Es ist der Archetyp der Kinderbücher, der Bücher für junge Erwachsene und – machen wir uns nichts vor – für Möchtegern-Erwachsene wie wir. Ein mysteriös abwesender Vater. Eine liebende Mutter, die dich ermutigt zu glauben, du seiest etwas Besonderes. Der Auserwählte. »Du bist ein Zauberer, Harry!« Dieses Zeugs.
Die Geschichte geht so:
Du wächst im Stadtstaat Troizen, einem Kaff auf der nordöstlichen Peloponnes auf. Deine Mutter ist Aithra, die Tochter des örtlichen Königs PITTHEUS.236
Du bist Mitglied eines Königshauses und doch wirst du anders behandelt, weil du keinen Vater hast.
Wer ist – oder war – er?
Deine Mutter gibt sich bei diesem Thema ärgerlich ausweichend.
»Vielleicht ist er ein großer König.«
»Größer als Großvater Pittheus?«
»Vielleicht. Aber vielleicht ist er auch ein Gott.«
»Mein Vater ist ein Gott?«
»Wer weiß das schon so genau?«
»Nun, ich bin schneller und stärker als alle anderen Jungen. Klüger auch, besser aussehend.«
»Du bist nicht in allem gut, Theseus.«
»Bin ich doch. Worin soll ich nicht gut sein?«
»Bescheidenheit.«
»Pah! Ehrlichkeit ist wichtiger.«
»Lass uns einfach sagen, Unbescheidenheit ist ziemlich unattraktiv. Deinem Vater würde das sicher nicht gefallen.«
»Welchem Vater? Dem König der Götter?«
Und so begleitet das Necken und freundliche Piesacken deinen Wachstumsprozess vom angeberischen Knirps bis zum stolzen Kind.
Eines glücklichen Tages erscheint dein Cousin Herakles im Palast. Über einen Vorfahren namens Pelops237 ist er mit deiner Mutter verwandt. Seit du zum ersten Mal den Geschichten von seinen außerordentlichen Abenteuern gelauscht hast, war er dein Held. Die Ungeheuer, die er erschlagen hat, die Taten, die er vollbracht hat. Seine Kraft. Sein Mut. Bei seiner Ankunft schmeißt er ein Löwenfell vor den Kamin. Das Fell des Thespischen Löwen, die erste seiner großen Eroberungen.238 Alle anderen Kinder im Palast rennen schreiend weg. Du bist erst sechs, aber du läufst hin und greifst dem Löwen in die Mähne. Du wälzt dich schreiend mit ihm über den Boden. Du versuchst ihn zu erwürgen. Ein lachender Herakles hebt dich hoch.
»Hier ist ein kleiner Kerl ganz nach meinem Herzen. Wie ist dein Name, Kupferkopf?«
»Theseus, bitte«
»Nun, Theseus Bitte. Du willst also ein Held werden?«
»Oh ja, Cousin, ganz bestimmt.«
Und er lacht und setzt dich auf dem Löwenfell ab, und du weißt, dass es dein Schicksal ist, obwohl du noch nicht genau weißt, was es bedeutet, ein Held zu werden.
An deinem zwölften Geburtstag nimmt deine Mutter dich bei der Hand und führt dich einen Pfad entlang zu einer Landspitze mit Blick über die ganze Stadt und die sie umgebende Landschaft. Sie weist auf einen großen Felsbrocken.
»Theseus, wenn du diesen Stein wegrollen kannst, dann erzähle ich dir alles über deinen Vater.«
Du springst gegen den Felsen. Du schiebst mit durchgedrückten Armen, du drehst dich um und drückst mit deinem Rücken. Du hievst, du schreist, du rennst um den Brocken herum, aber schlussendlich fällst du erschöpft zu Boden. Der große Felsbrocken hat sich nicht einmal um die Breite deines kleinen Fingers bewegt.
»Also dann, mein kleiner Sisyphos, versuchen wir es nächstes Jahr wieder«, sagt deine Mutter.
Und von nun an geht ihr an jedem Geburtstag zu diesem Felsen.
»Ich glaube«, stellt deine Mutter ein paar Jahre später fest, »dass da so etwas wie ein Bart zu sehen ist, Theseus.«
»Das wird mir Kraft geben«, entgegnest du. »Diesmal ist es so weit.«
Aber es klappt nicht. Auch nicht im nächsten Jahr. Du wirst ungeduldig. Niemand läuft so schnell wie du, nicht einmal, wenn du ihm ein halbes Stadion Vorsprung gibst. Niemand kann einen Diskus oder Speer weiter werfen. Troizen scheint zu klein für deine Träume zu sein. Du weißt nicht genau, wonach du strebst, aber du weißt, dass du irgendwann die Welt bewegen wirst.
Du bist es fast schon leid, als du mit deiner Mutter an diesem einen Geburtstag den Berg hinauftrottest. Das mit dem Felsen ist nichts als Betrug. Er wird sich nie bewegen.
Aber du hast unrecht.
Theseus hatte nicht das Gefühl, dass er an diesem Geburtstag stärker war als im Jahr zuvor. Die Palastwachen scherzten, dass er inzwischen groß genug sei, einer der ihren zu werden. Er musste sich nun schon alle paar Tage rasieren. Der Bart war dunkler als seine Kopfhaare, die ein ungewöhnliches Rostrot aufwiesen. Als er jung war, fand er das schrecklich, aber nun hatte er sich daran gewöhnt. Ein Mädchen, das er mochte, hatte ihm gesagt, sie fände es attraktiv.
Ansonsten war er derselbe alte Theseus.
Doch diesmal bewegte der Felsbrocken sich! Er bewegte sich wirklich. Theseus hätte schwören mögen, dass es sich nicht um denselben Felsen handelte, aber das war Unsinn. Vielleicht war er nicht mehr derselbe Theseus. Er spannte seinen Körper an, stemmte seine Füße in den Erdboden und drückte. Mit fast komischer Leichtigkeit machte der Felsen eine komplette Drehung und rollte auf den Pfad, dann weiter.
»Soll ich ihn den Hügel hinabrollen lassen?«
»Nein, du kannst ihn lassen, wo er ist«, lächelte seine Mutter. »Er ist jetzt genau dort, wo er war, bevor dein Vater ihn an die Stelle gerollt hat, wo er sich achtzehn Jahre lang befand.«
»Aber was hat das alles zu bedeuten?«
»Grabe ein wenig im Boden und schau nach, was du findest.«
Das Gras war an der Stelle weiß, wo der Felsbrocken all die Jahre gelegen hatte. Theseus wühlte in der Erde, bis seine Finger etwas ertasteten. Er fand ein Paar Sandalen. Eine davon war ein wenig beschädigt, oder vielleicht von Käfern angefressen.
»Toll«, sagte er. »Genau das habe ich mir zum Geburtstag gewünscht, ein Paar Ledersandalen.«
»Grab weiter«, sagte seine Mutter und lächelte.
Er grub tiefer und seine Finger umklammerten etwas Kaltes, Metallisches. Er zog ein Schwert heraus, das wie Silber glänzte.
»Es gehörte deinem Vater, aber nun ist es deins.«
»Wer war er?«
»Setz dich auf die Böschung und ich erzähle es dir.« Sie klopfte auf das Gras. »Dein Vater war und ist König AIGEUS von Athen.«
»Athen!«
»Er hat zwei Mal geheiratet, aber keine der Verbindungen war mit Kindern gesegnet. Er hatte sich einen Sohn gewünscht und deswegen das Orakel von Delphi aufgesucht. Du weißt, wie merkwürdig die Verkündigungen sich anhören können, und diese war eine der merkwürdigsten.
Aigeus muss sich hüten, das vorstehende Ende des Weinschlauches zu öffnen, bevor er die Höhen von Athen erreicht hat, sonst wird er vor Kummer sterben.
»Was soll das heißen?«
»Genau. Nun ist aber Aigeus zufällig ein enger Freund von König Pittheus.«
»Großvater?«
»Von deinem Großvater, ja. Also machte Aigeus auf dem Heimweg von Delphi einen Umweg über Troizen, um zu fragen, ob Pittheus ihm vielleicht die Worte des Orakels erklären könne.«
»Und konnte er?«
»Nun ja, Theseus, man muss die Gerissenheit deines Großvaters bewundern. Er verstand die Prophezeiung. Er verstand sie genau. Das vorstehende Ende des Weinschlauches bedeutete, wie er es sah, Aigeus’ … Männlichkeit, um es einmal so auszudrücken. Also sagte die Prophezeiung ihm: ›Keine … äh … Vereinigung mit einer Frau, bevor du zurück in Athen bist.‹«
»Vereinigung? Das verstehe ich nicht.«
»Sch! Pittheus fand, es müsse doch wundervoll für mich, seine Tochter, sein, das Kind eines Königs einer so großartigen Stadt wie Athen auszutragen. Somit wäre das Baby – du, wie sich herausstellte – König eines vereinigten Athen und Troizen. Also gab Großvater vor, die Prophezeiung meine, Aigeus solle Abstand davon nehmen, Wein zu trinken, bevor er Athen erreicht. Dann rief er mich und trug mir auf, Aigeus den Palast und den Garten zu zeigen. Eins führte zum anderen, und so landeten wir zufällig in meiner Schlafkammer und …«
»Ich wurde gezeugt«, sagte ein fassungsloser Theseus.
»Ja, aber da ist noch etwas«, sagte Aithra, die vor Verlegenheit knallrot angelaufen war. Sie hatte diesen Tag gefürchtet und oft geprobt, wie sie Theseus die Geschichte erzählen sollte, nun aber, da der Tag gekommen war, schienen ihr die Worte im Hals stecken zu bleiben.
»Noch etwas?«
»In dieser Nacht, nachdem Aigeus, dein Vater, seinen … äh … seinen …«
»Weinschlauch geöffnet hatte?«
»Ja, das. Er rollte sich zur Seite und schlief ein. Ich konnte aber nicht schlafen und ging zu der Quelle, die Poseidon geweiht ist, um mich zu reinigen und nachzudenken. Mein Vater hatte es darauf angelegt, dass ich mit einem Fremden schlafe, damit er seine politischen Ränke schmieden konnte. Ich war sauer, entdeckte aber zu meiner Überraschung, dass ich Aigeus mochte. Er war freundlich, männlich und … aufregend.«
»Mutter, bitte …«
»Doch als ich mich in den Wassern der Quelle wusch, wer glaubst du, stieg aus dem Wasser auf?«
»Wer?«
»Der Gott Poseidon.«
»Was?«
»Und er … nahm mich auch.«
»Er … er … er?«
»Das ist nicht lustig, Theseus …«
»Ich lache nicht, Mutter. Glaub mir, ich lache nicht. Ich versuche einfach nur zu verstehen. Sag mir nicht, dass Poseidon seinen Weinschlauch geöffnet hat?«
»Ich schwöre dir, es ist die reine Wahrheit. In derselben Nacht, in der ich mit Aigeus geschlafen habe, nahm auch Poseidon mich.«
»Und wer ist nun mein Vater?«
»Beide, da bin ich mir ziemlich sicher. Ich bin zu Aigeus ins Bett zurückgekehrt, und als ich am Morgen aufwachte, umarmte er mich und entschuldigte sich. Er war verheiratet, weißt du, und deswegen konnte er mich kaum nach Athen mitnehmen. Wir verließen die Schlafkammer, bevor jemand auf den Beinen war, und er brachte mich zu diesem Platz hier. Er vergrub sein Schwert und seine Sandalen genau hier und rollte den Felsbrocken auf diese Stelle. »Sollte unsere Vereinigung Früchte tragen und ein Junge geboren werden, soll er den Felsen bewegen, wenn er Manns genug ist, und dann erzählst du ihm, wer er ist. Dann mag er nach Athen kommen und sein Geburtsrecht beanspruchen.«
Wie man sich vorstellen kann, war Theseus von den Neuigkeiten wie vom Blitz getroffen. Über die Jahre hatten ihn die Spielchen seiner Mutter davon überzeugt, dass die Vorstellung, bei seinem mysteriösen Vater handle es sich um einen König oder Gott, nichts als kindische Fantasie sei.
»Also wusste Opa, dass die Prophezeiung bedeutete, Aigeus, mein Vater, würde beim nächsten Mal einen Sohn zeugen, wenn er … Sex hatte? Und er entschied, dass du die Mutter sein solltest?«
»Genau.«
»Aber die Prophezeiung meinte, er solle seinen Weinschlauch nicht öffnen – wo haben diese Orakel nur ihre Metaphern her? –, bevor er in Athen eintraf, oder er würde vor Kummer sterben.«
»Nun ja …«
»Aber er hat ihn geöffnet. Ist er inzwischen vor Kummer gestorben?«
»Nein, das nicht«, gab Aithra zu.
»Orakel!«
Sie redeten und redeten, bis der Abendstern am Himmel stand.
Mutter und Sohn machten sich auf den Heimweg, wobei Theseus das Schwert durch das hohe Gras zischen ließ. Als sie im Palast ankamen, arrangierte Aithra unverzüglich ein Gespräch mit Pittheus.
»So, mein Junge, jetzt kennst du deine Geschichte. Ein Sohn von Troizen und ein Sohn von Athen. Bedenke, was dies für die Peloponnes bedeutet! Wir können unsere Flotten vereinigen und über Attika herrschen. Korinth wird wütend sein. Und Sparta! Ha, sie werden vor Wut kochen! Was machen wir jetzt zuerst? Wir werden für dich so schnell wie möglich ein Schiff ausstatten, das – morgen? Warum nicht? – zum Hafen Piräus segelt und dich zum Athener Hof bringt, damit du dem alten Aigeus vorgestellt wirst. Er wird sich so freuen. Er heiratete Jasons Witwe, weißt du – Medea aus Kolchis? Schreckliche Frau, nach allem, was man so hört.239 Eine Hexe und Mörderin. Ich werde ein Präsent aufstöbern, irgendeinen kleinen Schatz, den du ihnen mit meinen besten Empfehlungen überreichen kannst. Wie sehr sich diese Nacht doch gelohnt hat.«
Pittheus umarmte seine Tochter und boxte ihrem Sohn spielerisch gegen den Arm.
Theseus sah das etwas anders. Er ging auf sein Zimmer und wickelte ein paar seiner Besitztümer in ein Tuch. Ein Prinz von Troizen kommt mit einem Schiff an, bietet irgendeinen glänzenden Schnickschnack dar, winkt mit einem silbernen Schwert und ruft »Hallo Papa, ich bin’s!« – wie heroisch war das denn? Gar nicht heroisch. Hätte Herakles sich präsentiert wie ein verzogenes Prinzchen? Niemals. Theseus wusste, dass er, sollte er in Athen einziehen, als Held einziehen musste – und er hatte da so eine Idee, wie das zu bewerkstelligen war.
Es gab nur zwei Wege, die von Troizen nach Athen führten: über die Wasser des Saronischen Golfes oder zu Fuß, indem er der Küstenlinie folgte. Letzteres bedeutete eine lange, anstrengende Reise, die außerdem notorisch gefährlich war. Einige der brutalsten und gnadenlosesten Banditen, Räuber und Mörder Griechenlands lagen hier auf der Lauer. Selbstredend war dies die Route, die jeder anständige Held nehmen würde. Wenn Theseus in Athen ankäme, nachdem er die Straße von ihren legendären Banditen befreit hatte, nun, das wäre schon was …
Theseus schlüpfte in die alten Sandalen seines Vaters, gürtete das Schwert, wickelte noch ein paar andere Besitztümer ein und machte sich auf den Weg.
Ein paar Sekunden später war er zurück. Er schrieb eine Nachricht an seine Mutter und seinen Großvater, die er aufs Bett legte.
»Mochte die Vorstellung einer Seereise nicht. Gehe lieber zu Fuß. Viele Grüße, Theseus.«
Theseus war kaum länger als eine Stunde unterwegs, als ihm der Weg von einem herumlungernden, schlurfenden, einäugigen Giganten verstellt wurde, der eine enorme Keule schwang. Theseus wusste genau, wer das sein musste: PERIPHETES alias AREITHOOS KORYNETES, der »Keulenmann«.
»Du meine Güte, du meine Güte«, schnaufte der Zyklop. »Ein hübscher, weicher Kopf für meinen Brecher. Ist aus Bronze, weißt du. Mein Vater ist Schmied. Der Schmied aller Schmiede ist mein Vater.«
»Ja, wir wissen alle, dass du behauptest, der Sohn von Hephaestos zu sein«, gab Theseus scheinbar gelangweilt zurück. »Leute haben die Geschichte geglaubt, weil du hässlich und lahm bist. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Olympischer Gott so ein dummes Kind haben würde.«
»Oh, dumm bin ich?«
»Unglaublich dumm. Behauptest, deine Keule wäre aus Bronze. Wer hat sie dir verkauft? Kann jeder sehen, dass sie aus Eiche ist.«
»Ich habe sie selbst gemacht!«, dröhnte Periphetes wütend. »Sie ist nicht aus Eiche! Wäre eine Keule aus Eiche so schwer?«
»Du sagst, sie wäre schwer, aber ich sehe doch, wie du sie leicht von einer Hand in die andere schwingst, als wäre sie aus Federn.«
»Das ist, weil ich so stark bin, Kretin! Versuch’s mal. Ich schwöre, du kannst sie nicht einmal halten.«
»Ach ja, ja, sie ist schwer«, sagte Theseus und nahm sie entgegen. Seine Hand wurde fast bis auf den Boden gezogen, als wäre es ihm unmöglich so viel Gewicht zu halten. »Und ich fühle die kalte Härte der Bronze.«
»Siehst du!«
»Ziemlich … gute … Balance!«, sagte Theseus plötzlich, hob sie hoch in die Luft und schwang sie. Beim Wort »Balance« landete sie mit erbaulichem Knirschen auf Periphetes’ Hüfte. Der Riese ging mit einem Schmerzensschrei zu Boden.
»Ich … glaube … ich … mag … diese … Keule!«, sagte Theseus und ließ sie mit sechs vernichtenden Schlägen auf den Schädel von Periphetes krachen. In den Felsen abseits der Straße fand er das Versteck des Räubers. Gold, Silber und gestohlene Wertgegenstände waren fein säuberlich in einem perfekten Halbkreis um einen hohen Schrein aus zertrümmerten Schädeln auf dem Boden drapiert worden. Theseus stöberte eine Ledertasche auf und füllte sie mit dem Schatz. Es drängte ihn, auch die Keule mitzunehmen. Herakles trug stets eine Keule bei sich, also sollte auch er es so halten.
Weiter nördlich verlief die Straße nach Westen entlang des Isthmus von Korinth. Er genoss die Sonne auf seinem Gesicht und das glitzernde Meer zu seiner Rechten, als er auf allerlei freundliche Reisende traf. Den Bedürftigen gab er ein paar Münzen und kostbare Objekte aus seiner Tasche.
Vielleicht ist das Gerede über Wegelagerer an dieser Straße übertrieben, dachte er. Und just als er beschlossen hatte, dass dies der Fall sein müsse, kam er zu einer Erhebung, wo ein Mann zwischen zwei Bäumen stand.
»Was ist in der Tasche, Junge?«
»Das ist meine Sache«, sagte Theseus.
»Oh, deine Sache, ja? Soso. Ich habe da so eine Art mit rotzigen, kleinen Miststücken umzugehen. Siehst du die beiden Bäume?«
Theseus wusste sofort, dass es sich um SINIS PITYOKAMPTES handelte, Sinis, den Fichtenbeuger. Geschichten über diesen eigenartigen und schrecklichen Mann wurden überall auf der Peloponnes erzählt. Er band Reisende zwischen zwei Fichten, die er mit großer Kraft nach unten gebogen hatte. Nachdem er die Opfer eine Weile lang gefoltert hatte, ließ Sinis die Bäume, die er in den riesenstarken Händen hielt, wieder nach oben schnellen, was die Reisenden entzweiriss. Ein entsetzlich grausamer Mann.
»Ich möchte meine Keule ablegen«, sagte Theseus. »Ich möchte mein Schwert ablegen und meine Tasche, denn ich möchte vor deiner Größe knien.«
»Ich bin seit vier Tagen auf dieser Straße unterwegs und höre nichts als Geschichten über den großartigen Sinis Pityokamptes.«
»Schön für dich, aber werd mir nur nicht komisch.«
»Oh, ihr Götter, ich bin nicht würdig, einen so feinen Mann, einen so reinen Helden zu treffen.« Theseus warf sich ins Gras.
»Nun pass mal auf, komm einfach her, ja!«
»Ich kann mich nicht bewegen, ich bin vor Ehrfurcht erstarrt. Sinis, der Große. Sinis, der Wunderbare. Sinis, der Herrliche. Beuger der Fichten. Besserer der Menschen.«
»Du bist doch weich in der Birne«, sagte Sinis und trat näher. »Komm her, steh auf.«
Irgendwie aber wechselten Theseus und Sinis bei diesem Getue die Position. Nun lag Sinis mit ausgestreckten Gliedern auf der Erde und Theseus hockte auf ihm und hielt ihn nieder.
»Komm, großer Sinis. Es ist nicht fair, dass du vielen Reisenden so große Freude bereitest und selbst nichts davon hast.«
»Lass mich los!«
»Nein, mein Lieber«, sagte Theseus und zog Sinis am Handgelenk durch das Gras wie ein Kind sein Spielzeugauto. »Du warst so liebenswürdig zu unzähligen Fremden, ohne an dich selbst zu denken. Wenn ich nun also deinen Arm an diesen Baum binde und ihn nach unten ziehe …«
Sinis schluchzte, flennte und bettelte, während Theseus an die Arbeit ging.
»Deine Bescheidenheit ehrt dich, Sinis«, sagte er und streckte sich nach der zweiten Fichte aus, »Aber sicher ist es nur gerecht, dass die Welt nicht bloß einen von deiner Sorte hat, sondern zwei.«
»Ich flehe dich an. Da liegt ein Schatz unter diesen Büschen begraben. Nimm ihn, nimm alles!«
Theseus hatte nun beide Fichten fest im Griff. »Du quiekst und grunzt wie ein Schwein, und ich sehe, dass du dich wie ein ängstliches Kind nass gemacht hast«, sagte er plötzlich sehr bestimmt. »Aber welche Gnade hast du je gegenüber deinen Opfern walten lassen?«
»Es tut mir leid, sehr leid.«
Theseus dachte kurz nach. »Hm, ich sehe, dass es dir wirklich leidtut. Ich schaue mal eben nach, ob du die Wahrheit über den Schatz gesagt hast, und wenn ja, dann werde ich dich verschonen.«
»Ja, ja! Aber lass nicht los, lass nicht …«
»Mal sehen, dein Schatz ist da drüben, sagst du?«
Theseus trat einen Schritt zurück und ließ los. Die Fichten schnellten nach oben und rissen Sinis dabei entzwei. Unterdessen ging von den zitternden Ästen ein Nadelregen nieder.
»Ups, wie ungeschickt von mir«, sagte Theseus.
Theseus verließ den Ort erst, als er den Schatz ausgegraben und die beiden Fichten mithilfe seines Schwertes gefällt hatte. Er entzündete ein Feuer und sandte süßlich duftenden Rauch als dankbaren Gruß an die Götter.
Theseus lief weiter die Straße am Isthmus entlang. Irgendwo in der Mitte zwischen Korinth und der Stadt Megara erreichte er bald das Dorf Krommyon. Er war schon näher an Athen als an Troizen. Immer wieder legten Reisende Richtung Süden oder ängstliche Bauern bei der Arbeit eine Pause ein, um Theseus vor einer furchterregenden Kreatur zu warnen, die das Land verwüstete. Sie nannten sie die KROMMYONISCHE SAU.
Von den Geschichten her, die man sich über die Krommyonische Sau erzählte, wusste Theseus nicht, ob es sich nur um ein echtes grunzendes, quietschendes, schnüffelndes Schwein oder um eine bösartige und mörderische alte Frau namens PHAIA handelte. Manche schworen, sie hätten eine alte Hexe gesehen, die sich in ein Schwein verwandelte. Andere bestanden darauf, dass Phaia einfach nur die Halterin des Schweins war.
Theseus sah nie eine alte Hexe, aber er traf auf ein großes und aggressives wildes Schwein. Die gewaltige Bronzekeule war ihm mehr als ebenbürtig, und bald wurden die Götter mit etwas noch Deliziöserem als dem Rauch von Fichtennadeln beglückt, dem Aroma von frisch gebratenem Speck.240
Weiter entlang der Küstenstraße, irgendwo zwischen Megara und Eleusis, lauerte ein berüchtigter Bandit namens SKIRON. Er hielt sich dort auf den Felsklippen über einer Bucht schon so lange auf, dass sie die Skironischen Felsen genannt wurden. Weit unter ihnen, in den Wassern des Saronischen Meerbusens, zog eine riesige Schildkröte ungeduldig ihre Kreise. Skiron und die Schildkröte pflegten eine ebenso interessante wie verstörende Partnerschaft. Skirons Modus Operandi war es, Reisende dazu zu zwingen, ihm ganz nah am Felsvorsprung die Füße zu waschen. Die nichtsahnenden Opfer standen mit dem Rücken zur See und wurden, wenn sie sich bückten, um mit dem Waschen zu beginnen, mit einem mächtigen Tritt in die Tiefe befördert, wo die gierige Kröte sie mit offenem Maul erwartete.
»Nein, nein, nein, nein, nein!«, sagte Theseus, nachdem Skiron hinter einem Baum hervorgesprungen war und ihm mit vorgehaltener Klinge befohlen hatte, ihm die Füße zu waschen. »Sie sind ekelhaft. Die fasse ich nicht an.«
»Möchtest du lieber von einem Schwert durchbohrt werden?«, fragte Skiron.
»Wohl kaum«, gab Theseus zu, »aber wo ist die Schüssel mit heißem Wasser? Wo sind die wohlriechenden Öle? Wo ist das Tuch aus Ziegenleder? Wenn ich schon deine Füße waschen soll, dann nur so, wie es sich gehört.«
Mit einem ungeduldigen Seufzen zeigte Skiron ihm – dabei stets das Schwert auf Theseus gerichtet –, wo er die nötigen Hilfsmittel für ein perfektes Fußbad aufbewahrte. Theseus bestand darauf, in einer Kupferschüssel, die er fand, Wasser zum Kochen zu bringen.
»Wenn schon, denn schon«, sagte er gut gelaunt.
»Und jetzt beweg dich dort drüben hin«, grummelte Skiron, als Theseus sich endlich zufrieden zeigte. »Ich sitze auf diesem Stuhl und du kniest davor.«
»Das ist ziemlich nah am Abhang«, sagte Theseus zweifelnd.
»Ich schaue gerne auf die See, während meine Füße gewaschen werden. Jetzt Schluss mit dem Gequatsche, fang endlich an.«
Theseus trug die Schüssel mit dampfendem Wasser vorsichtig bis zu der Stelle. Er konnte Skirons Schwertspitze, die ihn vorwärtsdrängte, im Kreuz spüren.
»Gut, also … hier?«
»Näher am Abhang.«
»Hier?«
»Noch etwas näher.«
»Du meine Güte, das ist steil – uah!«
Theseus geriet ins Straucheln und stolperte nach vorn. Jetzt ohne die Schwertspitze am Rücken, drehte er sich blitzschnell um und schüttete den brühend heißen Inhalt der Schüssel in Skirons Gesicht. Der Bandit gab einen kurzen Schmerzensschrei von sich, dann – nach einem unverhofften Schubs von Theseus – einen zweiten, längeren Schrei, als er wild am Abhang taumelte, bevor er in die blaue, blaue See stürzte.
Theseus blickte nach unten und sah das helle Kielwasser einer gigantischen Schildkröte, die sich der zappelnden Gestalt näherte.
In Eleusis machte Theseus am Tempel von Demeter und Kore241 Rast, um als Dank für sein bisheriges Überleben zu beten und zu opfern. Bei der Fortsetzung seine Wanderschaft bog er an der Küste scharf Richtung Süden ab. Für Notleidende und Bedürftige fanden sich in seiner Tasche noch allerlei Geschenke, aber mehr als über Banditen und Bösewichte dachte er darüber nach, wie sein Vater wohl reagieren würde.
Theseus überlegte gerade, wo er sein Lager für die Nacht aufschlagen konnte, als wie aus dem Nichts zwei große, dünne Männer rechts und links von ihm erschienen, ihm jeweils ein Messer an die Kehle hielten, woraufhin sich eine dritte Gestalt vor ihm aufbaute. Theseus hatte noch nie jemanden gesehen, der so groß war. Er hätte sogar Periphethes zum Zwerg gemacht, den ersten seiner Widersacher auf dieser Reise. Theseus kannte Leute, die kleiner waren als dieser Mann breit.
»Wer hat dir erlaubt, mein Königreich zu betreten?«, brüllte der Riese.
»Entschuldigung?«
»Ich bin Kerkyon, der König in diesem Reich. Du dringst ohne meine Erlaubnis ein.«
»Oh, wie schlimm von mir. Bitte nimm meine Entschuldigung entgegen.«
»Ich biete Fremden einen Kampf ohne Waffen an. Wenn du gewinnst, ist dieses Königreich dein.«
»Und wenn ich verliere?«
»Dann stirbst du.«
Theseus schaute sich um. »Nicht sehr beeindruckend, dieses Königreich oder? Ich meine, verglichen mit Korinth beispielsweise.«
»Nimmst du die Herausforderung an?«
»Oh ja, ich nehme sie an.«
»Dann entledige dich deines Schwertes und deiner Kleider.«
»Entschuldigung?«
»Das ist ein Kampf ohne Waffen. Nur Arme und Fäuste und Beine und Füße. Pures Kämpfen.«
Theseus blickte auf den Riesen, der seinen Umhang und alle weiteren Kleidungsstücke abgeworfen hatte und nun nackt vor ihm stand. Vielleicht war dies nur ein etwas spezielles Balzritual? Von einem solchen Muskelberg in einem Liebesakt umarmt zu werden, war eine ebenso entsetzliche Vorstellung, wie von ihm im Kampf umarmt zu werden. Die großen, dünnen Wächter mit ihren Messern an seiner Kehle würden keine Ruhe geben, und da er keine andere Wahl hatte, legte er seufzend Schwert und Keule nieder und stieg aus seiner Tunika.
»Ich kann Knochen mit nur einer Umarmung brechen«, sagte Kerkyon.
»Tatsächlich?«, erwiderte Theseus. »Deine Mutter muss sehr stolz auf dich sein. Sag mir …«, fügte er hinzu und sprang flink zur Seite, als Kerkyon auf ihn zustürmte. »Wenn ich gewinne, werden deine Männer sich mir dann ergeben?«
»Wenn du gewinnst«, gluckste Kerkyon und bedeute ihm, anzugreifen, »werden sie dir bis ans Ende ihrer Tage dienen und du wirst ihr König sein. Komm her zu mir, komm her!«
Theseus duckte sich zwischen Kerkyons Beine und spürte, wie die Eier des Riesen seine Schädeldecke berührten. »Ekelhaft«, sagte er zu sich selbst. »Aber sie geben ein gutes Ziel ab.«
»Hältst du wohl still«, rief Kerkyon, den das Gehopse von Theseus kirre machte. »Du kämpfst nicht wie ein Mann, du tanzt wie ein Mädchen.«
Langsam wurde Kerkyon müde. Er war zu stark, als dass Theseus mit ihm in den Nahkampf ging, denn mit einer einzigen ungestümen Umarmung würde er ihm in der Tat sämtliche Rippen brechen. Doch die Ausfallschritte und Hiebe des Riesen wurden langsamer. Immer wenn er eine Bewegung ausführte, fand Theseus einen Weg, seine Kraft gegen ihn zu wenden und ihn weiter zu ermüden. Beim nächsten Mal, als er sich zwischen Kerkyons Beine duckte, sprang er an das gigantische Skrotum des Riesen, baumelte dort eine Weile und verdrehte es wieder und wieder.
Kerkyon schrie vor Schmerz. »Aufhören! Das kannst du doch nicht machen, das ist Betrug!«
Mit einem letzten deftigen Ziehen ließ Theseus sich zu Boden fallen.
»Dich krieg ich, dich krieg ich!«, donnerte Kerkyon.
Er ist irrsinnig wütend, dachte Theseus. Jetzt habe ich ihn.
Kerkyon stampfte auf und taumelte blind vor Rachsucht herum. Theseus kniff ihm in die Waden, schnappte nach seinen Eiern, sprang auf seine Zehen, piesackte ihn, lachte und rannte um ihn herum, bis Kerkyon mehr einem wütenden Stier als einem kunstsinnigen Kämpfer glich.
Schließlich lockte Theseus ihn in die Nähe einer Reihe spitzer Felsen und gab ihm einen Schubs. Mit dem Gesicht nach unten fiel Kerkyon auf die scharfen Felsspitzen und Theseus hüpfte auf ihm herum wie ein Kind auf dem Bett. Das Blut des Riesen spritzte hoch wie eine Fontäne und fiel in dunkelroten Tropfen nieder, als Kerkyon zuckte und seinen letzten Atemzug tat.242
Theseus wandte sich um und sah die beiden dünnen Wächter vor ihm am Boden knien.
»Majestät!«
»Ach, jetzt hört aber auf«, sagte Theseus, vor Erschöpfung nach Luft japsend. »Haut ab. Ihr seid frei. Schnell, geht, bevor ich mit euch das mache, was ich mit eurem König gemacht habe!«
Während er zusah, wie sie sich trollten, schlüpfte Theseus in seine Tunika und suchte seine Besitztümer zusammen.243
Theseus’ letzter Feind erschien in einem Tal des Berges Korydallos. Anders als die anderen sprang er nicht hinter einem Baum oder Felsen hervor. Er verstellte Theseus nicht den Weg und bedrohte ihn nicht mit Schwertern, Keulen oder Messern. Stattdessen stand er in der Eingangstür eines freundlichen Steinhauses und hieß ihn mit einem Lächeln willkommen.
»Hallo, Fremder! Du siehst aus, als wärst du schon einige Meilen unterwegs.«
»Das bin ich wohl«, erwiderte Theseus.
»Du kannst bestimmt eine Erfrischung und ein Bett für die Nacht gebrauchen.«
»Eigentlich wollte ich es heute Abend noch bis Athen schaffen.«
»Oh, das sind noch gute zwölf Meilen. Das schaffst du nie vor Eintritt der Dunkelheit. Und es gibt unterwegs Diebe und Mörder, das kann ich dir versichern. Glaube mir, es ist besser, hierzubleiben und den Rest deiner Reise mit frischen Kräften anzugehen. Wir bieten eine billige, saubere Unterkunft zu erschwinglichen Preisen.«
»Einverstanden.« Theseus streckte die Hand aus. »Theseus von Troizen.«
»PROKRUSTES von Erineus. Mach es dir unter meinem Dach bequem.«
Irgendetwas war da in seinem Lächeln und untertänigen Verbeugen, was Theseus nicht mochte, aber er sagte nichts und betrat das kleine Haus. Eine Frau mittleren Alters wischte gerade den Tisch mit Minzeblättern. Sie hieß ihn mit einem tiefen Knicks und einem strahlenden Lächeln willkommen.
»Ein Gast, Liebes«, sagte Prokrustes und duckte sich beim Eintreten unter dem Türsturz, denn er war ein großer Mann.
Prokrustes’ Frau knickste erneut. Sie lächelte genauso viel wie ihr Mann, was Theseus als nicht weniger irritierend empfand.
»Habt ihr irgendwo Wasser, damit ich mich waschen kann?«, fragte Theseus.
»Waschen? Warum denn das?« Prokrustes schien überrascht.
»Schon gut, Prokrustes. Wenn der junge Herr sich waschen will, dann lass ihn. Fremde tun merkwürdige Dinge, so ist das nun mal. Es gibt einen Teich gleich dort hinten, wo die Enten schwimmen«, fügte sie an Theseus gewandt hinzu. »Wäre das etwas?«
»Perfekt«, sagte Theseus und machte sich auf den Weg.
Er sah einen Teich, aber er lief nicht dorthin. Stattdessen kehrte er zum Fenster auf der Rückseite des Hauses zurück, bückte sich darunter und spitzte die Ohren.
»Oh, er ist perfekt, mein Lieber«, sagte die Frau. Hast du die volle Tasche gesehen, die er bei sich hat? Da dürfte reichlich Gold und Silber drin sein.«
»Er ist weder groß noch klein«, gab Prokrustes zu bedenken. Wenn ich für das Bett Maß nehme, sollte er dann ausgestreckt liegen, was denkst du?«
»Oh, ich liebe es, wenn du ihnen die Handschellen anlegst und sie streckst, Prokrustes. Die Schreie, die Schreie!«
»Ah, aber es macht auch Freude, wenn sie zu groß für das Bett sind. Das Abschlagen der Füße … Dann schreien sie auch gehörig.«
»Strecke ihn, Prokrustes, foltere ihn! Das dauert länger.«
»Du hast sicher recht, meine Liebe. Ich gehe jetzt ins Zimmer und bereite das Bett vor. Was macht er eigentlich? Wo gibt es denn so was, dass jemand sich wäscht? Man hört auch so gar nichts von ihm.«
Theseus klaubte flugs einen Stein auf und warf ihn in den Teich. Er plantschte ins Wasser, gefolgt von verärgertem Gequake.
»Zumindest versetzt er die Enten in helle Aufregung.«
»Vielleicht ist er aus Sparta«, schlug die Frau vor. »Man hört so merkwürdige Dinge über die Spartaner.«
»Er sagte, er sei aus Troizen.«
»Die sind auch komisch.«
»Wir werden bald noch komischere Sachen von ihm hören«, sagte Prokrustes im Herausgehen.
Nach einem Umweg über den Teich kam Theseus angemessen tropfend zum Haus zurück.
»Nimm einen Becher Wein beim Feuer«, forderte ihn die Frau auf. »Du musst dich aufwärmen.«
»Sehr nett.«
»Alles bereit«, sagte Prokrustes mit einem Augenzwinkern. »Habe mich darum gekümmert, dass das Schlafzimmer gemütlich ist.«
»Das ist so nett von dir«, entgegnete Theseus. »Es heißt, die Götter vergelten Gastfreundschaft.«
»Das ist das Wenigste, was wir tun können«, antwortete Prokrustes. »Es ist ein anstrengender Weg von Eleusis nach Athen. Man kann da unterwegs auf ein paar üble Gesellen treffen.«
»Ich bin auf meiner Reise an allerlei interessante und ungewöhnliche Leute geraten.«
»Niemand, der dir Böses wollte?«, fragte die Frau scheinbar mütterlich besorgt.
»Die meisten von ihnen waren so höflich und freundlich wie ihr«, antwortete Theseus mit einem breiten Lächeln.
»Genug geredet, Liebes«, meinte Prokrustes. »Der Herr möchte sein Zimmer sehen, sich vergewissern, dass das Bett passt, solche Sachen.«
»Ein Bett?« Theseus gab sich erstaunt. »Meine Güte, ich habe mich daran gewöhnt, draußen an der frischen Luft zu schlafen. Was für ein Luxus, ein Bett zu haben.«
»Dann komm mit und ich zeige es dir.«
Es war ein angenehmes Zimmer, in welches Prokrustes seinen Gast führte. Er hatte sogar eine Vase mit Blumen auf den Tisch gestellt. Der Bettrahmen schien aus Bronze zu sein. Theseus sah, dass rundherum Ringe angebracht waren, die zwar dekorativ aussahen, aber auch leicht als Handfesseln oder Manschetten dienen konnten.
»Wie hübsch«, sagte Theseus. »Iris, meine Lieblingsblumen.«
»Leg dich doch einen Moment hin, ich möchte sehen, ob das Bett groß genug ist.«
»Nein, nein.« Blitzschnell führte Theseus einen Ringergriff aus, und schon fand Prokrustes sich mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett wieder. Während er noch ganz baff war, schnappte Theseus sich die Hände und befestigte sie an der Fixierung, dann machte er dasselbe mit den Fußknöcheln. Prokrustes fluchte laut, aber Theseus brachte ihn zum Schweigen.
»Was für ein bemerkenswertes Bett«, sagte er und umkreiste es gemächlich. »Da ist ein Drehgriff, ich frage mich, wozu der gut ist?«
Er hob die Kurbel hoch und steckte sie in einen Mechanismus am Ende des Bettes. Als er kurbelte, wurde das Bett kürzer.
»Wie ich sehe, hast du hier eine Axt. Vielleicht dient sie dazu, deine Gäste passend für das Bett zu machen? Ich frage mich, ob sie funktioniert.«
Theseus schlug die überstehenden Füße von Prokrustes an den Knöcheln ab. Die Schreie waren furchterregend, also brachte Theseus ihn zum Verstummen, indem er auch seinen Kopf abschlug. Der Körper zitterte und zuckte sekundenlang, während Blut aus beiden Enden spritzte.
Als er Prokrustes die Fesseln abnahm und vom Bett rollte, hörte er, wie die Frau den Flur entlangkam.
»Oh, du hast doch nicht schon ohne mich angefangen, Liebling? Ich habe die Schreie gehört, aber ich hatte Brot im Ofen und ich …«
Sie blieb stehen und starrte auf den Anblick, der sich ihr bot: Theseus gut gelaunt mit Axt in der Hand, ihr Mann tot auf dem Boden und Blut überall.
»Nein, du bist nicht zu spät«, sagte Theseus. »Warum legst du dich nicht hin und ich schaue nach, ob du ins Bett passt? Nein, nein, nicht wehren. Es ist viel einfacher, wenn du still liegst und ich dich an diesen pfiffigen Manschetten festbinde … so in etwa. Meine Güte, du bist zu kurz für dieses Bett, weißt du? Viel zu kurz. Ich schaue mal, dass es besser passt.«
Die Frau spuckte ihn an und verfluchte ihn, aber Theseus scherte sich nicht darum und drehte an der Kurbel.
»Siehst du, so kann ich dich ein wenig strecken. Es heißt, das sei sehr gut für die Muskeln.«
Er kurbelte, bis er hörte, wie die Schultern der Frau knackten und knirschten, als ihre Arme langsam aus der Schulterpfanne gezogen wurden.
»Immer noch nicht ganz passend …«
Nun begannen ihre Hüften zu knacksen und knacken.
»Du hattest recht mit den Schreien«, sagte Theseus. »Gut, dass ihr keine Nachbarn habt.«
Sie starb unter schrecklichen Qualen, aber Theseus dachte an die Qualen all der Reisenden, die das Pech hatten, auf die Gastfreundschaft des Paares reinzufallen. Er fand jede Menge gestohlene Juwelen und hinter dem Ententeich einen makabren Knochenhaufen. Mehr als zweihundert Menschen hatten an diesem Ort des Grauens ihren letzten Schrei getan.
Theseus warf brennendes Schilf durch die Fenster des Hauses und überquerte die Straße, um sich auf der anderen Seite ins Gras zu legen und zuzuschauen, wie es niederbrannte – Prokrustes, Frau, Bett und alles andere. Als die Glut verlöschte, rollte er sich zusammen und dachte, dass man die besten Betten doch in der Natur findet, zwischen den Heckenreihen und unter den weisen, allsehenden Sternen. Am nächsten Morgen würde er am Fluss Kephissos eine Pause einlegen und sich reinigen. Das, so fand er, war sehr wichtig.
Die männliche Gestalt, die über den morgendlichen Markt in der Athener Agora stolzierte, erregte sofort Aufmerksamkeit.244 Er war groß, er war gut aussehend, doch trotz seiner Jugend kühn im Auftreten und selbstsicher im Habitus. Der geschmeidige Gang und die breiten Schultern ließen auf einen Krieger oder Athleten schließen. Solche Figuren waren in Athen nicht rar, aber sie waren auch kein alltäglicher Anblick.
Es war die Keule, die er bei sich trug, welche die Gerüchte beflügelte. Theseus hielt an einem Stand an, um eine Melone zu kaufen; ein kleiner Junge sah die Keule und berührte sie fasziniert.
»Ist das … ist das … Bronze?«, fragte er.
Theseus nickte ernst. »Das hat der Mann, von dem ich sie habe, jedenfalls behauptet, und es gibt kein Grund, ihm nicht zu glauben.«
Der Verkäufer beugte sich vor. »Ich habe gehört, dass jemand den Banditen Periphetes getötet hat. Er hat so eine Keule bei sich gehabt, heißt es.«
»Periphetes Korynetes?«, schrien die Leute.
»Ist das der Mann, von dem wir so viel gehört haben?«
»Derjenige, der Sinis mit seinen eigenen Fichtenbäumen zweigeteilt hat?«
»Der einsame Wanderer, der Kerkyon bekämpft hat …?«
»… der die Krommyonische Sau erschlagen …«
»… und die Beine von Prokrustes, dem Vollstrecker, abgeschlagen …«
»… und Skiron, den Kliffmörder, an die Schildkröte verfüttert hat?«
Und schon wurde Theseus emporgehoben und von einer jubelnden Menge zum Palast getragen. Das ist er, der namenlose Held der Isthmischen Straße, der Retter der Saronischen Küste! Sein Name ist Theseus und er ist ein Prinz von Troizen. Hurra für Troizen! Hurra für Theseus!
Theseus war mit der Absicht aufgebrochen, sich einen Namen zu machen, und hatte Erfolg gehabt. Deswegen hatte er den gefährlicheren Fußweg gegenüber dem sicheren Seeweg bevorzugt. Aber er war nicht übermäßig aufgeblasen und klug genug, um zu begreifen, dass Ruhm und Heldenverehrung tückisch sind. Sie mögen die Bevölkerung berauschen und erregen, reizen und alarmieren aber die Mächtigen. Keinesfalls wollte er seinen Vater gegen sich aufbringen, bevor er ihn überhaupt getroffen hatte. Mit Lächeln und freundlichem Schulterklopfen verabschiedete er sich von der jubelnden Menge.
»Danke, meine Freunde«, sagte er, wieder sicher auf beiden Beinen stehend. »Danke, aber ich bin nur ein Mann wie jeder andere und als bescheidener Bürger bitte ich nun um eine Audienz bei eurem König.«
Diese Bescheidenheit trug natürlich nur zur Bewunderung bei, die die Athener Bürger für ihn hegten. Sie verstanden und respektierten solche Demut und erlaubten ihm, allein und unbegleitet von einer Schar von Anhängern den Palast zu betreten.
König Aigeus empfing Theseus im Thronsaal. Ihm zur Seite saß seine dritte Frau Medea. Jeder hatte von ihr und ihrem Anteil am Erfolg bei der Jagd nach dem Goldenen Vlies gehört. Geschichten über ihre Zauberkünste und ihren unbeugsamen Willen kursierten im Überfluss. Ihre Leidenschaft als Liebhaberin, Ehefrau und Mutter hatte sie zu den unaussprechlichsten Taten getrieben, hieß es. Kindesmord, Verwandtenmord – es gab nichts, dessen sie nicht fähig war –, doch wenn man sie anblickte, sah man nur Schönheit und Anmut. Theseus verbeugte sich vor beiden.
»Das ist also der junge Mann, von dem wir so viel gehört haben, nicht wahr? Niemand Geringeres als ein Prinz von Troizen, Enkel meines alten Freundes Pittheus. Hat uns von der Plage der Banditen befreit, ja?« Aigeus erkannte seinen Sohn natürlich nicht. Wenn es da etwas im Rostrot von Theseus’ Haar gab, was seinem eigenen spärlichen Haupthaar mit den grauen Strähnen glich, fand er es nicht erwähnenswert. Auf dem griechischen Festland, insbesondere in Makedonien, gab es zahlreiche Männer und Frauen, deren Haare sandfarben, rötlich braun, kupferfarben oder rot waren.
Theseus verbeugte sich erneut.
»Ziemlich viel Mord und Totschlag, junger Mann«, sagte Medea mit einem Lächeln und Aufblitzen ihrer grünen Augen. »Ich hoffe, du hast etwas unternommen, um deine Seele von so viel Blut zu reinigen?«
»Ja, Majestät«, sagte Theseus. »Ich war bei den PHYTALIDEN und habe in ihrem Tempel neben dem Fluss Kephissos Abbitte geleistet. Sie haben mich gereinigt.«245
»Das war sehr klug von dir – sehr zweckmäßig von dir«, verbesserte sich Medea, aber Theseus hörte den Funken Feindseligkeit sehr wohl. Auch Aigeus, musste er zugeben, war nicht gerade begeistert, ihn zu sehen.
»Nun ja, wir sind ganz bestimmt dankbar«, sagte der König. »Bitte fühle dich im Palast wie zu Hause. Wir werden sicher etwas finden, was du in der … äh … Armee oder sonst irgendwo tun kannst … es gibt viele Arten, wie ein guter Mann uns nützlich sein kann.«
Der Thron von Aigeus war in Wahrheit ziemlich wackelig. Da er keine Nachkommen hatte (wie er und die Welt dachten), beanspruchten die fünfzig Söhne seines Bruders PALLAS – ja, fünfzig246 – einen Anteil am Thron für den Fall, dass er frei wurde. Ihre aggressive Ungeduld angesichts seiner Weigerung, abzudanken oder zu sterben, verursachte Aigeus schlaflose Nächte. Medea hatte einen Sohn, Medos, von dem sie hoffte, dass er nach dem Tod von Aigeus über Athen herrschen würde.
Medea betrachtete nun den jungen Mann, wie er da mit seiner falschen Bescheidenheit und dem aufgesetzten Charme so vor ihr stand. Sie ließ sich nicht eine Sekunde täuschen. Sie schaute ihn sich genau an und ihr Herz pochte laut. Sie sah die Haare, aber mehr als diese fiel ihr sein Aussehen auf, einige Züge, die sie von Aigeus kannte. Bei seinem Besuch in Delphi und dem anschließenden Besuch in Troizen bei seinem Freund Pittheus – wann war das gewesen? Ja, vor siebzehn oder achtzehn Jahren – hatte es Gerüchte um dessen Tochter Aithra gegeben. Ja, dieser freche Jüngling war der Bastard dieser Vereinigung. Da war Medea sich sicher. Der forschende Blick, mit dem er Aigeus betrachtete, verstärkte nur ihre Überzeugung. Nun, sie würde diese Gefahr abwehren. Nichts würde ihre Pläne durchkreuzen, nach denen Medos den Thron erben sollte.
»Mir fällt tatsächlich etwas ein, was er – Entschuldigung, Theseus, nicht wahr? – für uns tun könnte. Was für ein ungewöhnlicher Name – wenn Theseus es in Betracht ziehen würde …« Sie beugte sich vor und flüsterte etwas in Aigeus’ Ohr. Der nickte kurz.
»Ja, ja. Die Königin ist weise wie immer. Du suchst das Abenteuer, junger Mann? Würdest du gerne Athen helfen?«
Theseus nickte eifrig.
»Dorfbewohner in der Nähe von Marathon haben sich über einen schrecklichen Stier beklagt, der die Gegend unsicher macht. Schrecklich – ursprünglich aus Kreta, hat man mir gesagt. Handel und Gemeinschaftsleben kaum noch möglich. Wenn es stimmt, was man sich über dich und die Krommyonische Sau erzählt … meinst du nicht …«
»Kein Wort mehr, Herr«, sagte Theseus. Mit seiner respektvollsten Verbeugung machte er sich auf den Weg.
»Was für eine gute Idee, Medea, meine Liebe«, sagte Aigeus. »Mir hat die Art dieses jungen Mannes nicht gepasst. Und solche Popularität ist gefährlich. Hast du gehört, wie die Menge ihn gefeiert hat?«
»Ein gefährlicher junger Mann, ganz gewiss.«
»Nun, den sehen wir nicht wieder. Dieser Stier speit Feuer aus seinen Nüstern. Er ist nicht zu bändigen. Ich sollte es wissen.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte Medea. »Ich werde ein Feuer entfachen und in die Flammen schauen. Da ist irgendwas an diesem Jungen …«
Die Nachricht, dass Aigeus den jungen Theseus nach Marathon gesandt hatte, um den Stier zu töten, sandte Schockwellen durch ganz Attika. Der König hatte nämlich zuvor schon einen jungen Mann auf dieselbe Mission geschickt – mit verheerenden Konsequenzen. Er hatte Prinz ANDROGEOS, einen Sohn des Königs Minos von Kreta, als Gast empfangen und ihn dummerweise um denselben Gefallen gebeten, nämlich Athen von diesem schrecklichen Stier zu befreien, der das Land verwüstete. Der Stier hatte Androgeos prompt getötet, und als Bestrafung für diesen ungeheuerlichen Verstoß gegen die Gesetze der Gastfreundschaft hatte Minos Attika besetzt und gedroht, die Stadt dem Erdboden gleichzumachen, es sei denn … Nun, wir kommen noch früh genug darauf zu sprechen. Für den Moment wunderte sich jedermann, wie Aigeus zum zweiten Mal denselben furchtbaren Fehler machen konnte, denn es handelte sich um denselben Stier.
Wir sind diesem ausgesprochen bemerkenswerten Untier zum ersten Mal als Kretischem Stier begegnet, der Stier, den Herakles als siebte Aufgabe einfangen sollte.247 Nachdem er ihn freigelassen hatte, floh dieser aus Mykene und endete schließlich in Marathon, wo er seither die Einwohner tyrannisierte.
Theseus zog nach Marathon und demonstrierte aufs Neue den Unterschied zwischen seiner Art von Heldentum und dem eines Herakles. Dieser hatte sich, wenn Sie sich erinnern, einfach hingestellt, den Stier bei den Hörnern gepackt und schiere physische Kraft eingesetzt, um ihn zu besiegen. Theseus ging die Sache auf seine Art an. Er beobachtete den Stier eine Weile. Er sah keine Flammen aus den Nüstern sprühen, registrierte aber die enorme Kraft und ursprüngliche Wildheit in seinem wütenden Schnauben, Belfern und Stampfen. Ein verwüsteter Landstrich, aufgespießtes Vieh und zertrampelte Gebäude – all dies kündete von der außerordentlichen Kraft und dem Killer-Instinkt des Tieres.
»Aber in Wahrheit ist er nicht beängstigender als Kerkyon, den ich zu Boden gerungen und auf dem Felsen zerschmettert habe«, sagte sich Theseus. Und tatsächlich gelang es ihm, den Stier auf dieselbe subtile Art wie damals zu ermüden, indem er die Kraft des Gegners zu seinem eigenen Vorteil nutzte. Theseus war viel zu flink, geschickt und geschmeidig für ihn. Jedes Mal, wenn der Stier auf ihn zustürmte, sprang Theseus in die Luft, und das verblüffte Tier kämpfte gegen eine Leerstelle.248
»Du speist kein Feuer«, sagte Theseus und sprang zum zehnten Mal über ihn hinweg, »aber dein Atem ist heiß.«
Zu guter Letzt war das große Ungeheuer zu müde, um weiterhin Widerstand zu leisten. Theseus spannte den Stier ein und pflügte mit seiner Hilfe die Ebene von Marathon um.249 Das Pflügen unterstrich seine Beherrschung des Biestes und zeigte den entzückten Bewohnern, dass sie ihr Land wieder in Ruhe bestellen konnten.
Theseus zog triumphal mit dem Stier in Athen ein, wo er ihn in der Agora dem Apollon opferte.
Aigeus’ Plan hätte nicht spektakulärer scheitern können. Weit entfernt davon, diese Bedrohung seines Friedens und seiner Sicherheit auszuschalten, hatte er dafür gesorgt, dass Theseus mächtig an Popularität und Zustimmung gewonnen hatte. Ganz Athen war hingerissen, als Theseus bei einem Umzug den großen Stier – einstmals so wild und nun friedlich und fügsam wie ein kastrierter Ochse – durch die Straßen führte und ihn ebenso nobel wie bescheiden dem Apollon opferte. Nie hatten die Menschen einen solchen Helden gesehen. Aigeus sah sich genötigt, zu seinen Ehren ein Fest zu geben, und während er sich fertig machte, betrat Medea sein Gemach.
»Dieser junge Mann bringt nur Unheil, mein Liebster.«
»Ich bin mir dessen bewusst.«
»Schau hier …« Medea zeigte ihm eine kleine Phiole aus Kristall. »Eine kleine Menge Blauer Eisenhut …«
»Man nennt es die Königin des Giftes, nicht wahr?«
»Es hat viele Namen«, sagte Medea kühl. »Blaue Rauke, Teufelshelm, Leopardenfeuer, Akonit.250 Es reicht zu wissen, dass es tödlich ist. Ich kippe den Inhalt in den Becher des affigen Prinzen und siehe da! – wir sind alle Sorgen los. Es wird aussehen, als hätte er einen Anfall, einen Sturm des Gemüts, so werden wir es hindrehen. Wir werden sagen, Hades wäre begierig darauf gewesen, in der Unterwelt eine so große Seele willkommen zu heißen, und hätte Thanatos, den Herrn des Todes, geschickt, um Theseus zur ewigen Rast im Paradies zu begleiten.«
»Du bist ein kluges, kleines Ding«, sagte Aigeus und tätschelte ihr Kinn.
»Tu das nie wieder.«
»Nein, Medea, meine Liebe.«
Er bekam nicht mit, wie Medea am Tisch das Gift in Theseus’ Becher tropfte, aber sie signalisierte ihm, dass alles zum Besten stehe. Sie ging nicht so weit, sich kurz an die Nase zu fassen oder ihm zuzublinzeln, aber ein bedeutungsvolles Nicken versicherte ihm, alles sei erledigt.
»Nun, mein Volk«, sagte Aigeus und erhob seinen Becher. »Ich trinke auf unseren Gast, diesen Prinzen von Troizen, den Bezwinger der Banditen und Stiere, unseren neuen Freund und Beschützer. Lasst uns auf das Wohl des edlen Theseus trinken, denn so werde ich ihn von nun an nennen.«
Begeisterte Zustimmung überall in der Halle, als die Gäste auf Theseus anstießen, der bescheiden unter ihnen saß und dankend nickte.
»Und nun muss unser Gast sprechen«, sagte Medea.
»Oh, nun, ja …« Theseus stand auf und griff mit nervöser Hand nach seinem Kelch. »Ich bin kein Mann langer Reden. Ich weiß, dass man in Athen die Kunst der Rede schätzt, und hoffe, sie eines Tages zu erlernen. Meistens übernimmt mein Schwert das Reden …« Er schob seinen Umhang ein wenig zur Seite und legte eine Hand auf den Griff des Schwerts. Eine Welle von wohlwollendem und bewunderndem Lachen erfüllt die Halle. »Aber ich trinke auf …«
»Nein!«
Zum Erstaunen aller, beugte König Aigeus sich plötzlich vor und schlug Theseus den Kelch gewaltsam aus der Hand.
»Dieses Schwert«, rief er und wies auf Theseus’ Seite. »Ich habe genau dieses Schwert im Boden vergraben, damit mein Sohn es finden soll.«
»Und diese verrotteten Sandalen«, sagte Theseus mit einem Lachen, während er eine davon abstreifte. »Wie ich sie auf der Straße verflucht habe!«
Vater und Sohn fielen sich in die Arme. Es dauerte einen Moment, bevor Aigeus sich Medea wieder in Erinnerung rief.
»Und was dich betrifft, Zauberin, Hexe und …«
Sie war fort. Sie hatte Athen verlassen und kehrte nie wieder zurück. Einige schworen, sie hätten sie gesehen, wie sie über den Himmel in einem Streitwagen fuhr, der von Drachen gezogen wurde, ihren Sohn Medos an ihrer Seite.251
Als Nächstes kündigte Aigeus an, dass er bald abdanken und den Thron an Theseus abgegeben würde, eine Nachricht, die vom Volk Athens mit Begeisterung aufgenommen wurde. Aigeus war nicht unbeliebt, aber man fand allenthalben, dass er ein schwacher Herrscher sei. Fünfzig starke und wütende Männer fochten Theseus’ Recht zu herrschen jedoch an, die Pallantiden, die fünfzig Söhne von Aigeus’ totem Bruder Pallas. Sie erklärten dem unerwünschten Cousin postwendend den Krieg. Es ist unausweichlich, dass ein Held der griechischen Mythenwelt keine Ruhe kennt, und so bestritt Theseus mit Anstand und gesunder Tatkraft seinen Krieg gegen die fünfzig.
In zwei Truppenteilen, jeder von fünfundzwanzig der Brüder angeführt, plante der Feind einen Überraschungsangriff auf Athen. Aber Theseus hatte Spione in ihrem Lager. Von einem Herold namens LEOS gewarnt, lockte er jede der beiden Armeen seinerseits in einen Hinterhalt und massakrierte die Pallantiden einen nach dem anderen.
Theseus fand, nun sei die Zeit angebrochen, den Frieden und Wohlstand zu genießen, der endlich über Athen gekommen war. Und doch fiel ihm auf, dass die Bürger mit verdrossenem Gesicht herumliefen, weit entfernt davon, glücklich auszusehen. Er war immer noch beliebt, das wusste er, aber er konnte sich nicht erklären, was in den Augen der Leute stand. Er ging zu Aigeus.
»Ich verstehe es nicht, Vater. Die Pallantiden sind keine Bedrohung mehr. Die Hexe Medea übt ihren schädlichen Einfluss über dich und die Stadt nicht mehr aus … der Handel läuft gut. Und doch ist da etwas in den Augen der Menschen. Furcht, so etwas wie … das einzige Wort, das mir einfällt, lautet … Grauen.«
Aigeus nickte. »Ja, Grauen ist das richtige Wort.«
»Aber warum?«
»Es ist wegen der Tribute, weißt du.«
»Tribute?«
»Hat niemand dir davon erzählt? Nun, du bist ziemlich beschäftigt gewesen, seit du hier bist, nicht wahr? Ich vermute, die Geschichte mit meinen fünfzig Neffen … und der Marathonische Stier natürlich. Also, es betrifft tatsächlich den verdammten Stier … meine Güte.«
»Was ist mit ihm, Vater? Er ist schon seit einem Jahr oder mehr tot.«
»Wir müssen ein paar Jahre zurückgehen. König Minos sandte seinen Sohn, damit er bei mir wohnt. Er sollte an einigen Spielen teilnehmen und ein wenig städtischen Schliff bekommen. Auftreten und Stil, du verstehst? Die Kreter sind … nun, du weißt ja, wie die Kreter so sind.«
Theseus wusste nicht, wie die Kreter so waren, aber er wusste, dass der Rest von Griechenland sie zu gleichen Teilen fürchtete und verachtete.
»So kam er zu uns. Androgeos war sein Name. Dummer Junge, nicht sehr interessant und furchtbar angeberisch, was seine Fähigkeiten als Kämpfer und Athlet anging. Ich hätte ihn nie ermutigen sollen. Es war ein Fehler …«
»Er starb, während er sich hier als Gast aufhielt. Sein Vater Minos hat es … äh … nicht gut aufgenommen. Er schickte eine Flotte hierher, die unsere Marine überwältigte. Truppen strömten aus ihren verdammten Schiffen und bald hatte er uns, wo er uns haben wollte.«
»Aber er hat Athen nicht besetzt?«
»Meinte, das wäre es nicht wert. ›Kein Kreter würde an so einem Ort leben wollen‹, sagte er. Frechheit. Er drohte damit, die ganze Stadt niederzubrennen, falls nicht …«
»Falls nicht …?«
»Es ist so: Jedes Jahr müssen wir sieben Jungfrauen und sieben Jünglinge mit einem Schiff nach Kreta schicken, für … ihre …« Aigeus verstummte und gestikulierte hilflos.
»Für ihre, was? Armee? Sexuelle Lust? Neugier? Was?«
»Ich fürchte, ich muss dir zuerst eine Geschichte innerhalb einer Geschichte erzählen. Was weißt du von Daidalos?
»Nie davon gehört …«
»Daidalos ist kein es, es ist ein er.«
»Dann eben nie von ihm gehört.«
»Wirklich? Hast du von ASTERION gehört oder Pasiphaë oder vom Kretischen Stier?«
»Du sprichst in Rätseln.«
Aigeus seufzte. »Ich lasse lieber Wein bringen. Du solltest diese Geschichten kennen.«
In vieler Hinsicht ist Kreta (sagte Aigeus zu Theseus, nachdem Wein gebracht worden war und sie sich auf einer Couch niedergelassen hatten) ein gesegneter Fleck. Obst und Gemüse sind größer, saftiger und geschmackvoller als in anderen Landstrichen. Die Fische sind die besten des Mittelmeeres. Sie sind ein stolzes Volk, ein wildes Volk. Viele Jahre lang war König Minos in seinem Palast in Knossos ein harter, aber gerechter Herrscher. Es ging ihnen gut unter ihm. Aber im Herzen von Knossos gibt es ein dunkles Geheimnis.
Lange hatte König Minos das Glück, an seinem Hof den talentiertesten Erfinder zu haben, den geschicktesten Techniker neben dem Olympischen Schmied Hephaestos. Sein Name ist Daidalos, und er ist in der Lage, bewegliche Objekte aus Metall, Bronze, Holz, Elfenbein und Edelsteinen herzustellen. Er hat die Kunst gemeistert, Stahlblätter zu eng gewickelten, kraftvollen Federn zu formen. Sie kontrollieren die Räder und Ketten in komplizierten Mechanismen, die das Verrinnen der Stunden mit großer Präzision messen oder die Höhe des Wasserlaufs regulieren. Nichts, was dieser gewitzte Kopf nicht in seiner Werkstatt aushecken könnte. Dort gibt es bewegliche Statuen, Männer und Frauen, die durch sein Geschick animiert sind, Kästen, die Musik spielen, und Gerätschaften, die einen morgens wecken. Selbst wenn nur die Hälfte der Geschichten über Daidalos stimmt, hat mit Sicherheit kein klügerer Erfinder, Architekt und Werkmeister je auf dieser Erde gelebt.
Man sagt, er sei ein Nachfahre von KEKROPS, dem ersten König von Attika und Urvater aller Athener. Kekrops, der für Athene stimmte, als sie und Poseidon um die Kontrolle über die neue Stadt wetteiferten, die er gerade errichtete. Das ist der Grund, warum wir die Stadt Athen nennen und uns in der Weisheit und Wärme der großen Göttin sonnen. Ich erwähne dies nur, weil ich Daidalos, obwohl er für unseren Feind Minos arbeitet, als Athener betrachte, als einen von uns. Ansonsten würde ich es hassen, einen Kreter als so klug einschätzen zu müssen. Dann allerdings wurde Daidalos aus Athen verbannt. Er hatte einen Lehrling, seinen Neffen PERDIX, und es heißt, er sei talentierter und brillanter gewesen als sein Onkel. Noch bevor er zwanzig war, hatte Perdix die Säge erfunden (angeblich inspiriert von den Gräten der Fische), Kompasse für die Planung von Architektur und Geometrie sowie die Töpferscheibe. Wer weiß, was ihm noch alles eingefallen wäre, hätte sein eifersüchtiger Onkel ihn nicht von der Akropolis geschubst, von wo er in den Tod stürzte. Die Göttin Athene verwandelte ihn in ein Rebhuhn. Solltest du dich je gefragt haben, warum Rebhühner sich nie in die Höhe schwingen, stets tief fliegen und sogar ihre Nester am Boden bauen, liegt es daran, dass sie sich an ihren schrecklichen Absturz von den Höhen Athens erinnern.
Ja, ja, Theseus, du hast recht, das alles führt ein wenig vom Thema weg, aber ich muss dir die Geschichte auf meine eigene Weise erzählen. Minos hat eine Frau, PASIPHAË – sie und Daidalos sind sich sehr nah. Manche deuten sogar an, dass sie … nun, so viel sei gesagt, dass Minos ein schwieriger Ehemann ist und niemand es Pasiphaë übelnehmen würde, schaute sie sich ein wenig anderweitig um. Sie ist eine stolze Frau, immerhin die Tochter des Sonnengottes Helios, und besitzt große Kräfte. Sie ist die Schwester von Kirke und Aietes, ergo die Tante von Medea. Es gibt da eine Geschichte, wonach sie wegen der Untreue von Minos so ungehalten war, dass sie ihm heimlich einen Zaubertrank gemischt hat. Die Folge war, dass er am Ende des Liebesaktes nur Schlangen und Skorpione ejakulierte, was für alle Beteiligten recht schmerzhaft gewesen sein muss. Was sie aber als Nächstes tat, überraschte alle. Eines Tages sandte Poseidon einen weißen Stier aus dem Meer. Ach nein, ich habe es immer noch nicht in die richtige Reihenfolge gebracht.
Du kennst die Geschichte von Europa?252 Wer kennt sie nicht. Wie Zeus in Gestalt eines Stieres253 direkt unter den Augen von Kadmos und seinen Brüdern das Mädchen aus Tyros entführte. Sie zogen nach Griechenland, um sie zurückzuholen, und im Lauf seiner Abenteuer gründete Kadmos bekannterweise Theben. Seine Brüder gründeten ebenfalls Dynastien, Phönizien, Sizilien und so weiter, aber sie fanden nie ihre Schwester, die mit Zeus auf Kreta gelandet war. Nun, Europa gebar dem Gott einen Sohn, Minos, der die Insel regierte und nach seinem Tod einer der Richter der Unterwelt wurde. Sein Sohn ASTERION herrschte über Kreta, und dessen Sohn, Minos II, der jetzige Minos, übernahm. Aber Minos hatte Brüder, die seinen Anspruch bestritten. Minos allerdings bestand darauf, dass die Götter stets im Sinn hatten, ihn zum König zu machen, und um dies zu beweisen, brachte er Poseidon ein Gebet dar.
»Lass einen Stier aus dem Meer steigen, mein Gott Poseidon«, rief er, »damit meine Brüder sehen, dass Kreta mein ist. Ich werde den Stier in deinem Namen opfern und dich stets ehren.«
Und wirklich entstieg den Wellen der schönste weiße Stier. So schön, dass es zwei verheerende Folgen hatte: Erstens entschied Minos, er wäre viel zu hübsch, um getötet zu werden, und opferte ein minderwertiges Tier seiner Herde, was Poseidon ausgesprochen erzürnte. Und zweitens zog die erstaunliche Schönheit des Stiers Pasiphaë an. Sie konnte die Augen nicht von ihm wenden. Sie wollte ihn. Sie wollte ihn in ihrer Nähe, auf ihr und in ihr – tut mir leid Theseus, es ist wahr. Ich erzähle dir diese Geschichte so, wie sie bekannt wurde. Es gibt Leute, die behaupten, dass es der wütende Poseidon war, der sie verrückt vor Lust machte – Teil der Bestrafung des Minos dafür, dass er den Stier nicht geopfert hat –, aber wie immer es auch zustande kam, verspürte Pasiphaë ungestüme Lust auf das Tier.
Der Stier war – natürlich – ein Stier und hatte keinen Begriff davon, wie man auf die Avancen einer Frau eingeht. In ihrer wild überschäumenden erotischen Leidenschaft lief Pasiphaë zu ihrem Freund und vielleicht ehemaligen Liebhaber Daidalos und fragte ihn, ob er ihr helfen könne. Ohne zu zögern, angeregt vielleicht nur durch die intellektuelle Herausforderung, begann Daidalos eine künstliche Färse zu entwerfen. Er baute sie aus Holz und Messing, zog aber ein echtes Kuhfell über das Gestell. Pasiphaë kletterte hinein und präsentierte das gebotene Körperteil an der gebotenen Öffnung. Die Vorrichtung wurde auf eine Wiese gerollt, wo der Stier graste. Ich weiß, mein Junge, es ist unappetitlich, aber ich erzählte dir die Geschichte so, wie die Welt sie kennt.
Erstaunlicherweise funktionierte der verkommene Plan. Pasiphaë schrie vor Wonne, als der Stier in sie eindrang. Niemals hatte sie solch fleischliche Ekstase erlebt. Ja, lach nur, spotte und schnaube vor Hohn, wie du willst, aber so geschah es, Theseus.
Poseidon fand, dass Minos wegen seines respektlosen Verhaltens immer noch nicht genügend gelitten hatte, und machte nun den Stier verrückt. Unbezähmbar überzog er die Insel mit solchem Terror, dass Eurystheus ihn als Siebte Aufgabe für Herakles auswählte. Der reiste nach Kreta, bezwang das Tier und nahm es mit nach Mykene. Das war natürlich der Stier, der aus Mykene entkam, aufs griechische Festland überwechselte und die Felder von Marathon verwüstete, bis du, mein prachtvoller Junge, ihn zähmtest und schließlich nach Athen brachtest, um ihn zu opfern. Was für ein Stier, nicht wahr?
Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende, denn was als Nächstes auf Kreta geschah, war noch schlimmer. Pasiphaë, die den Samen des Stieres in sich trug, entband zu gegebener Zeit. Was herauskam war – ebenso erwartbar wie verdient – eine abscheuliche Anomalie, halb Mensch, halb Stier. Minos war angeekelt, aber weder er noch Pasiphaë hatten das Herz oder den Mumm, diese Anomalie zu töten. Stattdessen beauftragte Minos Daidalos damit, ein Gebäude zu entwerfen, wo diese Kreatur – der sie, nach Minos’ Vater, den Namen Asterion gaben, während der Rest der Welt vom MINOTAUROS spricht – sicher untergebracht war und nicht entkommen konnte.
Daidalos nannte sein Bauwerk Labyrinth. Es war ein Anbau des großen Palastes von Knossos und mit seinen Gängen, nackten Wänden, falschen Türen, Sackgassen und scheinbar identischen Korridoren, Galerien und Alkoven so ausgeklügelt und komplex wie ein Irrgarten. In seinem Innern könnte ein Mensch auf immer verloren gehen. Jeder kann eintreten, aber niemand findet den Weg wieder hinaus. Und in der Tat ist der Entwurf so raffiniert, dass er einen stets in die zentrale Kammer in seinem Innersten führt. Es ist ein steinernes Gelass, wo der Minotaur Asterion sein elendes, abscheuliches Leben lebt. Hoch über ihm befindet sich ein Gitter, das etwas Sonnenlicht einlässt und durch das man Nahrung abwerfen kann. Während er vom kindlichen Kalb zum Stiermann heranwuchs (ich sollte noch erwähnen, dass die untere Hälfte des Körpers die eines Menschen ist und die obere die eines Stiers mit Hörnern), wurde deutlich, dass Fleisch seine Lieblingsnahrung ist, am allerliebsten Menschenfleisch. Normalerweise wird eine gewisse Anzahl von Dieben, Banditen und Mördern auf Kreta zum Tode verurteilt, und ihre Körper dienen der Befriedigung des Minotauros, aber einmal im Jahr soll ihm eine besondere Freude gemacht werden. Und an diesem Punkt, Theseus, kommt dein Vater mit einer beschämenden, ehrlosen Rolle ins Spiel.
Wie ich dir erzählt habe, war Minos’ und Pasiphaës älterer Sohn Androgeos hier im Athener Palast zu Gast. Das war zufällig zu der Zeit, als der Stier, welcher der Vater von Minotauros war, aus Mykene entkommen war und Marathon terrorisierte. Androgeos war ein ermüdend eingebildeter und angeberischer Jüngling, ständig lamentierend, wie sehr die kretischen Männer den Athenern überlegen wären, im Rennen, im Ringen und so weiter. Eines Abends blaffte ich ihn an und sagte: »Nun, wenn du so verdammt mutig und athletisch bist, warum beweist du es nicht, indem du auf diesem verdammten Stier durch Marathon reitest?«
Er war so mutig oder so dumm, es zu versuchen, und wurde dabei natürlich getötet. Der Stier zerfetzte ihn, riss ihm die Eingeweide heraus und verstreute sie auf die Länge eines Stadions über die ganze Ebene. Minos wurde berichtet – fälschlich, wie ich dir versichern kann –, ich hätte Androgeos absichtlich in den Tod geschickt, weil ich pikiert gewesen wäre, wie leicht er unsere Athener Athleten bei den Wettkämpfen schlug, aber das ist Unsinn. Es war die Angeberei des Jungen, die mich provoziert hat.
Wie auch immer, in seiner Trauer und Wut stellte Minos eine Flotte zusammen und belagerte Athen. Wir waren völlig unvorbereitet. Ein Orakel sagte uns, wir sollten uns ergeben und einem Friedensvertrag zustimmen, wenn wir nicht an Hunger und Seuchen sterben wollten.
Und da befinden wir uns nun. Bei Minos’ Bedingungen.
Darauf, Athen bis auf die Grundmauern niederzubrennen, wird er großzügig verzichten, wenn wir zustimmen, jedes Jahr sieben Mädchen und sieben Jünglinge mit dem Schiff nach Kreta zu schicken, um sie … es gibt keine dezente Art, es auszudrücken … um sie an den Minotauros zu verfüttern. Als Gegenleistung für diesen Tribut wird Athen nicht angegriffen und behält seine Unabhängigkeit.
Ja, ich gebe zu, es ist eine Schande, und sicherlich hast du recht, wenn du findest, dass wir uns blamieren – aber was sollen wir tun?
»Ich sage dir, was wir tun können.« Theseus sprang wütend von seiner Couch auf. »Wir können uns weniger wie ängstliche Ziegen und mehr wie mutige Athener aufführen!«254
»Das sagt sich leicht, aber du warst nicht hier, als die Flotte von Minos im Hafen von Piräus …«
Doch Theseus interessierte sich nicht für die Vergangenheit, nur für die Zukunft. Das ist eines der Merkmale von Helden, das sie anziehend und abstoßend zugleich macht.
»Wie werden diese vierzehn Opferlämmer ausgesucht?«
»Ich bin stolz darauf«, sagte Aigeus und brachte alle Würde und königliche Autorität auf, die er besaß, »dass sie sich wie wahre Athener freiwillig melden. Hunderte bieten sich jedes Jahr willig an. Wir ziehen Lose, um die jeweilige Gruppe zusammenzustellen.«
»Einer der sieben Jünglinge werde ich sein«, erwiderte Theseus. »Und wir werden die anderen dreizehn nicht auslosen, sondern Spiele abhalten. Ich will, dass mich nur die leistungsfähigsten, flinksten, geschicktesten und klügsten nach Kreta begleiten, um diesem Unsinn ein Ende zu bereiten …«
»Aber Theseus, mein Junge – denk nach!«, jammerte Aigeus. »Die Bedingungen sehen vor, dass die vierzehn unbewaffnet auf Kreta eintreffen müssen. Was willst du ausrichten, wenn du vom ersten Landgang an unter Aufsicht stehst? Was für eine Rolle spielt es da, wie schnell, stark und klug du bist? Warum willst du dein Leben wegwerfen? Das System hat in den letzten fünf Jahren funktioniert. Es ist nicht … ideal, und ich gebe zu, dass es ein schlechtes Licht auf uns wirft, aber Niederlage ist Niederlage und …«
Theseus wollte nichts mehr davon hören. Er verließ das Gemach und begann sofort damit, die Spiele vorzubereiten, bei denen er die besten Athener Jugendlichen für die Reise nach Kreta auwählen konnte.
Aigeus seufzte. Er liebte seinen Sohn von Herzen, aber er fragte sich langsam, ob er vor all den Jahren einen Fehler gemacht hatte, als Pittheus ihn überredete, seinen Weinschlauch zu öffnen … vielleicht hatte das Orakel nur bedeutet, dass alles in Kummer und Leid enden würde.
An einem schönen Frühlingsmorgen am sechsten Tag des Monats Munichion255 saß Aigeus nervös auf dem Thron, der mit einer Trage zum Hafen von Piräus transportiert worden war. Ein kleines Schiff, gerade groß genug für fünf Crewmitglieder und vierzehn Passagiere, wurde beladen. Unter dem flatternden Baldachin lenkte der König sich damit ab, Kommandos für das Einladen von ein paar zusätzlichen Stücken Fracht zu geben.
»Kann nicht schaden, Minos einige Geschenke mitzubringen«, sagte er zu Theseus. »Sie erweichen vielleicht sein Herz. Wenn er weiß, dass mein eigener Sohn … mein eigener Sohn …«
Theseus legte seinem Vater eine Hand auf die Schulter. »Kopf hoch. Die Götter mögen Kühnheit. Wir werden zurück sein, bevor du dich auch nur umdrehst.« Er sprang auf das Seitendeck des Schiffes, um zu allen zu sprechen, die sich zu ihrer Verabschiedung am Kai versammelt hatten. Die Familien der dreizehn jungen Leute, handverlesen von Theseus persönlich, und von all denen, die sich angeboten hatten, standen vorn, leicht zu erkennen an ihren bleichen, abgespannten Gesichtern und der schwarzen Trauerkleidung, die sie trugen.
»Bürger von Athen!«, rief Theseus. »Seid guten Mutes. Wir jungen Menschen gehen frohen Herzens und wir werden zurückkehren und eure Herzen erfreuen.«
Die dreizehn hinter ihm, alle wie Theseus in weiße Opfergewänder mit Blumengirlanden gehüllt, hoben die Arme zum Gruß und jubelten. Die besorgten Familien am Kai taten ihr Bestes, ebenfalls zu jubeln.
»Hisst die Segel und auf nach Kreta!«
Während schwarzes Segeltuch sich entfaltete, eilte Aigeus zu seinem Sohn. »Hör mir zu«, sagte er. »Ich habe dem Kapitän Anweisungen gegeben. Ich werde Tag für Tag auf der Akropolis stehen und Ausschau halten. Sollte das Schiff leer zurückkehren, weil die Katastrophe eingetreten ist und ihr nicht …«
»… wird nicht passieren …«
»… dann soll er die schwarzen Segel aufziehen, aber wenn es den Göttern beliebte, euch zu verschonen und das Schiff im Triumph zurückkehrt …«
»… was sicher geschehen wird …«
»… soll er die weißen Segel hissen. Damit ich Bescheid weiß. Hast du das verstanden?«
Das ernste Gebaren des Königs amüsierte Theseus. »Mach dir keine Sorgen, Vater. Auf der gesamten Heimfahrt wird man nichts als weiße Segel sehen. Und jetzt schnapp dir einen Olivenzweig und winke und setze ein fröhliches Gesicht auf. Wir sind bereit loszusegeln.«
»Mögen die Götter dich segnen und stets auf dich aufpassen, Theseus, mein Sohn.«
Man betete noch zu Poseidon, Blütenblätter und Getreidekörner wurden ins Wasser geworfen, und das Schiff legte ab.
Aigeus hatte mit seiner Vermutung recht gehabt, dass man die Gesellschaft sofort verhaften würde, sobald sie in Kreta an Land ging. Auf der Überfahrt hatte Theseus darüber nachgedacht, wie er Wächter, die sie beaufsichtigen würden, überwältigen und einen Kampf anzetteln konnte, aber keine List wollte ihm einfallen. Noch bevor die Insel überhaupt in Sicht war, hatte eine martialische minoische Flotte ihr Schiff auf offenem Meer übernommen und in den Hafen gelenkt.
Ein Grüppchen hämisch johlender Kreter begleitete sie von den Docks in Heraklion bis zum Kerker des Palastes, wo sie die Nacht verbringen sollten. Während sie sich den Toren von Knossos näherten, rannte ihnen eine Kinderschar hinterher, rief Schmähungen und warf Steine.256
»Der Stiermann wartet!«
»Er wird eure Knochen zermalmen!«
»Ihr werdet euch einpissen! Das macht ihr immer!«
»Er wird euch zuerst ficken und dann auffressen!«
Einer der Jünglinge begann zu winseln.
»Pst!«, sagte Theseus. »Sie wollen dich vor Angst schlottern sehen. Gönne ihnen nicht die Befriedigung. Lasst uns singen …«
Mit einer Stimme, die eher kräftig als musikalisch war, begann Theseus zu singen. Es war die alte Hymne von Attika, das Lied, das die Geschichte von Kekrops und den Gründerkönigen von Athen erzählte. Wie Pallas Athene den Menschen den Olivenbaum gab und mit Poseidon wetteiferte, wer der Schutzheilige der Stadt werden sollte.
Nach und nach fielen die anderen mit wachsender Zuversicht ein. Die johlenden Kinder wussten nicht, was sie davon halten sollten, und waren enttäuscht. Eine Wache knurrte, sie sollten still sein, aber sie sangen nur umso lauter und inniger. Die Tore öffneten sich und ihre Stimmen echoten von den Schutzwällen.
Immer noch im Takt stampfend und singend, sammelten sie sich im Palast. Am Kopf der Treppe, die in den Kerker führte, mussten sie sich bücken, aber sie sangen weiter. Der oberste Treppenabsatz wurde von einem Eisengitter versperrt. Als der Kapitän der Wache einen großen Schlüssel hervorzog und ihn ins Schloss steckte, öffnete sich eine Tür über ihnen und Theseus blickte nach oben. Ein Mädchen erschien in der Türöffnung, vielleicht vom unerwarteten Klang ihres Gesangs angezogen. Sie schaute direkt nach unten in seine Augen. Augenblicklich spürte Theseus, wie eine Hitzewelle durch seinen Körper schoss. Das Mädchen schloss flugs die Tür.
Theseus versagte die Stimme. Wie betäubt ließ er sich mit den anderen, einschließlich der Schiffsmannschaft, in eine große, runde Zelle unterhalb des Palastes treiben. Im Licht der Fackeln, die rundum an der Mauer befestigt waren, sah er einen langen gedeckten Tisch, der mit äußerst farbenfrohem und appetitlichem Essen bestückt war. Einige der Athener stießen Entzückensschreie aus, bevor sie sich auf das Festmahl stürzten, aber Theseus fand keinen Gefallen daran. Selbstredend würde der Minotauros sich lieber an wohlgenährtem Fleisch gütlich tun.
Der Kapitän der Wache ließ seinen Speer mehrmals auf den Boden donnern: »Halt. Mädchen nach links, Jungen nach rechts. Seine Majestät wird euch nun inspizieren.«
Die Zellentür öffnete sich und die königliche Gesellschaft trat ein. König Minos hielt ein junges Mädchen bei der Hand, dessen Augen auf den Boden gerichtet waren. Als sie aufschaute, sah Theseus, dass es sich um dasselbe Mädchen wie in der Türöffnung handelte. Ihre Blicke begegneten sich noch einmal.
»Ich werde die jungen Männer untersuchen, Ariadne«, sagte Minos zu ihr. »Warum schaust du dir nicht zusammen mit deiner Mutter die Mädchen an?«
Königin Pasiphaë trat aus dem Schatten und griff nach dem Arm ihrer Tochter. Das also war die Frau, die mit einem Stier geschlafen und Minotauros geboren hatte. In Theseus’ Augen, die nur ihrer schönen Tochter galten, sah sie enttäuschend durchschnittlich und bieder aus. »Ariadne«. Was für ein köstlicher Name!
Theseus stellte sich mit den anderen sechs in eine Reihe. Die Mädchen wurden ihnen gegenüber aufgereiht, sodass Theseus nur Ariadnes Rücken stehen konnte, als sie mit ihrer Mutter die Reihe abschritt und die Athener Mädchen in Augenschein nahm.
»Nun, sie sehen wie Jungfrauen aus«, hörte er Pasiphaë in skeptischem Tonfall sagen, »aber wie kann man da schon sicher sein?« Ariadne schwieg. Theseus hätte nur zu gerne gehört, wie ihre Stimme klang.
In der Zwischenzeit stolzierte Minos die Reihe entlang und betrachtete jeden der jungen Männer mit kritischem Auge. Als er bei Theseus ankam, stupste er ihn mit seinem Zepter aus Elfenbein an. Theseus unterdrückte den Wunsch, ihn mitten in sein arrogantes, grinsendes Gesicht zu schlagen.
»Rotes Haar, ja?«, sagte Minos. »Auch ziemlich muskulös. Asterion wird das mögen. Sehr gut. Also, so läuft das jetzt ab.« Er erhob die Stimme, wandte sich um und sprach beide Gruppen an. »Über die nächsten zwei Wochen werdet ihr so viel Essen und Trinken bekommen, wie ihr wollt. Ab morgen werden wir den ersten Jungen aussuchen und ins Labyrinth schicken. Am Tag darauf wird es ein Mädchen sein. Ein Junge wiederum am folgenden Tag und so weiter, bis die zwei Wochen vorüber sind und die Letzten von euch genommen worden sind. Dann wird die Schiffmannschaft entlassen, damit sie ungefährdet mit der Nachricht nach Athen zurücksegeln kann, dass die Tribute entrichtet wurden und euer Königreich ein weiteres Jahr in Sicherheit ist. Verstanden?«
Stille. Theseus schaute zu Ariadne, die aufmerksam die Steinplatten der Zellentür zu mustern schien.
»Kein Weinen, kein Schluchzen, ich bewundere das«, sagte Minos. »Kopf hoch und tretet eurem Schicksal stolz entgegen, dann werdet ihr im Jenseits entlohnt werden. Das ist alles. Kommt Pasiphaë, Ariadne.«
In letzter Minute blickte Ariadne Theseus an. Und wieder trafen sich ihre Blicke für einen winzigen Moment. Ein winziger Moment, der eine ganze Lebensspanne voller Freude enthielt, voller Liebe und explosiver Seligkeit. Die Tür fiel ins Schloss und die jungen Leute schauten Theseus mit erwartungsvollen Mienen an. Sie waren freudig erregt, weil er lächelte.
»Du hast einen Plan?«, wollten man von ihm wissen.
Theseus erwachte aus seiner Trance. »Plan? Hm, ja … Plan.«
Er blickte um sich. Ihm würde doch sicher irgendetwas einfallen? Nach dem Gefühlssturm, der ihn erwischt hatte, nachdem er in die Augen von Ariadne geschaut hatte, war es ihm unmöglich zu glauben, sein Leben und das seiner Freunde solle bald zu Ende gehen. Da war doch sicher Eros am Werk gewesen? Der Tumult in seinem Herzen tobte doch gewiss auch in ihrem Herzen. Es konnte nicht vergebens sein. Es musste etwas zu bedeuten haben.
»Geht alle schlafen. Bis zum Morgen habe ich einen Plan.«
»Aber was soll das sein?«
»Schlaft. Schlaft einfach. Und alles wird sich regeln.«
Die üppigen Speisen und der starke Wein hatten sie müde gemacht, und es dauerte nicht lange, bis Theseus als Einziger noch auf den Beinen war.
Stille legte sich über die Szenerie, und Theseus lag bald ebenfalls auf dem Boden und döste, aber HYPNOS konnte nicht ganz von seinem Geist Besitz ergreifen. Kaum hörte er einen Laut, war er sofort wieder wach. Jemand kam den Gang entlang. Er sprang auf und lief zur Tür.
Zwei murmelnde Stimmen wurden lauter. Er konnte einen alten Mann hören, der irgendwie verzweifelt oder ängstlich klang, und das Raunen einer weiblichen Stimme.
Der Griff der Zellentür bewegte sich und zu seiner namenlosen Freude sah er durch das Gitter das Gesicht von Ariadne. Sie öffnete die Tür und trat ein, gefolgt von einem alten Mann, der nervös die Tür hinter sich schloss. Theseus trat auf sie zu.
»Warum bist du hier?«
Sie schaute ihm tief in die Augen. »Ist das eine Frage?«
Es schien ganz natürlich zu sein, ihr Gesicht in die Hände zu nehmen und mit Küssen zu bedecken.
Die Küsse wurden erwidert.
»Ariadne!«, hauchte er.
»Wie heißt du?«, fragte sie.
»Theseus.«
»Theseus?« Sie riss verwundert die Augen auf. »Der Sohn von Aigeus?«
»Genau der.«
»Natürlich …« Sie fiel ihm in die Arme.
Der alte Mann klopfte ihr ungeduldig auf die Schulter. »Ariadne!«, flüsterte er. »Die Wachen können jeden Moment kommen.«
Sie löste sich von ihm. »Du hast natürlich recht, wir müssen uns beeilen. Komm mit mir, Theseus. Wir werden die Insel gemeinsam verlassen.«
Theseus hielt inne. »Ich gehe nicht ohne meine Freunde«, sagte er.
»Aber …«
»Ich bin nicht gekommen, um mich in Luft aufzulösen, sondern um Minotauros zu töten und mein Volk von der Bürde zu befreien, die ihm auferlegt wurde.«
Sie schaute ihm wieder tief in die Augen. »Ja«, sagte sie schließlich. »Wir haben uns schon gedacht, dass du das sagen würdest.« Sie wies auf den alten Mann an ihrer Seite. »Das ist Daidalos. Er hat das Labyrinth gebaut, in dem das Ungeheuer lebt.«
Der alte Mann nickte Theseus auffordernd zu. »Einmal in diesem endlosen Irrgarten, wirst du niemals wieder den Weg hinausfinden«, sagte er.
»Gibt es keinen Schlüssel?«, fragte Theseus. »Ich habe gehört, wenn man die erste rechts und die zweite links nimmt oder irgend so eine Reihenfolge, dann knackt man den Irrgarten immer.«
»Dieser ist nicht so billig zu enträtseln«, sagte Daidalos gereizt. »Es gibt nur einen Weg – Ariadne, erkläre es ihm.«
»Die Gänge, die von hier durch das Labyrinth führen, sind dunkel«, sagte sie. Sie bringen dich unausweichlich ins Zentrum. Um aber zurückzufinden, benötigst du dieses Wollknäuel. Von der Stelle ab, wo die Wache dich verlässt, befestigst du ein Ende an der Türöffnung und entrollst es, während du dich fortbewegst. Auf dem Rückweg folgst du dem Faden und gelangst wieder nach draußen.«
»Einmal angenommen, ich bin der Letzte, der für den Minotauros ausgesucht wird«, sagte Theseus. »Ich kann nicht dreizehn junge Athener sterben lassen. Ich muss der erste sein.«
»Mach dir keine Sorgen. Ich werde den Kapitän der Wache bestechen und er wird dich morgen früh auswählen, versprochen. Ich kann dir allerdings keine Waffe geben. Du musst Asterion ohne bekämpfen.«
»Ich habe ohne Waffe gegen seinen Vater gekämpft und gewonnen«, sagte Theseus und dachte an den Marathonischen Stier.
»Wenn du ihn tötest, töte ihn schnell und barmherzig. Er ist ein monströser Fehler, aber er ist mein Bruder. Mein Halbbruder zumindest.«
Theseus lächelte sie an. »Ich liebe dich, Ariadne.«
»Ich liebe dich, Theseus.«
»Wenn ich ihn getötet habe, werde ich zurückkehren und meine Freunde befreien. Du wirst mit mir nach Athen segeln und wir werden dort als König und Königin herrschen. Verlasst mich nun beide, bevor uns jemand entdeckt.«
»Ein letzter Kuss«, bat Ariadne.
»Ein letzter, mmmmmm…«, erwiderte Theseus.
Obwohl er hellwach war, vergingen die nächsten Stunden für Theseus wie in einem Fiebertraum. Er hatte die Frau getroffen, mit der er sein Leben verbringen würde. Die Götter waren gut.
Er hatte keine Möglichkeit, die Zeit zu bestimmen. Der Schiffskapitän war der Erste, der aufwachte. Er gesellte sich zu Theseus und sie schauten hinab auf die schlafenden jungen Leute. Sie lagen auf dem Boden und hielten sich gegenseitig umfangen – die Blüte der Athener Jugend.
»Es heißt, das Monster töte schnell«, sagte der Kapitän. »Rein mit den Hörnern, dann den Kopf nach oben gerissen und einmal Lunge und Herz aufgeschlitzt. Es gibt schlimmere Tode.«
»Der Minotauros ist derjenige, der heute sterben wird.«
»Herr?«
»Lass uns davon ausgehen, dass ich der Erste bin, der ausgesucht wird, aber denselben Weg zurückkomme, den ich genommen habe. Bist du in der Lage, die anderen auf einen Kampf vorzubereiten?«
»Wir haben keine Waffen.«
»Ich werde sehen, was ich tun kann.«
»Nett von dir, dass du uns Hoffnung machst – großer Zeus, was war das?« Der Kapitän hielt inne und schaute sich erschrocken um.
Töne, wie man sie noch nie vernommen hatte, drangen aus den Tiefen des Palastes. Als dunkles, schwermütiges Bellen hatte es begonnen und schwoll nun zu einem mächtigen Wutgebrüll an.
Theseus legte eine Hand auf die Schulter des Kapitäns. »Unser Freund der Minotauros ist aufgewacht und ruft nach seinem Frühstück.«
Während er sprach, öffnete sich die Tür und vier Soldaten marschierten herein, gefolgt von einem fetten Gardekapitän mit selbstzufriedenem Gesichtsausdruck.
»Auf! Steht endlich auf, ihr Pack!«, blaffte er, stolzierte herum und verteilte Fußtritte. »Mal sehen … wen wollen wir nehmen, hä?« Die jungen Athener schreckten zurück und versuchten unsichtbar zu werden. »Du!« Der Kapitän wies auf Theseus. »Ja, du. Folge mir.«
Die übrigen Athener überspielten ihr ganz natürliches Gefühl der Erleichterung, indem sie überzeugende Entsetzensschreie ausstießen.
»Nein, nein! Nicht Prinz Theseus!«
Einer rief sogar: »Nehmt mich, nehmt mich stattdessen!«
Theseus beruhigte sie. »Tapfere Freunde«, sagte er. »Ich gehe willig und froh, um mein Schicksal zu erfüllen. Fürchtet euch nicht, wir werden uns wiedersehen und zusammen lachen, wenn wir uns daran erinnern.« Der Gardekapitän schubste ihn zur Tür. Theseus schob das Wollknäuel in die Achselhöhle und vertraute darauf, dass die unnatürliche Weise, in der sein Arm baumelte, seiner Furcht zugeschrieben würde.
Als sie durch einen dunklen Gang liefen, blickte ihn der Kapitän lange von der Seite an. »Was hast du denn gemacht, um Prinzessin Ariadne so zu ärgern? Sie hat mich angefleht, den großen Kerl mit dem Kupferhaar auf jeden Fall als Ersten ins Labyrinth zu bringen. Was hast du zu ihr gesagt?«
»Keine Ahnung.«
»Musst doch irgendwas gesagt haben.«
»Vielleicht, wie ich sie angeschaut habe.«
»Na ja, wirst jedenfalls dafür bezahlen.«
Sie kamen zu einem riesigen Bronzetor, in das eine kleinere Tür eingelassen war, die der Kapitän nun öffnete.
»Und hereinspaziert, mein Freund. Wenn du deinen Weg bis hierher zurückfindest, dann … aber das ist noch nie einem gelungen und wird es auch nicht.« Er gab Theseus einen Schubs. Schöne Grüße an den Stier!«
Die Tür schloss sich hinter ihm und Theseus stand im Dunkeln. Es war keine totale Dunkelheit. Ganz weit oben gab es Gitter, die genügend Mondlicht durchließen, um die feuchten Kanten und Ecken des Gangs zu erahnen, in dem er sich befand.
Er verharrte eine Weile, um seine Augen an die neuen Umstände zu gewöhnen. Ein Lichtstreifen zeigte ihm die Tür, durch die er gekommen war. Er drückte die Klinke hinunter. Sie war unverschlossen!
»Oh nein, so nicht, Freundchen«, tönte die hämische Stimme des Gardekapitäns. »Ich bleibe hier, bis ich weiß, dass du weg bist.« Die Tür schloss sich und schob Theseus zurück. Egal, da war ein Bolzen auf seiner Seite, um den er das Ende des Garns winden konnte. Dann drehte er sich um und lief los. Im Gehen ließ er langsam den Faden ab. So etwas hatte er noch nie erlebt. Zuerst nahm er wahr, dass es nach oben ging, dann bog er um eine Ecke und der Weg führte nach unten. Er zuckte vor Schreck zusammen, als er den Umriss eines Mannes ausmachte, der verstohlen auf ihn zukroch. Dann musste er lachten. Es war nur die Silhouette seiner selbst, reflektiert von einer Wandverkleidung aus polierter Bronze. Dies geschah noch weitere vier Male, während er voranschritt. Ecken und Vertiefungen, die nirgendwohin führten, verwirrten ihn. An einem Punkt war er überzeugt, im Kreis gelaufen zu sein, doch der Geruch und die Tatsache, dass es unablässig abwärts ging, sprachen dagegen.
In der Ferne vernahm er Geräusche, die lauter wurden, je weiter er vorankam: Schniefen und Stampfen, Bellen, Knurren und Grunzen. So wie das Knurren und Ächzen sich anhörte, lag eine Verzweiflung darin, die Theseus an etwas erinnerte. Er hatte es fast, als er auf etwas Knirschendes trat. Er bückte sich und fand eine menschliche Rippe, und noch eine und noch eine.
»Asterion, oh Asterion!«, rief er. »Ich komme …
Er lehnte sich an die Wand und blickte nach vorn, von wo ihm mehr Licht entgegenschien, als er in der letzten halben Stunde gesehen hatte. Hoch oben, durch das offene Dach, drang Mondlicht in einen Raum, der wohl das Zentrum des Labyrinths markierte. Bis hierhin war er um so viele Ecken gelaufen, hoch und wieder hinunter, war gegen Dutzende von Spiegeln gerannt und in Sackgassen gelandet. Er hatte den Eindruck, mehrfach im Kreis gelaufen und die doppelte oder dreifache Strecke zurückgelegt zu haben. Aber wenn er der Spur, die er hinterließ, dem Faden, Glauben schenken konnte, war das alles nur Einbildung. Der Anschein von Unübersichtlichkeit entsprach nicht der tatsächlichen Beschaffenheit des Labyrinths. Das war wohl das Geniale an Daidalos’ Entwurf. Das Labyrinth versetzte einen in Panik und zerstörte jedes Selbstvertrauen.
Als Theseus sich dem Zentrum näherte, stieg ihm der Geruch von verrottetem Fleisch, Exkrementen und Urin in die Nase. Er legte das nahezu abgerollte Wollknäuel auf den Steinboden, hustend ob des durchdringenden Gestanks. Der Gang verlief hier eben, und er konnte sicher sein, dass sein Lebensfaden ihm nicht wegrollen würde.
Er war froh, dass er keinerlei Angst verspürte, und dennoch verblüffte ihn, dass sein Herz raste. Konnte man Angst haben und sich gleichzeitig dessen nicht bewusst sein? Ein Schlurfen und Knurren und Stampfen kam von weiter vorn. So intensiv schien das silberne Licht durch das offene Dach, dass Theseus gezwungen war, die Augen im Wechsel zu schließen und weit aufzureißen, um etwas zu sehen.
Er befand sich in der Heimstatt des Minotauros. Er trat auf Knochen, haufenweise Dung und feuchtes Stroh, das, so Theseus’ Vermutung, vom Dach herabgeworfen wurde. Stille allenthalben, außer dem Pochen seines eigenen Herzens und dem abwechselnden Knirschen und Schmatzen seiner Schritte. Doch nun ein neues Geräusch, Kratzen von Horn gegen Stein. Etwas vorn in der Ecke bewegte sich. Eine Gestalt erhob sich aus dem Schatten. Rote Augen funkelten, als sie auf den sterblichen Mann gerichtet wurden, der es wagte näherzutreten.
»Hallo …«, sagte Theseus. Er hatte laut und deutlich sprechen wollen, brachte aber nur ein Flüstern hervor. Den mächtigen Kopf emporgereckt, gab der Minotauros ein gewaltiges Bellen von sich. Das Gebrüll hallte von den Steinwänden wider und echote durch die vier Gänge, die vom Zentrum abgingen. Theseus trat aus seinem Gang ein Stück nach vorn.
»Nein, nein«, rief er. »Damit schreckst du mich nicht. Jeder Stier auf der Wiese kann brüllen.«
Nach und nach konnte Theseus mehr Einzelheiten erkennen. Der Minotauros stand nun aufrecht auf den beiden menschlichen Beinen. Sein Kopf war riesig, die Hörner spitz. Der Nacken verbreiterte sich zu menschlichen Schultern, die Brust war mit fellartigem Haar beziehungsweise haarigem Fell bedeckt, das den ganzen Körper überzog. Zwischen den Beinen baumelte eine mächtige Rute beinahe bis zu den Hufen herab, die über den Steinboden schabten. Die Kreatur hielt inne und schaute Theseus von der Seite an. Ein langer Speichelfaden tropfte von ihren Lippen.
»Du bist schon ein Anblick, was?«, sagte Theseus. »Macht denn hier niemand sauber?«
Beide hoben gleichzeitig den Kopf, um auf die Öffnung über ihnen zu schauen.
Theseus musste über den komischen Einklang lachen. »Ich glaube fast, du hast mich verstanden.«
Der Minotauros knurrte, schnaubte und grunzte.
Plötzlich begriff Theseus, was ihn zuvor an der Stimme des Wesens so irritiert hatte. Es imitierte den Rhythmus der menschlichen Sprache. Offenbar versuchte der Minotauros zu sprechen, nur dass die tierischen Stimmbänder, mit denen er ausgestattet war, die erforderlichen Laute nicht produzieren konnten.
»Du versuchst zu sprechen, oder?«
Der heisere Schrei, den der Stier von sich gab, war Bestätigung genug.
»Du armes Ding. Asterion ist dein Name? Asterion, hör mir zu. Ich kenne den Weg aus diesem Irrgarten. Warum kommst du nicht mit mir? Wir segeln nach Athen. Ich werde mich persönlich darum kümmern, dass du eine Wiese nur für dich allein bekommst.«
Etwas wie ein Aufheulen ertönte und die mächtigen Halslappen des Tieres wurden geschüttelt.
»Nein? Was dann?«
Der Minotauros stand aufrecht da und stieß einen Schrei aus.
»Ruhig jetzt. Versuche mir zu helfen, damit ich verstehe.« Theseus wirkte ziemlich unbeeindruckt. »Ist nicht alles besser als ein Kampf? Dabei kann es nur ein Ergebnis geben. Ich werde dich töten. Ich möchte das nicht. Jetzt, wo ich dich kennengelernt habe, mag ich dich.«
Nun versuchte der Minotauros, ein anderes Geräusch zu machen. Er holte tief Luft und stieß etwas hervor, das in den Ohren von Theseus wie »Hö hi! Hö hi« klang.
Dann verstand er. »Töte mich? Sagst du Töte mich?«
Der Minotauros ließ seinen Kopf nach unten fallen, offenbar stimmte er zu.
»Dich töten? Bitte mich nicht darum.«
Der Minotauros bäumte sich auf. »Hö hi! Hö hi!«
Theseus stand nun ebenfalls kerzengerade da. »Dann lass es wenigstens ein Duell sein«, sagte er. »Du tötest mich … töte mich!« Als er dies sagte, trat er auf einen der Dunghaufen ein. Stinkende Spritzer trafen das Gesicht des Minotauros. »Komm, los jetzt!«
Das Ungeheuer ließ einen Wutschrei hören, als ein Brocken seines eigenen Kots ihm in die Augen spritzte. Er stampfte mit den Hufen auf, schüttelte den Kopf und stürzte sich auf Theseus.
Theseus wich erst nach links, dann nach rechts aus und provozierte den Minotauros, erneut anzugreifen. Doch der schüttelte nur verwirrt den Kopf.
»Ja! Ja! Los, komm jetzt«, schrie Theseus und trat rückwärts an die Mauer.
Der Minotauros schien sich anders zu besinnen, senkte die Hörner und griff an. Theseus sprang zur Seite und der Minotauros krachte mit dem Kopf voran gegen die Steinmauer. Das linke Horn zerbrach mit einem lauten Krachen und baumelte lose. Theseus vollführte eine Rolle vorwärts, riss ihm das Horn ab, und bevor der Minotauros begriff, was hier geschah, stieß er die scharfe Spitze in die Kehlfalte und durchtrennte mit aller Kraft die Luftröhre des Wesens.
Ein Blutschwall ergoss sich über Theseus’ Körper. Zappelnd führte der Minotauros eine Art Tanz auf, während Unmengen von Blut seinem Hals entströmten. Er rutschte auf den vom Blut glitschigen Steinen aus und fiel zuckend zu Boden.
Theseus kniete sich neben ihn und sprach sanft in sein Ohr. »Voller Respekt, Asterion, schicke ich dich geschwind zu deiner ewigen Ruhe. Die Welt soll wissen, dass du eines mutigen und edlen Todes gestorben bist.«
Das Aufschlitzen der Kehle musste die Stimmbänder gelöst haben, die Asterion eben noch die Macht der Sprache verweigert hatten. Trotz des sprudelnden Blutes, das aus dem Schnitt drang, konnte er nun sprechen. So deutlich wie von einem Orator auf der Akropolis vernahm Theseus das Wort »Danke«, bevor alles Leben aus dem monströsen Körper entwich.
»Lebe wohl, Stiermann«, hauchte Theseus. »Lebe wohl, Asterion, Sohn der Pasiphaë, Sohn des Kretischen Stiers, des Marathonischen Stiers. Lebe wohl, Bruder der wunderschönen Ariadne. Lebe wohl.«
Theseus folgte dem Faden, um das Labyrinth wieder zu verlassen. Als er durch die Tür schritt, die in das große Tor eingelassen war, saß ihm gegenüber der Gardekapitän auf einem Stuhl und schlief. Er schlich sich an, um dem Mann das Genick zu brechen und dessen Schlüssel an sich zu nehmen, bemerkte aber erst dann, dass er längst tot war und bereits jemand anderes die Schlüssel von dem große Eisenring an seinem Gürtel entfernt hatte. Er machte sich auf den Weg zum Kerker, wo seine Athener Freunde saßen, und fand dort Ariadne vor. Ihre Augen strahlten, als sie mit den Schlüsseln winkte.
»Ich wusste, dass du es schaffen würdest«, sagte sie.
Theseus umarmte sie. Instinktiv schreckte sie zurück.
»Du bist mit Blut besudelt!«
»Ich wasche es ab, sobald wir von hier fort sind.«
»War es schlimm?«
»Ich habe ihm einen schnellen Tod gegeben. Hast du den Gardekapitän beiseitegeschafft?«
»Das Schwein hat es verdient«, sagte Ariadne. »Die Dinge, die er versucht hat mir anzutun, als ich klein war. Nun wollen wir aber deine Freunde befreien.«
Die beiden und dreizehn freudestrahlende Athener stahlen sich durch eine Seitenpforte klammheimlich aus dem Palast und begaben sich zum Hafen, wo sie die Planken der kretischen Schiffe anbohrten, die dort vor Anker lagen, bevor sie an Bord ihres eigenen Schiffes gingen und die Segel setzten.
Der Tag brach schon an, als sie die offene See erreichten. Die sechs Jungen und sieben Mädchen, Theseus und die Mannschaft unterstützten die Segel, indem sie sich zusätzlich in die Riemen legten, und bald war Kreta außer Sichtweite. Obwohl sie im Hafen von Heraklion die kretische Flotte versenkt hatten, bestand immer noch das Risiko, auf ein patrouillierendes Kriegsschiff zu treffen. Also fuhren sie weiter, bis sie die Insel Naxos erreichten, wo sie an Land gingen, um die Nacht zu verbringen.
Dort schlief Theseus, inzwischen vom getrockneten Blut des Minotauros gereinigt, endlich mit Ariadne. Sie liebten sich drei Mal im Mondlicht, bevor sie aneinandergeschmiegt einschliefen.
Theseus hatte einen außerordentlich scheußlichen Traum. Er begann mit lautem Geschrei.
»Geh! Geh und verlasse unsere Insel. Geh! Nimm deine Athener, aber lasse Ariadne hier, die mir versprochen ist. Geh, oder ihr werdet alle sterben. Ihr werdet alle sterben.«
Theseus wollte sich wehren, aber der Umriss einer Gestalt formte sich aus dem Nebel der Träume und kam auf ihn zu. Ein junger Mann mit Weinblättern im Haar. Er war gleichzeitig schön und schrecklich anzusehen.
»Drei Möglichkeiten. Bleibe hier mit Ariadne und du stirbst. Nimm Ariadne mit dir und du und alle deine Begleiter sterben. Geh mit deinen Leuten und du lebst. Meine Schiffe werden kommen. Nichts kann sie aufhalten. Geh, geh, geh!«
Theseus wusste, dass der junge Mann der Gott Dionysos war. Schweißüberströmt und atemlos setzte er sich auf. Ariadne lag friedlich schlafend neben ihm.
Er ließ sie dort und ging zum Strand, um nachzudenken. Sein Kapitän konnte auch nicht schlafen und gesellte sich zu ihm. Eine Weile liefen sie schweigend im Sand auf und ab.
»Ich hatte einen Traum«, sagte Theseus schließlich. »Nur ein Traum, aber er macht mir Sorgen.«
»Der Gott Dionysos?«
Theseus starrte ihn an. »Sag mir nicht, du auch?«
Schweigend weckten sie die anderen.
»Wir haben keine Wahl«, sagte der Kapitän wieder und wieder zu Theseus. »Wir müssen sie zurücklassen.«
Als sie weit draußen auf See waren, blickte Theseus zurück und dachte, er könne die einsame Gestalt Ariadnes im Mondlicht am Strand erblicken. Von der anderen Inselseite näherte sich schon die Flotte von Dionysos. Theseus trauerte über den Verlust des Mädchens, in das er sich verliebt hatte, aber er wusste, dass die Sicherheit der jungen Leute in seiner Obhut Vorrang hatte. Er musste sein eigenes Glück opfern. Er musste sie opfern.
So zumindest lautet die Athener Erklärung dafür, warum Ariadne auf Naxos zurückgelassen wurde. In anderen Versionen ließ Theseus sie auf der Insel zurück, weil sie ihm nicht mehr von Nutzen war. Sie hatte ihre Schuldigkeit getan und man konnte auf sie verzichten. In einigen kretischen Erzählungen erreichte Dionysos tatsächlich Naxos, heiratete Ariadne (wobei er ihr Hochzeitsdiadem als Sternbild Corona Borealis an den Himmel erhob), hatte mit ihr mindestens zwölf Kinder und belohnte sie nach ihrem Tod, indem er sie zusammen mit seiner eigenen Mutter Semele aus dem Hades rettete. Und sie lebten glücklich bis ans Ende der Tage auf dem Olymp.
Es fällt schwer, einen Theseus zu mögen, der herzlos ein Mädchen sitzenlässt, das so viel getan hat, um ihn und seine Begleiter zu retten. Zweifellos ist dies der Grund, warum die Athener Version der Ereignisse die schwere Wahl betont, die er zu treffen hatte, und sogar nahelegt, dass Ariadne auf irgendeine Weise Dionysos schon versprochen war, bevor sie auf Theseus traf. Somit läge die Schuld bei ihr. Die Athener wollten nichts hören, was ihren Lieblingshelden in schlechtem Licht erscheinen ließ.
Auf dem gemeinsamen Heimweg nach Athen rüttelte der Kapitän einen bedrückten und nachdenklichen Theseus an der Schulter.
»Schaut hoch, Herr, schaut hoch!«
Theseus sah, dass jeder Einzelne an Bord nach oben in die Sonne starrte.
»Was ist los?«, fragte er und wandte seinen Blick ebenfalls nach oben. »Was soll ich mir anschauen?«
Und dann sah er es. Zwei Männer flogen über den Himmel. Ein älterer und ein jüngerer Mann. Sie hatten ausladende weiße Flügel. Der jüngere Mann schoss nach oben und dann wieder nach unten. Sogar aus dieser Entfernung konnte man erkennen, wie viel Spaß er dabei hatte.
Minos wurde mit schrecklichen Nachrichten geweckt. Man hatte von weit oben durch den Gitterrost geschaut und festgestellt, dass der Minotauros erschlagen im Labyrinth lag. Der Gardekapitän war ebenfalls tot. Die Athener waren geflüchtet und die große minoische Flotte beschädigt. Schlimmer noch, Prinzessin Ariadne war nirgends aufzufinden. Vielleicht hatte jemand sie gefangen genommen, vielleicht …
Minos wusste, wen die Schuld traf. Wenn der Minotauros tot war und sein Mörder entkommen, konnte dies nur bedeuten, dass Daidalos auf irgendeine Weise das Geheimnis des Labyrinths verraten hatte. Minos befahl, dass der Erfinder und sein Sohn Ikaros ins Turmverließ des Palastes eingesperrt werden sollten, rund um die Uhr von einem Posten vor der Tür bewacht. Dort sollten sie auf ihr Todesurteil warten.
Ikaros stand am Fenster ihres Gefängnisses und blickte hinab aufs Meer.
»Wenn wir weit genug springen, könnte es gelingen, dass wir nicht auf den Felsen, sondern im Wasser landen«, sagte er.
Daidalos gab keine Antwort. Er war beschäftigt. Der Turm, in den man sie gesperrt hatte, war voller Vögel, Vogelscheiße und Vogelfedern.
»Was machst du, Paps?«
»Gib mir diese Kerzenstümpfe.«
»Bastelst du was?«
»Pst! Stör mich nicht.«
So brachte er ihn immer zum Schweigen, wenn er an etwas Wichtigem arbeitete. Ikaros streckte sich auf dem Boden aus und schlief ein.
Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sein Vater ihn aufgeregt weckte. »Auf, Ikaros, auf! Zieh die hier an.«
»Was ist das?
Ikaros rappelte sich benommen auf und ließ sich von Daidalos Ledergurte anlegen. Er wandte den Kopf, um zu sehen, was der da machte und warum es ihn an den Schultern so kitzelte.
»Tritt einen Schritt zurück und versuche, sie auszufahren.«
»Diesmal hast du dich wirklich selbst übertroffen, Paps.«
Daidalos legte sein eigenes Paar an. »Hör auf zu kichern und hilf mir lieber.«
Geduldig wies er Ikaros in ihren Gebrauch ein.
»Aber Paps, heißt das, wir sollen aus dem Fenster springen und darauf vertrauen, dass sie uns in der Luft halten?«
»Ich habe mein ganzes Leben damit zugebracht, die Vögel zu studieren. Für sie ist die Luft kein leerer Raum, sie ist so stabil wie für uns der Boden unter den Füßen oder das Wasser für die Fische. Sie hält sie oben und sie wird uns oben halten. Du musst nur daran glauben.«
Er befestigte die Ledergurte an den Flügeln seines Sohnes, sodass sie seine Schultern fest umspannten. »Jetzt höre mir zu, Ikaros. Wir fliegen über das Meer nach Athen, wo Theseus uns ganz sicher willkommen heißen wird. Aber Vorsicht. Fliegst du zu tief, werden deine Flügel sich mit Wasser vollsaugen und dich nach unten ziehen. Fliegst du zu nahe an der Sonne, wird die Hitze ihrer Strahlen das Kerzenwachs zum Schmelzen bringen, das die Federn zusammenhält, verstanden?«
»Klar«, sagte Ikaros und hüpfte vor Aufregung herum. »Nicht zu tief, nicht zu hoch.«
»Soll ich anfangen?«
»Keine Angst, Paps«, rief Ikaros schon auf dem Weg zum Fenster. Ich mache das schon. Huuuuuuui!«
Er sprang und hörte noch die Stimme seines Vaters hinter sich.
»Breite die Flügel aus! Ausbreiten! Setz sie dem Wind aus!«
Er folgte und spürte augenblicklich, wie der Aufwind von unten drückte und ihn in der Luft hielt. Er flog! Seine Flügel lagen gut im Wind, und er wusste, dass sie ihn dort halten würden. Sein Vater hatte recht, die Luft war eine solide Angelegenheit. Schnell gewöhnte er sich daran, mit den Armen hierhin und dorthin zu steuern. Er benötigte nur minimale Bewegungen, um seine Flugbahn zu kontrollieren. Unter ihm kräuselte sich das Meer und schlug gegen die Küstenlinie von Kreta, die einzige Heimat, die er je gekannt hatte. Sein Vater erschien vor ihm, ebenfalls mit ausgebreiteten Flügeln.
»Die Säulen warmer Luft, die von den Klippen unter uns aufsteigen, halten uns noch ein wenig auf«, schrie er. »Wenn wir erst über offener See sind, heißt es Flügelschlag und gleiten, Flügelschlag und gleiten.«
»Wie die Möwen?«
»Genau wie die Möwen. Folge mir. Athen liegt in dieser Richtung, und denk dran …«
»Ich weiß – nicht zu hoch, nicht zu rief«, lachte Ikaros.
»Aber nicht vergessen.«
»Uaah!«, schrie Ikaros überrascht, als eine Möwe urplötzlich seine Bahn kreuzte. Er riss sich zusammen und hechtete seinem Vater hinterher.
Von ganz weit unten blickte Theseus nach oben und schaute dem aufsteigenden, herabstoßenden, gleitenden, kurvenden Ikaros zu.
Ikaros, nun nicht mehr in der Nähe von Daidalos und außer Hörweite, entdeckte das Athener Schiff mit seinem schnabelartigen Bug ganz unten. Ha!, dachte er. Denen werde ich den Schreck ihres Lebens einjagen. Aber zuerst noch ein wenig an Höhe zulegen.
Weiter und weiter nach oben stieg er, um an Höhe für sein geplantes Sturzkampfmanöver zu gewinnen. Er war nun so hoch, dass er Theseus’ Schiff kaum mehr sehen konnte, so hoch, dass … so hoch, dass es sehr heiß wurde. Er schrie vor Angst, als einige Federn sich wegen der Hitze lösten. Das Wachs schmolz! Er warf sich auf die Seite und senkte den Kopf ruckartig, um so weit wie möglich von der Sonne wegzutauchen, aber es war zu spät. Die Federn fielen wie Schnee und sein Absturz begann. Die Luft, nun kalt und hart, verdrosch ihn. Das Meer schien auf ihn zuzurasen. Wenn er seine Schultern ganz schmal machte, könnte er vielleicht in die Oberfläche eintauchen und wieder sicher nach oben kommen.
Daidalos musste in hilfloser Verzweiflung zusehen. Ihm war klar, dass das Meer von einer solchen Höhe herab wie ein Bett aus Granit war. Er beobachtete, wie der Körper auf den Wellen zerbrach, und wusste, dass die Knochen seines Sohnes zermalmt wurden und alles Leben aus ihm entwich.
»Oh Ikaros, Ikaros, mein geliebter Junge. Warum hast du nicht auf mich gehört? Warum musstest du so nah an der Sonne fliegen?«
Tragisches Wehklagen wie dieses hat man seitdem von Generationen von Vätern gehört – nur dass der gerufene Name jeweils ein anderer war. Es ist das Schicksal mancher begabter Kinder, zu nahe zur Sonne aufzusteigen und abzustürzen, ganz gleich wie viele Male man sie vor der Gefahr gewarnt hat. Manche überleben, viele aber nicht.257
Daidalos schoss nun nach unten und rettete den zerschmetterten Körper seines Sohnes, den er auf einer nahe gelegenen Insel begrub, die bis heute Ikaria genannt wird. Es heißt, dass ein Rebhuhn Zeuge der Beerdigung wurde und unter Triumphgeschrei mit den Flügeln schlug. Perdix hatte die zweifelhafte Befriedigung mitzuerleben, wie Daidalos’ Sohn zu Tode kam, so wie er selbst von Daidalos gestoßen worden war. Der trauernde Vater zog durch den Mittelmeerraum und fand schließlich eine Stelle am Hof von König Kokalos von Kamikos im südlichen Sizilien.
Die Wut von Minos, nachdem er herausgefunden hatte, dass seine Vögelchen buchstäblich ausgeflogen waren, kannte keine Grenzen. Seine Tochter verloren, sein Ruf als mächtiger, unbesiegbarer König arg ramponiert, gedemütigt durch die Flucht von Daidalos, schwor er Rache. Also durchkämmte er die gesamte griechische Welt nach dem Erfinder und nahm dazu ein spiralförmiges Schneckenhaus mit. In jedem Königreich, jeder Provinz und auf jeder Insel, die er besuchte, verkündete Minos, diejenigen mit Gold zu belohnen, die es schaffen würden, einen Faden durch dieses komplexe, spiralig gewundene Schneckenhaus zu ziehen. Er glaubte, Daidalos sei der einzige Mann auf der Welt, der klug genug war, eine Lösung hierfür zu finden.
Nach Jahren der Suche kam Minos schließlich in Kamikos an. König Kokalos nahm Minos’ Herausforderung an und brachte das Schneckenhaus zu Daidalos, der das Problem rasch löste, indem er das Ende eines Fadens an eine Ameise band, die er mit einigen Tropfen Honig dazu verlockte, durch das Schneckenhaus zu krabbeln. Ein triumphierender Kokalos präsentierte Minos das Ergebnis und verlangte seine Belohnung.
Minos richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Nur Daidalos, der Werkmeister, Daidalos, der Erfinder, Daidalos, der Verräter, kann das geschafft haben«, erklärte er. »Übergib ihn mir, oder ich werde unverzüglich nach Kreta reisen und mit einer Flotte wiederkehren, die dich und dein Königreich erobert und vernichtet.« Minos mochte von Theseus geschlagen worden sein, aber er befehligte immer noch die größte Seemacht.
»Ich möchte mich mit meinem Rat zusammensetzen und besprechen«, sagte König Kokalos.
Damit meinte er »lass mich meine Töchter fragen«. Er wusste, dass seine Mädchen Daidalos anbeteten, der sie in ihrer Jugend unterhalten hatte, indem er ihnen alle möglichen Tricks beibrachte. Er rief die Mädchen zusammen und berichtete ihnen von der Drohung.
»Sag Minos«, meinte seine älteste Tochter, »dass du ihm Daidalos morgen in Ketten übergibst. Aber heute Abend lass ihn baden, essen, trinken, der Musik lauschen und verwöhne ihn, wie es einem großen König zukommt.«
Kokalos gehorchte seinen Töchtern wie immer und übermittelte die Botschaft.
Minos verbeugte sich ob der Ehre, die ihm zuteilwurde.
Es traf sich gut, dass der rastlose und stets erfindungsreiche Daidalos ein Heizungssystem für den Palast erfunden und installiert hatte, ein Geflecht von Röhren, die aus einem zentralen Kessel mit heißem Wasser versorgt wurden, das allererste seiner Art.
An diesem Abend ging Minos ins Bad, kam aber nie wieder heraus. Unten im Hypokaustum hatten die Geschwister das Wasser bis zum Siedepunkt erhitzt. Es schoss aus den Röhren seines Badezimmers und verbrühte Minos, bis er eines schmerzhaften Todes starb.
Wir haben Theseus und seine dreizehn Gefährten an Bord ihres Schiffes verlassen, als sie in den Himmel starrten, um den Flug von Daidalos und Ikaros zu verfolgen. Als sie Kurs auf Athen nahmen, schwirrte Theseus der Kopf. Die Schuld an der Preisgabe von Ariadne nagte an ihm, und der tödliche Absturz des Ikaros hatte ihn erschreckt und bestürzt.
So tief in Gedanken versunken war er, dass ihm und dem Kapitän etwas sehr Wichtiges entfallen war, sogar noch, als sich das Schiff bereits in Sichtweite des Hafens von Piräus befand. Sie hatten ihr Versprechen vergessen, die schwarzen Segel einzuziehen und die weißen zu hissen, um Aigeus wissen zu lassen, dass sie im Triumph zurückkehrten.
Jeden Tag hatte der König auf den Klippen gestanden und nach ihnen Ausschau gehalten. Nun tauchte die bekannte Silhouette des Athener Schiffes am Horizont auf. Es handelte sich fraglos um das Schiff seines Sohnes Theseus, doch welche Farbe hatten die Segel? Das Schiff war so weit entfernt. Gegen den hellen Himmels sahen die Segel schwarz aus, aber vielleicht sah man sie nur schemenhaft … nein … zu viel der Hoffnung. Je näher das Schiff kam, desto deutlicher wurde, dass die Segel so schwarz waren wie der Tod. Sein tapferer, törichter, erst kürzlich gefundener Sohn war tot.
Aigeus begriff endlich, was die Prophezeiung des Orakels zu bedeuten hatte.
Aigeus muss sich hüten, das vorstehende Ende eines Weinschlauches zu öffnen, bevor er die Höhen von Athen erreicht hat, sonst wird er vor Kummer sterben.
Er hätte sich seinerzeit direkt von Delphi nach Athen begeben sollen. Stattdessen war er nach Troizen gereist, wo er irgendwie mit Aithra im Bett gelandet war. Er hatte das Ende seines Schlauches geöffnet. Er hatte Theseus gezeugt, der ihm eine kurze Zeit so viel Freude gemacht hatte, doch nun – es war die Wahrheit, die Orakel hatten immer recht –, doch nun war er zu Tode betrübt.
Mit einem Verzweiflungsschrei stürzte er sich in den Tod. Er sprang in die Tiefe, in das Meer, das seither zu seinen Ehren Ägäis genannt wird.
Es ist schwer zu sagen, was für ein König Theseus war. Die Athener, von denen ein Großteil der überlieferten Geschichte stammt, verehrten ihren Gründerkönig sehr. Sofern wir ihnen Glauben schenken dürfen, war er für sie weit mehr als nur der Erfinder des Ringens und des Stiersprungs. Man hält ihn auch für den Begründer der Demokratie, der Justiz und allgemein des guten Regierens, außerdem gilt er als Inbegriff von Intelligenz, Witz, Erkenntnis und Weisheit – Qualitäten, von denen die Athener (sehr zum Ärger ihrer Nachbarn) glaubten, sie repräsentierten auf einzigartige Weise ihren eigenen Charakter und ihre Kultur. Es ist allgemein anerkannt, dass er kleinere Regionen und Provinzen von Attika (bekannt als Demen) unter der Herrschaft der Athener Polis beziehungsweise des Stadtstaates258 zusammenführte. Dieses System galt bis zur klassischen Periode als beispielhaft für die Regierungsverwaltung im antiken Griechenland.
Unzweifelhaft ist, dass Theseus ein durch und durch menschliches Wesen war, mit all den Schwächen, Stärken und Widersprüchen, die unserem Wesen auferlegt sind. Vieles, was in seinem Leben nach der Geschichte mit dem Minotauros geschah, resultierte aus der Freundschaft zwischen Theseus und PEIRITHOOS, eine der großen Männerfreundschaften in der griechischen Mythenwelt. Wie später auch im Fall des Duos Achilles und Patroklos legen manche griechischen Quellen nahe, dass es da ein sexuelles Element gab. Aber selbst wenn dem so war, dann hatte es keinen Einfluss auf die Frauengeschichten und Seitensprünge von Theseus und Peirithoos.
Peirithoos, König der Lapithen, war der Sohn von Dia und Zeus. Dia war die Frau von Ixion gewesen. Zeus band Ixion wegen des Versuchs, Hera zu verführen, an ein Feuerrad, und stellte seinerseits der verführerischen Frau von Ixion nach. So verlogen das klingt, aber Zeus war eben Zeus. In der Form eines Hengstes näherte er sich Dia, die Peirithoos zur Welt brachte. Dieser erwarb sich als Erwachsener den Ruf eines herausragenden Kriegers und – nicht sonderlich überraschend – Reiters.259
Weil er den neuen König von Athen, von dessen exzellentem Ruf er gehört hatte, prüfen wollte, überfiel Peirithoos Marathon und raubte eine Herde von Theseus’ Lieblingsrindern.260 Wütend zog Theseus nach Larisa, der Hauptstadt der Lapithen, und spürte Peirithoos auf, um ihn zu töten, ihm zumindest aber eine Lektion zu erteilen. Doch in dem Moment, in dem sie sich trafen, stellten sie fest, dass sie sich mochten, und schworen sich ewige Freundschaft.
Die Freundschaft wurde bald auf die Probe gestellt, denn Peirithoos saß nicht unangefochten auf dem Thron in Thessalien. Die Kentauren, halb Mann, halb Pferd, glaubten, als Nachkommen von Ixion größeren Anspruch auf die Herrscherwürde zu haben als Peirithoos.261 Man hatte ihnen zwar den Berg Pelion zugesprochen, doch betrachteten sie das als Beleidigung und verlangten mehr. Die Situation spitzte sich bei der Hochzeit von Peirithoos und Hippodamia262 zu. Aus diplomatischen Gründen hatte Peirithoos darauf geachtet, die Kentauren einzuladen, aber als Milchtrinker vertrugen sie den Wein nicht, der während des Festes in Strömen floss. Die Wirkung des Alkohols brachte sie dazu, sich abscheulich zu benehmen.263 Einer von ihnen, EURYTION, versuchte die Braut Hippodamia zu vergewaltigen, während sich die übrigen Kentauren den anwesenden Frauen und Jünglingen aufdrängten. Peirithoos und Theseus, als Ehrengast, gingen auf sie los.
Ein recht berührender Nebenstrang der Geschichte dieses ansonsten grausigen, wilden Kampfes (manchmal auch Kentauromachie genannt oder »Kampf der Kentauren«264) berichtet vom traurigen Ende eines Lapithen namens KAINEUS. Er war als Mädchen KAINIS geboren worden. Eines Tages war sie Poseidon ins Auge gefallen, der sie nahm. Hocherfreut von dieser Erfahrung, gewährte der dankbare Gott ihr einen Wunsch. Sie hatte an der Vergewaltigung keinerlei Gefallen gefunden und wünschte sich, in einen Mann verwandelt zu werden, um so jede weitere Demütigung dieser Art für alle Zukunft auszuschließen. Poseidon, beschämt vielleicht, gewährte ihr nicht nur diesen Wunsch, sondern machte ihre Haut – inzwischen ein er – unverwundbar. Kaineus war bei der Hochzeit von Peirithoos und Hippodamia zugegen und kämpfte an der Seite von Peirithoos und Theseus gegen die Kentauren. Einer der Kentauren, Latreos, machte sich darüber lustig, dass er einmal eine Frau gewesen war. Kaineus griff Latreos an, war aber dank seiner Unverwundbarkeit vor den wütenden Gegenangriffen seines Kontrahenten sicher. Als die anderen Kentauren feststellten, dass ihre Pfeile und Speere von Kaineus’ undurchdringlicher Haut abprallten, häuften sie Steine über ihm auf und trieben ihn mithilfe von Pinienstämmen in den Erdboden, wo er erstickte.
Trotz des Verlustes von Kaineus gewannen Peirithoos und seine Lapithen schließlich die Oberhand. Die überlebenden Kentauren galoppierten besiegt und entmutigt davon, darunter Nessos, dessen Schicksal es sein sollte, Herakles zum Verhängnis zu werden.265
Als in Thessalien nun friedliche Zeiten anbrachen, konnte Peirithoos seinem Freund dabei behilflich sein, eine Frau zu finden. Sie entschieden sich für die Amazonenkriegerin ANTIOPE, Schwester von Hippolyte, die Herakles im Zuge seiner neunten Aufgabe ihren Kriegsgürtel geschenkt hatte.266 Obwohl Antiope gewaltsam entführt wurde, geht man davon aus, dass sie sich in ihn verliebte, nachdem Theseus sie zu seiner Frau und Königin gemacht hatte. Sie gebar ihm einen Sohn, HIPPOLYTOS, den sie nach ihrer Schwester benannten, der großen Amazonenkönigin.
Die Amazonen hatten andere Vorstellungen. Einen Mann zu heiraten, widersprach allem, wofür diese stolzen, männerfeindlichen Kriegerinnen standen.267 Mit vereinten Kräften und ohne Unterlass griffen sie Athen an, man spricht hier vom Attischen Krieg. In der Schlacht auf dem Areopag, dem Hügel des Ares,268 wurden die Amazonen schließlich besiegt. Während des Geschehens wurde Antiope schwer verwundet. Obwohl sie für die andere Seite kämpfte, erlöste eine Amazone namens MOLPADIA sie mit einem gut gezielten Pfeil durch den Hals von ihrer Qual. Als Theseus dies sah, tötete er Molpadia. Wie so viele mythische Orte wurde ihr Grabstein von dem berühmten Reiseschriftsteller Pausanias besucht, der mit seinen Beobachtungen oftmals eine Brücke zwischen Mythos, Legende und so etwas wie Geschichte schlägt.
Der Attische Krieg, genauso wie der Kampf gegen Hippolyte und ihre Amazonen im Verlauf der neunten Aufgabe des Herakles, ist Teil einer umfassenden Amazonomachie – noch eine -machie, wieder ein Beispiel für die Zähmung von Wildheit. Die Griechen sahen sich dabei als Erlöser. Sie befreiten die Welt von barbarischen, monströsen, unzivilisierten Elementen, die wie unkontrollierte Seuchen ihren Sinn für Harmonie und Ordnung bedrohten.269
Der »Amazonenkrieg« lieferte der griechischen Malerei und Bildhauerkunst einige ihrer beliebtesten Motive. Gleiches gilt für die KENTAUROMACHIE (Krieg zwischen den Lapithen und Kenturen bei Peirithoos’ Hochzeit), die TITANOMACHIE270 (Krieg der Olympischen Götter gegen die Titanen) und die GIGANTOMACHIE271 (Krieg der Götter gegen die Giganten, in dem Herakles so tapfer focht).272 Die Themen, um die es hier geht, lassen sich am ehesten symbolisch deuten. Sie stehen für das Selbstverständnis der Griechen als Meister der Ordnung und Zivilisation im Kampf gegen wüste Barbarenhorden und Monster. Zugleich lassen sie sich als narratives Ausagieren eines Kampfes werten, in dem es darum geht, unsere primitiven Instinkte und die dunklen, gefährlichen Elemente unserer menschlichen Natur zu zähmen.
Nachdem die Amazonen besiegt waren, gerieten Peirithoos und Theseus in eine Art Midlifecrisis. Sie entschlossen sich, nach neuen Bräuten Ausschau zu halten. Ihre Wahl sollte sich als gewagt und verhängnisvoll erweisen.
Sein neuer Freund half Theseus, die junge Helena273 aus Sparta zu entführen, während Peirithoos fand, dass es amüsant wäre, Persephone, die Königin der Unterwelt, als seine Ehefrau zu wählen. Als er die irrsinnige Idee formulierte, hinab ins Reich der Toten zu steigen und Persephone ihrem Ehemann Hades vor dessen Augen auszuspannen, nickte Theseus, der Held, Theseus, der Weise, Theseus, der Clevere, begeistert.
»Warum nicht? Hört sich lustig an.«
Die beiden begaben sich zu der Stelle, die Orpheus als Einstieg in die Unterwelt gewählt hatte, Tainaron an der Südspitze der Peloponnes, auch unter dem Namen Kap Matapan bekannt. Gut gelaunt machten sie sich auf den Weg durch die Höhlen, Gänge und Galerien ins Königreich der Toten. Ob Peirithoos glaubte, sein rauer soldatischer Charme würde Persephone für sich einnehmen, oder ob sie eine gewaltsame Entführung planten, wissen wir nicht. Wie vorauszusehen war, entpuppte sich die Expedition als Desaster. Ein nicht gerade amüsierter Hades stieß sie in steinerne Stühle, ihre nackten Hinterteile klebten auf den Sitzflächen, ihre Beine wurden von lebenden Schlangen umschlossen. Dort hätten sie bis ans Ende der Welt sitzen können, wäre nicht zufällig Herakles vorbeigekommen, weil er mit Hades ein Schwätzchen über Kerberos halten wollte.274 Um ihn zu befreien, musste Herakles ihn ziemlich gewaltsam aus dem Stuhl befreien. Theseus löste sich, aber sein Hinterteil blieb dort kleben. Es war, als hätte man ihn mit Sekundenkleber befestigt. Athener Darstellungen des älteren Theseus post-Hades zeigen ihn praktisch ohne Po.275
Theseus kehrte in die Oberwelt zurück, wo er feststellte, dass Helena von ihren Brüdern, den Zwillingen Kastor und Polydeukes, auch bekannt als Dioskuren,276 gerettet worden war.
Geläutert hielt er nach einer neuen Braut Ausschau. Sein Auge fiel auf PHAIDRA, die jüngere Schwester von Ariadne. Vielleicht erinnerte sie ihn an seine erste Liebe, vielleicht dachte er, eine Verbindung mit ihr könne eine Wiedergutmachung dafür sein, dass er Ariadne auf Naxos verlassen hatte, vielleicht war es nur Politik. Von den Beweggründen aller Helden sind die des Theseus stets am schwersten zu deuten.
Minos, der alte Widersacher von Athen, war natürlich tot, verbrüht in Sizilien. Sein Sohn Deukalion hatte den Thron geerbt und war – wahrscheinlich, weil er wusste, dass Athen nun stärker war als Kreta und folglich den Wert eines Bündnisses erkannte – nicht nur einverstanden, sondern unterstützte sogar die Verbindung, ohne Theseus nachzutragen, dass er nicht nur seine Schwester Ariadne verlassen, sondern auch seinen Halbbruder, den Minotauros, getötet hatte.
Phaidra und Theseus bekamen zwei Söhne, AKAMAS und DEMOPHON, die später einen ehrenhaften und berührenden Gastauftritt im Trojanischen Krieg haben sollten.
Und was war in der Zwischenzeit mit Hippolytos geschehen, Theseus’ Sohn mit Antiope? Er war in Theseus’ alte Heimat Troizen geschickt worden. Aus ihm wurde ein hübscher, athletischer junger Mann, dessen große Leidenschaft die Jagd war. Seine Zuneigung für Artemis, die Göttin der Jagd und Keuschheit, wurde nur von seiner Abneigung gegenüber Aphrodite mit ihren Liebeständeleien übertroffen. Weder Männer noch Frauen interessierten ihn. Aphrodite nahm das selbstredend nicht einfach hin, und die Rache, die sie sich für diesen unverschämten jungen Mann, der um ihre Altäre einen großen Bogen machte, ausdachte, war in der Tat schrecklich.
Als sein Vater Theseus und seine Stiefmutter Phaidra Troizen besuchten, hieß Hippolytos sie gehorsam willkommen. Theseus und Hippolytos verstanden sich auf Anhieb. Die griechischen Mythen strotzen nur so von Vätern, die ihre Söhne töten, und von Söhnen, die ihre Väter töten. Deshalb ist die auf Zuneigung und Bewunderung beruhende Verbundenheit zwischen diesen beiden äußerst bemerkenswert. Während des Besuchs verbrachten sie die ganze Zeit miteinander. Von Phaidra nahm Hippolytos kaum Notiz. Sie jedoch nahm ihn sehr wohl wahr. Immer stärker war sie besessen von ihm, und eines Nachts suchte sie ihn auf und erklärte ihm ihre Liebe.277 Mit mehr als einem Hauch Entsetzen und nicht zu übersehendem Widerwillen, als es klug oder taktvoll gewesen wäre, wies Hippolytos ihre Avancen zurück. Wie bei Stheneboia und Bellerophon oder bei Potifars Frau und Josef bezichtigte die erboste und gedemütigte Phaidra ihn der Vergewaltigung, woraufhin Theseus den Sohn verfluchte und seinen Vater Poseidon anrief, ihn zu bestrafen. Als Hippolytos eines Morgens mit seinem Streitwagen den Strand entlangfuhr, sandte der Meeresgott einen seiner großen Stiere aus dem Meer, der die Pferde scheu machte. Der Junge wurde zu Tode getrampelt. Als Phaidra dies hörte, nahm sie sich das Leben.
Die Göttin Artemis erschien Theseus und erklärte ihm, dass sein Sohn unschuldig und die Tragödie das Resultat von verschmähter Liebe und Aphrodites Groll war.
Obwohl Theseus unwissentlich am Tod von Sohn und Frau schuld war, wurde er aus seinen Königreichen Athen und Troizen vertrieben. Verbittert, verzweifelt und aller Leidenschaften und Ziele beraubt, fand er ein erbärmliches Ende. Als Gast von König LYKOMEDES von Skyros wurde er von seinem Gastgeber von einer Klippe in den Tod gestoßen. Den Grund dafür kennen wir nicht.
Kimon, viele Jahre später ein König von Athen, überfiel Skyros und brachte Theseus’ Leichnam zurück in die Stadt, für die er so viel Großes geleistet hatte. Bekannter noch wurde Lykomedes später durch seine Rolle bei der Erziehung von Achilles.
Eine ausgezeichnete Statue des nackten Theseus steht heute stolz auf Athens zentralem Treffpunkt, dem Syntagma-Platz. Bis in die Gegenwart hinein ist er wichtig für das Selbstbild und den Stolz der Athener. Das Schiff, mit dem er von seinen Abenteuern im Labyrinth von Kreta zurückkehrte, blieb vertäut im Hafen von Piräus liegen und war bis zu den Tagen des Sokrates und Aristoteles im antiken Athen ein Besuchermagnet. Die Tatsache, dass es so lange Zeit überdauerte, ließ das Schiff zum Thema interessanter hochphilosophischer Spekulationen werden. Über die Jahrhunderte waren Takelage, Planken sowie Rumpf, Deck, Kiel, Achtersteven, Heck und alles Gebälk ersetzt worden, sodass vom Original nicht ein Atom übrig blieb. War das noch dasselbe Schiff? Bin ich dieselbe Person, die ich vor fünfzig Jahren war? Schließlich wurden jedes einzelne Molekül und jede einzelne Zelle meines Körpers wieder und wieder ersetzt.278
Es ist durchaus angemessen, Theseus auf diese Weise mit Logik, Philosophie und Forschergeist in Verbindung zu bringen, denn er war ein Held, der mehr als jeder andere die Qualitäten verkörperte, welche die Athener am meisten zu schätzen wussten. Wie Herakles, Perseus und Bellerophon vor ihm half er, die Welt von gefährlichen Ungeheuern zu befreien, aber die Art und Weise, wie er das tat, erforderte Gewitztheit, Intelligenz und eine frische Art zu denken. Er war fehlbar und hatte Schwächen wie alle Helden, aber er stand für etwas Großes in uns allen. Lange möge er auf dem Syntagma-Platz stehen und lange möge er hoch in unserer Achtung stehen.