen in die ausgestreckte Hand.
»Danke vielmals, Herr.« Der alte Mann röchelte und kniff die Augen zusammen. »Manche sagen, dass die Sphinx von der Königin des Himmels persönlich geschickt wurde, um König Laios zu bestrafen. Wenigstens von dem hast du schon gehört?«
Ödipus hatte im Klassenzimmer stets gut aufgepasst. Endlos hatte er Listen von doofen Provinzkönigen auswendig lernen müssen, von Prinzen und Stammesfürsten. »Laios, König von Theben, Sohn des Labdakos, Sohn des Polydoros, Sohn des Kadmos.«
»Genau der. Urenkel des Säers der Drachenzähne höchstpersönlich. Ehemann von Königin Iokaste und ein ganz mächtiger König und Herrscher.«
»Aber warum würde Hera ihn bestrafen wollen?«
»Ach, nun ja. Er vergewaltigte Chrysippos von Pisa, heißt es. Jedenfalls hat der Junge sich das Leben genommen.«
»Ich habe die Geschichte gehört. Aber das ist doch ewig her, oder?«
»Zwanzig Jahre oder mehr. Aber ist das den Göttern nicht gleich?«
»Und deswegen schickte sie diesen Sphinkter …?«
»Ha! Du bist gut. Sphinx, habe ich gesagt. Schreckliche Kreatur, Kopf von einer Sterblichen, aber der Körper von einem Löwen und die Flügel von einem Vogel. Mit der willst du dich nicht anlegen. Sie steht da oben auf dem Pass, genau dort, wo du hinwillst. Sie stellt sich allen Reisenden mit einem Rätsel in den Weg. Wenn du es nicht lösen kannst, stößt sie dich von den Felsen. Niemand hat das Rätsel bisher gelöst. Weder Verkehr noch Handel aus dem Norden kommen hier nach Theben durch. Wenn du dorthin willst, gehst du am besten um den Berg herum.«
»Ich bin gut bei Rätseln«, sagte Ödipus.
Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Siehst du die Bussarde, die in der Luft kreisen? Sie werden das Fleisch von deinen gebrochenen Knochen zupfen.«
»Oder von dem Sphinkter.«
»Sphinx, Junge. Das ist eine Sphinx, und vergiss das nicht.«
Ödipus ließ ihn kurzatmig schnatternd und spöttisch seufzend zurück und ging seines Weges.
Es stimmte, dass er gut bei Rätseln war. Er hatte eine ganz neue Art von Wortspiel erfunden, bei dem man die Buchstaben eines Wortes verschob, um daraus ein neues Wort zu bilden.225 Schon im Kindesalter war ihm die Idee gekommen, als man ihm die Geschichte von Python erzählte, der großen Schlange, die von Gaia – Mutter Erde – geschickt wurde, um Omphalos zu bewachen, den Kultstein der Griechen in Pytho, heute Delphi.226 Aufgeregt hatte Ödipus seiner Mutter erklärt, dass Typhon, ein weiteres von Gaias großen Ungeheuern, dieselben Buchstaben wie Python aufwies.
»Und Hera ist dasselbe wie ihre Rivalin Rhea!«, hatte er ausgerufen.
»Sehr gut, mein Lieber. Aber das bedeutet nichts.«227
Nein, er nahm an, dass es nichts bedeutete, aber es machte Spaß. Scherzfragen, Geduldspiele und Codes entzückten ihn immer und langweilten andere meistens. Und nun wurde seine intellektuelle Eitelkeit von einem Rätsel herausgefordert, bei dem es um Leben und Tod ging.
Der Bergpass wurde im Anstieg immer schmaler. Was die Bussarde betraf, hatte der alte Mann recht gehabt. Mit erwartungsvollem Geschrei zog ein volles Dutzend über ihm seine Kreise.
»Halt!«
Er blickte hoch und sah eine geflügelte Gestalt, die auf einem Felsvorsprung über ihm hockte. Sie sprang herunter und landete elegant auf dem Pfad vor ihm, indem sie ihre Flügel öffnete und wieder schloss.
Ein menschliches Gesicht, der Körper eines Löwen, genau wie der alte Mann gesagt hatte.228
»Guten Morgen, Herr«, sagte Ödipus.
»Herr? Herr? Bist du blind?«
»Verzeihung, ist schwer zu sagen. Ich bin mir noch nicht mal sicher, wo dein Gesicht ist und wo dein Arsch.«
»Oh, das wird ein Spaß, dir beim Sterben zuzusehen«, sagte die Sphinx, während ihr Löwenfell sich sträubte.
»Da kannst du lange warten«, gab Ödipus zurück. »In nächster Zeit habe ich das jedenfalls nicht vor. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, ich muss hier durch.«
»Nicht so schnell! Niemand kommt hier durch, ohne zuvor ein Rätsel gelöst zu haben.«
»Oh, verstehe. Das Rätsel, warum deine Mutter dich bei der Geburt nicht erwürgt hat? Nein?«
Die Sphinx, die sich selbst für ausnehmend schön hielt – was sie in der Tat auch war –, spuckte vor Wut. »Du wirst das Rätsel lösen oder sterben!« Sie wies auf die steil abfallende Klippe neben sich.
»Uah. Fies. Also dann mal los. Hab nicht den ganzen Tag Zeit. Muss vor Abend in Theben sein.«
Um Fassung ringend nahm die Sphinx Platz. Jemand wie Ödipus war ihr noch nie untergekommen.
»Sag mir, Reisender: Was läuft am Morgen auf vier Füßen, auf zwei Füßen zur Mittagszeit und auf dreien an Abend?«
»Hm … vier Füße am Morgen, zwei am Mittag, drei am Abend?«
»Beantworte einfach nur die Frage«, schnurrte die Sphinx, »und du kannst unbehelligt deines Weges ziehen.«
Ödipus zog scharf die Luft ein. »Menschenskinder«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Das ist eine schwierige Frage, das steht fest.«
»Ha! Du kannst sie also nicht lösen?«
»Doch schon.« Ödipus zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Hast du mich nicht gehört?«
Die Sphinx starrte ihn an. »Was meinst du damit?«
»Ich habe es dir gerade gesagt. ›Menschenskinder‹ habe ich gesagt. Und Mensch ist die Antwort. Wenn ein Mensch geboren wird, krabbelt er am Morgen seines Daseins auf allen vieren, in seiner Blütezeit, der Mittagzeit seines Lebens, geht er aufrecht auf zwei Beinen, und am Lebensabend hat er ein drittes Bein – einen Stock, der ihm beim Gehen hilft.«
»A… aber … wie …?«
»Man nennt es ›Intelligenz‹. Und jetzt habe ich eins für dich. Lass sehen … Was hat das Gesicht einer Hexe, den Körper einer Sau, die Flügel einer Taube und das Hirn einer Erbse? Nein?«
Die Sphinx fuhr kreischend hoch, und bevor sie Zeit hatte, ihre Flügel zu öffnen, stürzte sie rücklings über den Felsvorsprung in die Tiefe. Mit Schreien der Begeisterung schossen die Bussarde hinab.
Ödipus ging seines Weges und stieg ebenfalls von Berg hinab, in seinem Fall allerdings deutlich schmerzloser.
Die Stadt Theben, durchzogen von den Wassern des Kopaïs-Sees, erstreckte sich unten im Tal. Unterwegs traf er auf Schafhirten, Ziegenherden und eine Truppe Soldaten, die alle bass erstaunt waren, dass jemand den Gebirgspass überquert hatte. Als er die Tore von Theben erreichte, hatte sich die Geschichte von der Niederlage der Sphinx schon überall in der Stadt verbreitet. Ödipus wurde von einer begeisterten Bevölkerung begrüßt, die ihn auf den Schultern hoch zum Palast des Herrschers Kreon trug.
»Du hast uns von einem ziemlich üblen Problem befreit, junger Mann«, sagte Kreon. »Diese Kreatur hat nicht nur eine wichtige Geschäftsstraße blockiert, ihre Anwesenheit ließ viele auch glauben, auf Theben liege ein Fluch. Andere Städte und Königreiche wollten keinen Handel mehr mit uns treiben. Meine Schwester, die Königin, möchte dir persönlich dafür danken.«
Königin Iokaste hieß den Helden mit einem süßen Lächeln willkommen. Ödipus lächelte zurück. Sie war ein paar Jahre älter als er, aber bemerkenswert schön.
»Sie sind in Trauer, Majestät«, sagte er mit einer tiefen Verbeugung und hielt ihre Hand etwas länger als angemessen.
»Mein Mann, der König«, erwiderte Iokaste. »Er wurde aus dem Hinterhalt angegriffen und von einer Bande Wegelagerer getötet. Mein Bruder Kreon herrscht seitdem.«
»Mein aufrichtiges Beileid.«
Was für eine ungemein attraktive Frau, dachte Ödipus. Was für ein ungemein attraktiver junger Mann, dachte Iokaste.
Ödipus blieb im königlichen Palast von Theben als Ehrengast. Für Kreon erwies er sich bald als unersetzlich. Seine Auffassungsgabe bei den Feinheiten von Handel, Besteuerung und Verwaltung erstaunte den Älteren. Iokaste war inzwischen verrückt nach seiner Gesellschaft. Sie spielten zusammen Spiele, sangen Lieder und schrieben Gedichte.
Eines Nachmittags ging Ödipus auf ein Wort zu Kreon.
»Es geht um deine Schwester Iokaste«, sagte er. Wir haben uns ineinander verliebt. Ich weiß, dass sie älter ist als ich, aber …«
»Mein lieber Freund!« Kreon nahm ihn freundlich bei der Hand. »Glaubst du, ich bin blind? Ich habe gleich gesehen, dass da etwas zwischen euch läuft. Eros hat seinen Pfeil in dem Moment abgeschossen, als ihr euch getroffen habt. Und Ödipus … wenn du die Königin heiraten solltest, nun ja, dann musst du der gekrönte König werden.«
»Herr, nicht einen Moment lang würde ich versuchen, Sie zu verdrängen …«
»›Verdrängen‹, papperlapapp! Und nicht ›Herr‹, sondern Bruder. Ein junger König ist genau das, was die Stadt braucht. Die Menschen lieben dich. Du wurdest uns von den Göttern geschickt, da gibt es keinen Zweifel.«
Und so heiratete Ödipus unter allgemeinem Jubel Iokaste und wurde in einer prächtigen Zeremonie auf der Kadmeia zum König von Theben gekrönt. Die Thebaner liebten Ödipus. Nach seinem großen Sieg über die Sphinx schien seine Ankunft der Stadt Glück gebracht zu haben.
Für Kreon und den Rat der Ältesten von Theben war der neue König überraschend modern. Ödipus beriet sich selten mit Priestern. Außer an den höchsten Feiertagen ließ seine Anwesenheit in den Tempeln zu wünschen übrig. Sein lässiger Umgang mit Gebet und Opfer war fast blasphemisch zu nennen, doch er war bemerkenswert energisch, effizient und effektiv. Er erstellte mathematische Tabellen und Listen zu fast allem, von Steuer bis Bevölkerungsstatistik, er erließ Gesetze zu Haushalt und Betriebsführung des Palastes, zu Justiz und Handel.
Das Geld von Steuern und Zöllen floss wie nie zuvor, wovon ein Teil für Schulen und Sportstätten ausgegeben wurde, für Asklepieia229 und Straßen. Sein Name für diese radikal neue Form der Regierung war Logokratie, »Herrschaft der Vernunft«. Alle Thebaner waren sich einig, dass sie seit ihrem großen Gründer Kadmos nie von einem weiseren König regiert worden waren.
König Ödipus und Königin Iokaste hatten vier Kinder, zwei Jungen, ETEOKLES und POLYNEIKES und zwei Mädchen, ANTIGONE und ISMENE. Sie waren eine glückliche Familie. Die blühende, wachsende Stadt wurde überall in Griechenland beneidet, und Außenstehende sagten eine lange und erfolgreiche Regentschaft voraus.
Und so hätte es kommen können, wäre da nicht der Ausbruch einer furchtbaren Epidemie gewesen.
Gerüchte wurden laut, dass eine Familie von einer Krankheit befallen worden war, an der alle nach einem Tag mit hohem Fieber und Erbrechen starben. Wie ein Schwelbrand breitete sich die Krankheit bald in den ärmeren Vierteln der Stadt aus, um schließlich überall in Theben als Lauffeuer zu lodern. Kaum ein Haushalt blieb verschont.
Die kühle Logik, die Ödipus angesichts des Übels an den Tag legte, wirkte nun unangemessen. Verängstigte Bürger strömten in die Tempel und bald war die Luft mit Opferrauch erfüllt. Bittschriften erreichten Ödipus, der sich an Kreon wandte.
»Ich muss schon sagen, dass mich das ratlos macht«, sagte Ödipus. »Da versuche ich den Leuten zu erklären, dass Seuchen ein Teil der ganz natürlichen Ordnung der Dinge sind, die sich im Lauf der Zeit von selbst erledigen werden, aber sie bestehen darauf, dass es sich um eine Art göttliche Strafe oder kosmische Vergeltung handelt.«
»Lass mich zum Orakel von Delphi reisen und sehen, ob es irgendeinen Rat bereithält«, schlug Kreon vor. »Schaden kann es nicht.«
Ödipus war skeptisch, willigte aber ein. Während Kreons Abwesenheit wurde Ismene krank und starb fast. Sie erholte sich immer noch, als Kreon mit grimmiger Miene zurückkehrte.
»Delphi war überfüllt«, berichtete er. »Wie ein gewöhnlicher Bürger musste ich Schlange stehen. Als ich endlich dran war, stellte ich der Pythia eine Frage: ›Warum muss Theben unter der Seuche leiden?‹«
»Nicht ›Wie werden wir sie los?‹«, frage Ödipus.
»Das kommt doch aufs selbe raus«, erwiderte Kreon. »Wie auch immer, das war Pythias Antwort: ›Theben wird erlöst, wenn der Mörder von König Laios gefasst wird.‹«
Iokaste rang nach Luft. »Aber das ist absurd. Laios wurde von Banditen ermordet!«
Ödipus dachte scharf nach. »Wenn es eine Bande war, muss einer von ihnen den tödlichen Schlag ausgeführt haben. Die Wahrheit kommt immer zutage, wenn man systematisch vorgeht, aber zuerst solltest du verkünden lassen, dass jeder, der es wagt, den Mörder von Laios zu beherbergen oder zu schützen, bestraft wird. Was den Mörder selbst betrifft – verflucht sei er. Er wird sich wünschen, nie geboren worden zu sein. Wir werden ihn aufspüren, jagen, und der Gerechtigkeit wird Genüge getan. Ich werde mich persönlich darum kümmern. So soll es verlautbart werden.«
»Sehr gut«, sagte Kreon. »Und dann gibt es immer noch Teiresias. Auf dem Heimweg habe ich die ganze Zeit über gedacht: ‚Warum haben wir nur nicht Teiresias konsultiert?‘«
»Der lebt noch?« Ödipus hatte vom großen Seher gehört. Jeder hatte vom großen Seher gehört. »Er muss uralt sein.«
»Jung ist er bestimmt nicht mehr, aber er ist noch bei Verstand. Wir können ihn kommen lassen.«
Boten wurden ausgesandt, um Teiresias zu holen. Ödipus war neugierig auf den Propheten, der durch die Hand der Götter so viel durchgemacht hatte. Als junger Mann hatte Teiresias den Zorn von Hera entfacht, die ihn daraufhin in eine Frau verwandelte. Sieben Jahre diente er in ihrem Tempel als Priesterin, bevor sie ihn wieder zum Mann machte. Dann hatte er das Pech, ihren Ärger erneut auf sich zu ziehen, und diesmal ließ sie ihn erblinden. Aus Mitleid beschenkte Zeus ihn mit der Gabe der Weissagung.230 Über Generationen hinweg hatten seine Weisheit und prophetischen Kräfte dem Königshaus von Theben gedient, nun aber lebte er zurückgezogen im Ruhestand.
Teiresias war nicht erfreut, mitten in der Nacht vor einen Mann geschleppt zu werden, der nur ein Viertel so alt war wie er. Das Gespräch lief nicht gut. Ödipus verlangte all die Ehrerbietung, die einem König zusteht, und ganz besonders einem Herrscher und Bezwinger der Sphinx, der das Schicksal von Theben und seiner Bewohner zum Besseren gewendet hatte. Stattdessen traf er auf missmutige Unverfrorenheit.
»Ich bin blind«, sagte Teiresias gestützt auf seinen langen Stab. »Aber du bist es, der nichts sieht. Oder vielleicht weigerst du dich nur. Wer andere verflucht, ist selbst fluchbeladen. Wer auf andere schaut, sollte auf sich selbst schauen.«
»Kein Wunder, dass Analphabeten und Leichtgläubige sich von deinem mystischen Gefasel und den unheilverkündenden Rätseln an der Nase herumführen lassen«, entgegnete Ödipus. »Ich allerdings nicht. Rätsel sind zufällig meine Spezialität.«
»Ich spreche nicht in Rätseln.« Teiresias fixierte den Blick aus seinen blinden Augen irgendwo oberhalb von Ödipus’ Kopf. »Ich rede Klartext. Wenn du den Verursacher der Plage finden willst, dann schau in den Spiegel.«
Mehr konnte Ödipus nicht aus ihm herausbekommen, und er schickte ihn zurück in seine Landvilla. »Setzt ihn in den unbequemsten Wagen, den ihr finden könnt. Vielleicht kommt so wieder ein gerüttelt Maß Vernunft in seine alten Knochen.«
»Verflucht seien solche Leute«, sagte Ödipus später zu Iokaste, als er ihr von dem Gespräch erzählte. »Beim Orakel von Delphi wissen wir, dass es die Wahrheit spricht. Es untersteht Apollon und den uralten Kräften von Gaia höchstpersönlich. Aber Teiresias ist nichts weiter als ein Betrüger, voll von solchem Quatsch wie ‚Du findest die Wahrheit nie, aber die Wahrheit findet dich!‘ und ‚Versuche nicht, etwas zu wissen, sondern wisse, wo du suchst‘. Jeder kann das. Dreh einfach einen Satz von oben nach unten und von innen nach außen. Pferdemist. Bedeutungslos. Der muss mich wirklich für einen Idioten halten.«
»Pst«, machte Iokaste. »Trink einen Schluck Wein und beruhige dich.«
»Ah!« Ödipus drohte mit dem Finger, schloss die Augen und lieferte eine ziemlich gute Imitation von Teiresias ab. »Schlucke Wein, aber lass nicht zu, dass der Wein dich schluckt.«
Iokaste lachte. »Wie auch immer. Ich würde nicht zu sehr auf das Orakel von Delphi setzen. Es hat vorhergesagt, dass Laios von seinem Sohn getötet würde, nicht von einer Räuberbande.«
»Ja, ich wollte dich immer schon nach seinem Tod fragen«, sagte Ödipus. »Wenn er und seine Leute allesamt getötet wurden, wie können wir dann etwas über die Bande herausfinden, die das getan hat?«
»Oh, sie wurden nicht alle getötet. Antimedes, einer von Laios’ Dienern, konnte entkommen. Er rannte zurück nach Theben, um zu berichten, was geschehen war.«
»Und was genau hat er gesagt?«
»Es war ein Hinterhalt. Da waren mehr als ein Dutzend von ihnen, alle mit Schwertern und Keulen bewaffnet. Sie tauchten an einer Stelle auf, wo drei Straßen aufeinandertreffen. Sie zogen Laios aus seinem Wagen …«
Ödipus starrte sie an. »Sag das noch einmal.«
»Sie zogen ihn aus seinem Wagen …«
»Nein, das davor. ›Wo drei Straßen aufeinandertreffen‹?«
»So hat Antimedes es erzählt.«
»Wo ist dieser Antimedes jetzt?«
»Er lebt in der Nähe von Ismenos, glaube ich.«
»Und ist er verlässlich?«
»Mein Mann hat ihm mehr vertraut als jedem anderen Diener.«
»Er soll herbeigeschafft werden.«
Ödipus dachte scharf nach. Ein alter Mann, der an einer Kreuzung dreier Straßen aus einem Wagen gezerrt wurde. Ein Zufall, gewiss. Schließlich hatte dieser Antimedes eine bis an den Hals bewaffnete Mörderbande beschrieben, nicht einen unbewaffneten jungen Mann. Und dennoch war es verstörend.
Ungeduldig die Ankunft von Antimedes erwartend, lief er im Palast auf und ab. Die Seuche forderte weiterhin täglich Dutzende von Opfern.
»Ohne weitere Informationen kann ich das nicht lösen«, sagte er sich. »Ohne frische Fakten dreht das Gehirn durch wie ein Rad im Matsch.«
Am nächsten Morgen saß Ödipus neben Iokaste, als ein Diener vortrat.
»Ein Bote, Herr.«
»Neuigkeiten von Antimedes?«
»Nein, Majestät, dieser Mann kommt aus Korinth.«
»Kann das nicht warten?«
»Er sagt, es sei dringend, Herr.«
»Also gut, dann schicke ihn rein.«
»Korinth«, sagte Iokaste, als der Page sich zurückzog. »Bist du da nicht groß geworden?«
»Ja, ich habe seit Jahren nicht an die Stadt gedacht. Nun, was führt dich hierher?«
Ein wettergegerbter, sonnenverbrannter alter Mann war eingetreten und verbeugte sich tief. »Großer Herrscher.«
»Ja, ja«, erwiderte Ödipus und musterte ihn überrascht. »Du siehst erschöpft aus.«
»Ich bin zu Fuß gekommen, Herr.«
»Ich weiß nicht, wer dich als Boten auserkoren hat, aber es war nicht nett, jemanden in deinem Alter auf eine so lange Reise zu schicken. Ich hoffe, du wirst bleiben und dich ausruhen, bevor du heimkehrst.«
»Wie fürsorglich und freundlich«, sagte der Bote. »Was die Reise anbetrifft, habe ich selbst darum gebeten, zu Ihnen zu kommen.«
»Tatsächlich?«
»Ich wollte den berühmten König Ödipus mit eigenen Augen sehen.«
Ödipus, nicht unempfänglich für Schmeicheleien, lächelte. »Wie die Königin dir bestätigen wird, bin ich nur ein einfacher Mann.«
»Nicht doch, mein Lieber.« Iokaste lächelte den Boten an. »Deine Nachricht soll dringend sein, hat man uns gesagt. Nimm Platz und berichte uns.«
»Ich stehe lieber, Majestät«, entgegnete der Bote und schlug den angebotenen Stuhl aus. »Die Kunde, die ich bringe, ist traurig. Ihr Vater, König Polybos …«
»Was ist mit ihm?«
»Der Lauf seines Lebens ist beendet.«
»Tot?«
»Es trifft uns alle, Herr. Sein Leben war lang und gesegnet.«
»Wie ist er gestorben?«
»In seinem Bett. Königin Merope hielt seine Hand bis zuletzt. Er war weit über achtzig Jahre alt. Seine Zeit war gekommen.«
»Ha!«, sagte Ödipus und klatschte in die Hände. »So viel zum Thema Orakel. Schau nicht so entsetzt«, fügte er schnell hinzu. »Die Nachricht vom Tod meines Vaters erfüllt mich mit Trauer. Er war ein guter Mann und ein weiser König.«
Iokaste drückte seine Hand und murmelte etwas von Anteilnahme.
»Darf ich hoffen«, fragte der Bote, dass Ihre Majestät mit mir zu den Begräbnisfeierlichkeiten nach Korinth zurückkehrt? Und dass Sie den Thron besteigen? Königin Merope ersehnt dies.«
»Wie geht es meiner Mutter?«
»Voller Gram wegen des Todes ihres Mannes, aber auch wegen des Verlustes ihres Sohnes. Der junge Mann, der eines Tages wegging und nie zurückkehrte.«
»Ich habe ihr viele Male geschrieben«, sagte Ödipus. »Aber es gibt gewisse Gründe, warum ich Korinth nie wieder betreten kann.«
»Das Volk sehnt sich nach Ihnen, Majestät.«
»Es spricht doch sicher nichts dagegen, dass du in Theben und Korinth herrschst«, meinte Iokaste. »Doppelherrschaften hat es schon immer gegeben. Schau dir Argolis an. Es wäre herrlich, wenn du über zwei große Städte regieren würdest.«
»Nicht, solange meine Mutter lebt«, sagte Ödipus.
Iokastes verdutzte Miene verlangte nach einer Erklärung.
»Da wir eben über Orakel gesprochen haben, solltest du wissen: Als ich jung war, habe ich Delphi besucht, und mir wurde gesagt, dass es mein Schicksal wäre, meinen Vater zu töten und … das Bett mit meiner Mutter zu teilen. Der Teil über die Ermordung meines Vaters trifft offensichtlich nicht zu, aber ich kann nicht riskieren, nach Korinth zurückzukehren und womöglich den zweiten Teil der Prophezeiung zu erfüllen. Kannst du dir etwas derart Abstoßendes vorstellen?«
»Aber du sagst immer, dass die Vernunft ein besserer Ratgeber ist als jede Prophezeiung.«
»Ich weiß, ich weiß, und die Vernunft sagt mir, dass das alles Nonsens ist. Doch auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass dies wahr werden könnte, unvorstellbar gering ist, bleibt das Verbrechen selbst so unvorstellbar monströs, dass ich lieber alles tue, um es zu vermeiden.«
»Aber Herr, Herr!« Der Bote versetzte sie beide in Erstaunen, weil er herumhüpfte, in die Hände klatschte und vor Freude strahlte. »Vergebt mir, aber ich habe wunderbare Neuigkeiten, die Ihnen alle Sorgen nehmen werden. Vor einem solchen Verbrechen sind Sie ganz und gar gefeit, denn Merope ist nicht Ihre Mutter!«
»Nicht meine Mutter?« Ödipus starrte ihn an. Seine Gedanken gingen zu diesem betrunkenen Tölpel zurück, der ihn vor Jahren zum Gang nach Delphi aufgestachelt hatte: »Du bist genauso wenig ein Prinz wie ich … du wurdest adoptiert, Kumpel.«
»Nein Herr«, sagte der Bote. »Ich kann das erklären. Wer sonst? Es gibt einen guten Grund dafür, warum ich derjenige sein wollte, der Ihnen die Nachricht von König Polybos’ Tod überbringt, warum ich vor Ihnen stehen und Sie betrachten wollte. Sehen Sie, ich bin derjenige, der Sie gefunden hat.«
»Wie, mich gefunden? Erkläre dich.«
»Mein Name ist Straton, Herr, und früher war ich Schäfer. Vor vielen Jahren habe ich Phorbas besucht, einen Hirten, der sich um eine Herde am Berg Kithairon kümmerte, an der Grenze zu Attika. Eines Nachmittags hatte Phorbas etwas Schreckliches beobachtet. Ein Baby wurde ausgesetzt, um auf dem Berg zu sterben.«
Iokaste stöhnte auf.
»Ja, Majestät. Nun, Sie dürfen ruhig aufschreien, denn dieses arme Kind war gefesselt worden. Mit Krampe und Haken an den Felsen. Durch die Fußknöchel gebohrt.«
Iokaste umklammerte den Arm ihres Mannes. »Hör nicht hin, Ödipus. Nicht hinhören! Geh weg! Verlass uns. Diese Geschichte ist erfunden. Wie kannst du es wagen, uns so ekelhafte Lügen aufzutischen?«
Ödipus stieß Iokaste zur Seite. »Bist du verrückt? Das wollte ich mein Leben lang wissen. Erzähl weiter …«
Lauthals schreiend rannte Iokaste aus dem Raum. Ödipus achtete nicht darauf, sondern hielt Straton an seiner Tunika fest: »Dieses Baby, was geschah mit ihm?«
»Phorbas gab es mir, damit ich mich kümmere. Als es Zeit war, nach Korinth zurückzukehren, habe ich es mitgenommen. König Polybos und Königin Merope hörten davon und fragten, ob sie es haben könnten. Ich habe es gern übergeben … Sie …«
»Mich? Ich war das Baby?«
»Niemand sonst, Herr. Die Götter haben Sie in meine Hände gelegt und nach Korinth geführt. Die Wunden an Ihren Knöcheln heilten und Sie wuchsen zu einem guten Jungen heran, einem edlen Prinzen. Ich war immer stolz auf Sie, so stolz.«
»Aber wer sind meine wahren Eltern?« Ödipus’ Hand krallte sich so fest in Stratons Tunika, dass er den alten Mann fast erwürgte.
»Das habe ich nie erfahren, Herr! Niemand weiß das. Es können keine guten Leute gewesen sein, denn sie haben Sie an einen Fels gekettet und ausgesetzt, um zu sterben.«
»Und was ist mit deinem Freund? Könnte er mein Vater sein?«
»Phorbas? Nein, Herr. Oh nein. Er ist ein lieber Mann. Wer immer Sie angekettet hat, war es nicht wert, Eltern genannt zu werden. Sie haben etwas Besseres verdient, und die Götter haben sich darum gekümmert, dass es Ihnen gut geht. Sie haben Phorbas zu Ihnen geschickt und mich zu Phorbas. Jetzt kommen Sie mit mir zurück nach Korinth, mein Junge, und herrschen dort als unser König.«
Ödipus ließ ihn los. Es stimmte, dass er nun sicher nach Korinth zurückkehren konnte. Er hätte niemals fortzugehen brauchen. Aber er musste wissen, wer er war. Wer hatte ihn einem so grausamen Tod überlassen wollen? Warum war er so ungewollt?
Ödipus klatschte in die Hände und rief nach einem Diener.
»Begleite diesen netten alten Herrn in die Küche und gib ihm gut zu essen. Finde ein Zimmer für ihn, damit er sich ausruhen kann.« Er wandte sich wieder an Straton. »Ich werde nach dir rufen lassen, wenn ich das alles durchdacht habe.«
Der Diener verbeugte sich. »Und ich soll sagen, dass Antimedes aus Ismenos eingetroffen ist und zur Verfügung steht.«
Verdammt. Ödipus war sich nicht sicher, ob er Antimedes nun sehen wollte. Er war viel mehr daran interessiert, die Wahrheit über seine Geburt und seine Aussetzung auf dem Kithairon herauszufinden. Dennoch hatte Antimedes vielleicht Informationen, die aufklären konnten, wer Laios getötet hatte. Weil die Seuche immer noch in Theben grassierte, durfte er diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen. Abgesehen davon war er Ödipus. Er konnte zehn verschiedene komplexe Untersuchungen gleichzeitig durchführen, wenn er es sich in den Kopf gesetzt hatte.
»Schick ihn rein.«
Warum war Iokaste jammernd weggerannt? Das Bild eines Babys, dessen Knöchel von eisernen Fesseln durchbohrt werden, musste sie stark mitgenommen haben. Frauen waren so. Nun gut.
Ah, das muss Antimedes sein, sagte Ödipus sich.
Durchtrieben aussehendes Individuum. Schaut einem nicht in die Augen. Hat Angst vor irgendwas.
»Tritt vor, Antimedes, und sag mir die Wahrheit, was an dem Tag passiert ist, als Laios getötet wurde.«
»Ich habe das schon hundertmal erzählt«, grummelte Antimedes und stierte zu Boden. »In deinen Archiven dürfte es einen Bericht darüber geben, oder nicht?«
»Noch so eine mürrische Antwort, und ich lasse dich trotz deiner weißen Haare auspeitschen«, zischte Ödipus. »Ich will die Geschichte aus deinem Mund hören. Schau mir in die Augen und sag mir, was passiert ist. Wenn du lügst, werde ich es merken. Und der Tod von Hunderten von Thebanern wird auf deinem Gewissen lasten.«
Antimedes starrte ihn an. »Wie kann das sein?«
»Das Orakel hat uns gesagt, dass die Seuche, die unsere Leute hinwegrafft, von den Göttern gesandt wurde, weil der Mörder von Laios unter uns lebt und das Königreich verpestet.«
»Nun, das stimmt allerdings«, sagte Antimedes, während er den Blick nicht von Ödipus wandte. »Der Mörder ist hier in Theben.«
»Stimmt das?« Ödipus’ Augen blitzten vor Aufregung.
»Der Mörder von Laios befindet sich in diesem Raum.«
»Ah!« Ödipus wurde ernst. »Schön, dass du ehrlich bist. Erzähle mir alles wahrheitsgetreu, und es kann gut sein, dass ich dich als Bestrafung nur ins Exil schicke. Wie kam es, dass du den König getötet hast?«
Antimedes lächelte verkniffen. »Ich werde dir genau erzählen, was geschehen ist, mein König«, sagte er, und so, wie er die letzten beiden Wörter betonte, klang es in Ödipus’ Ohren äußerst beleidigend. »Wir waren auf Reisen, König Laios, seine drei Leibwächter und ich. Kurz vor Daulis kamen wir an eine Stelle, wo drei Straßen aufeinandertreffen … Da stand so ein Trampel von Landstreicher mitten im Weg.«
»Aber ihr seid doch von einer Bande überfallen worden?« Ödipus’ Herz fühlte sich an, als wäre es von einer eiskalten Hand ergriffen worden, und er zitterte am ganzen Leib.
»Du wolltest die Wahrheit, und nun sage ich sie dir. Es war ein einzelner Reisender, ein junger Mann, der aussah, als wäre er schon viele Monate unterwegs. Laios scheuchte ihn weg. Der Mann griff nach seiner Peitsche und zog ihn aus dem Wagen wie ein Fischer, der einen Fisch an der Angel hat. Die Leibwächter sprangen aus dem Wagen … Aber warum erzähle ich dir das? Du weißt das doch.«
In seinem Seelenschmerz wollte Ödipus alles hören. »Mach weiter«, sagte er.
»Du hast einem von ihnen das Schwert entrissen und alle drei damit getötet.«
»Und du bist weggerannt …«
Antimedes verbeugte sich. »Und ich bin weggerannt. Aber warum musstest du danach den König töten?«
»Das habe ich nicht. Es war … er war tot, als er auf den Boden fiel. Er brach sich das Genick. Ich wollte nicht, dass er stirbt. Er hat angefangen mit seiner Peitsche.«
»Wie du meinst«, sagte Antimedes. »Nun, ich habe mich nach Theben aufgemacht und, ja, ich habe ihnen erzählt, dass eine Bande uns überfallen hat. Vielleicht war es mir peinlich, dass ich weggelaufen bin, peinlich, dass wir alle von einem einzigen unbewaffneten Mann ausgeschaltet wurden.«
Ödipus war der Mann, der Laios getötet hatte. Ödipus hatte den Mörder von Laios mit einem Fluch belegt. Ein Fluch, der ihn nun selbst traf.
»Und dann?«
»Weiter nichts. Ich habe Theben verlassen. Ich wollte nicht unter Kreon dienen. Meine Loyalität galt stets Laios und Iokaste. Als ich hörte, dass ein junger Mann nun anstelle von Laios herrschte – du –, dachte ich, man hätte am Ende vielleicht seinen Sohn gefunden, aber dann erfuhr ich, dass du die Königin geheiratet hast, und wusste, dass das nicht sein konnte.«
»Sein Sohn?«, sagte Ödipus. »Aber Laios und Iokaste hatten keine Kinder.«
»Ah, das hat sie dir gesagt, ja? Sie hatten einen Sohn, aber sie konnten ihn nicht behalten.«
»Was sagst du da?« Ödipus packte Antimedes bei der Schulter und schüttelte ihn. »Was sagst du da?«
»Dann kann ich gleich alles beichten«, sagte Antimedes. »Ich werde nicht mehr lange leben und möchte den Richtern der Unterwelt nicht mit einer befleckten Seele gegenübertreten. Das Orakel warnte Laios, dass er von einem seiner Söhne getötet werden würde. Als Iokaste also einen Sohn zur Welt brachte, übergab er ihn mir und bat mich, ihn am Berghang des Kithairon anzuketten und … oh, bei den Göttern!«
Laute Schreie kamen aus einem anderen Teil des Palastes. In dem Moment, als Straton erzählte, wie er den kleinen Ödipus vom Kithairon nach Korinth mitgenommen hatte, hatte Iokaste die schreckliche Wahrheit erkannt und sich das Leben genommen. Ödipus folgte den Schreien bis in ihr Schlafzimmer und fand sie dort tot vor. Sie baumelte an der Zimmerdecke, die weinenden Töchter zu ihren Füßen. Er schickte sie aus dem Zimmer.
– Alles war nun klar. Er war der Mörder von Laios und hatte die Seuche über Theben gebracht. Das war schon schrecklich genug, doch jetzt wusste er, dass alles noch viel schlimmer war, düsterer und gänzlich unerträglich. Laios war sein Vater gewesen. Er hatte seine Mutter Iokaste zur Frau genommen und vier Kinder mit ihr gezeugt. Er hatte in aller Öffentlichkeit nach dem Mörder gesucht und sich damit gebrüstet, ihn zu finden, war aber – wie der blinde Teiresias ihn gewarnt hatte – zu blind, zu sehen. Die Seuche, das war er.
Er wollte sich umbringen, aber wie konnte er das? Angenommen, er träfe auf seine Mutter-Frau Iokaste in der Unterwelt? Und der Vater, den er getötet hatte? Das könnte er nicht ertragen. Noch nicht, zumindest. Nicht, bevor er für seine unaussprechlichen Untaten bestraft worden war.
Er griff nach oben, zog die langen, goldenen Broschennadeln aus Iokastes Kleid und stach sich damit die Augen aus.
Wenn die vorhergehende Szene sich wie etwas aus einem Drama anhört, liegt es daran, dass ich lose – manche mögen meinen, zu lose – dem Erzählfaden von Sophokles’ Drama König Ödipus231 folge, wahrscheinlich die bekannteste aller griechischen Tragödien. Wie bei sämtlichen Mythen variieren die Fassungen, aber die Version von Sophokles ist diejenige, die am häufigsten erzählt wird.
Kreon übernahm den Thron und der blinde Ödipus humpelte232 freiwillig ins Exil, seine treue Tochter Antigone an seiner Seite. Zwei weitere Dramen, Ödipus auf Kolonos und Antigone, runden ab, was als Sophokles’ »Thebanische Trilogie« bekannt ist. Sie erzählen die nachfolgenden Episoden im Leben von Ödipus und seiner Familie. In Ödipus auf Kolonos wird der blinde König von Teiresias betreut und stirbt in Athen, nachdem er den Ort seines Todes gesegnet und erklärt hat, dass den Bewohnern Athens in jedem zukünftigen Krieg mit Theben der Sieg gewährt wird.
Die zwei großen Rivalen233 von Sophokles, Aischylos und Euripides, konnten ebenfalls der Versuchung nicht widerstehen, diese verführerische und fesselnde Geschichte zu dramatisieren. Aischylos schrieb seine eigene Thebanische Trilogie, die aus drei separaten Trilogien besteht: Laios und Ödipus sind verloren, aber Sieben gegen Theben (das den Kampf zwischen Ödipus’ Söhnen Eteokles und Polyneikes um den Thron von Theben nach dem Tod ihres Vaters erzählt) ist erhalten geblieben. Weil das Stück mit seinen überladenen Dialogen als schwerfällig und dramaturgisch schwach gilt, wird es selten aufgeführt.234
Der überbordend produktive Euripides schrieb einen Ödipus, der als verloren gilt,235 während seine Phoenikerinnen dieselben Ereignisse behandelt, die Aischylos in Sieben gegen Theben verarbeitet. Manche vermuten, dass im Ödipus von Euripides Iokaste nicht Selbstmord begeht und Ödipus sich nicht selbst blendet, sondern dass ihm durch königstreue Thebaner, die ihren Laios rächen, die Augen ausgestochen werden.
In anderen Versionen des Mythos heiratet Ödipus Iokaste, hat aber keine Kinder mit ihr. Nachdem er die Wahrheit erfahren hat, trennt er sich von ihr und heiratet EURYGANEIA (die vielleicht Iokastes Schwester war) und hat mit ihr vier Kinder. In diesen Versionen sind Eteokles, Polyneikes, Antigone und Ismene nicht mit Inzest beschmutzt.
Wie auch immer sie gezeugt wurden, so erzählt uns der Hauptstrang der Geschichte, dass seine Söhne Eteokles und Polyneikes, nachdem Ödipus ins Exil gegangen ist, den Thron von Theben einnehmen, indem sie abwechselnd jeweils ein Jahr lang regieren. Wie Brüder nun einmal sind, geht das natürlich schief. Eteokles weigert sich den Thron aufzugeben, als sein Bruder an der Reihe ist. Wutschnaubend stürmt Polyneikes nach Argos, um dort eine Armee zusammenzustellen, die von sieben Recken geführt wird, den sogenannten Sieben gegen Theben, aber sie kommen bei einem verpfuschten Sturm auf die Stadtmauern um. Polyneikes und Eteokles töten einander im Kampf, und Kreon wird nun rechtmäßiger König. Er befiehlt, dass der Leichnam von Polyneikes, den er als Verursacher des brüderlichen Zwistes sieht, nicht ehrenvoll begraben werden darf.
Antigone, bestürzt, weil der Seele ihres Bruders die angemessene Ruhe verweigert wird, versucht den Leichnam zu bedecken, wird dabei aber erwischt. Kreon verurteilt sie wegen ihres Ungehorsams zum Tode und verfügt, sie lebendig in eine Grabkammer zu sperren. Obwohl er in der letzten Minute seine Meinung ändert und befiehlt, sie freizulassen, ist es zu spät. Sie hat sich erhängt.
Am Ende von Sophokles’ Dramatisierung dieses Mythos haben sowohl Antigone als auch Kreons Sohn Haimon Selbstmord begangen. Als sie davon erfährt, bringt sich auch Kreons Frau EURYDIKE um. Der Fluch, der auf dem königlichen Haus von Theben lag, war unbarmherzig und schien die Griechen unendlich zu faszinieren.
Siegmund Freud sah im Ödipus-Mythos den Beweis für seine Theorie, dass kleine Jungen sich nach einer engen und ausschließlichen Beziehung zu ihren Müttern sehnen, unbewusst auch einer sexuellen, und dass sie ihre Väter dafür hassen, diese perfekte Mutter-Sohn-Verbindung zu stören. Es ist eine vielbeachtete Ironie, dass Ödipus derjenige mit dem geringsten Anspruch auf einen Ödipuskomplex ist. Er verließ Korinth, weil die Vorstellung vom Sex mit seiner (vermeintlichen) Mutter Merope ihn abstieß. Nicht nur begehrte er Iokaste als Erwachsener (und das inzestuöse Element beruhte vollkommen auf Unwissen), all dies erfolgte auch nach der Ermordung seines Vaters Laios, die ebenfalls zufällig geschehen war und in keiner Beziehung zu irgendwelcher kindlicher sexueller Eifersucht stand, was Freud aber nicht weiter zu stören schien.
Abgesehen von seinem Zusammentreffen mit der Sphinx gibt es wenig, was Ödipus mit den anderen griechischen Heldenfiguren gemein hat. Heute kommt er uns vor wie ein moderner tragischer Held oder ein besessener Politiker. Schwer vorstellbar, dass er Herakles die Hand schüttelt oder der Mannschaft der Argo beitritt. Viele Wissenschaftler und Denker, insbesondere Friedrich Nietzsche in Die Geburt der Tragödie, sehen in Ödipus eine Figur, die als vernunftbegabter, gebildeter Bürger und gesetzloser Krimineller zugleich das Wesen der Athener (und unser aller) in seiner spannungsreichen Gegensätzlichkeit ausagiert: Verstand versus Instinkt, Über-Ich versus Es, apollinisch versus dionysisch. Ödipus ist ein Detektiv, der sich sämtlicher Instrumente bedient, auf die die Athener so stolz waren – Logik, Mathematik, Rhetorik, Ordnung und Forschergeist –, nur um eine Wahrheit ans Licht zu bringen, in der Chaos, Niedertracht, Gesetzlosigkeit und Barbarei vorherrschen.