1.
»Beehren Sie uns bald wieder und lassen Sie es sich schmecken.« Aria schloss die Ladentür hinter der letzten Kundin ab.
Ihre Freundin und Angestellte June zählte die Einnahmen. Ihr Gesichtsausdruck ließ ahnen, dass es genauso mau aussah wie in den vergangenen Tagen.
»Will ich wissen, wie viel wir heute verdient haben?« Aria räumte das nicht verkaufte Gebäck aus der Auslage. Es war eine Schande, was jeden Tag übrig blieb. Morgen boten sie es zum halben Preis an. So mussten sie es nicht gänzlich abschreiben. Seufzend nahm sie Kuchen, Muffins, Cupcakes und Tortenstücke aus der Theke.
»Du meinst, wie hoch der heutige Verlust ist?«, fragte June trocken.
»Will ich es wissen?«
»Nein.«
»Habe ich mir gedacht.« Seufzend trug Aria das Gebäck in die Kühlung. Der Laden warf nichts ab.
Vor einem halben Jahr hatte sie die Bäckerei mit viel Euphorie eröffnet. Die Ernüchterung kam bereits nach zwei Monaten, aber da bestand noch Hoffnung, dass die Zeit für sie arbeitete. Inzwischen glaubte Aria nicht mehr an den Erfolg. Vielleicht rettete sie das Weihnachtsgeschäft. Ihre Kunden waren begeistert von ihrem Angebot und der Qualität, aber es waren zu wenige. Ihnen fehlte eindeutig die Laufkundschaft. In einer Nebenstraße, etwas abseits der großen Einkaufstraßen sah niemand ihr Geschäft. Da nützte auch das große Schild nichts, wenn keiner hinsah. Sie hatten gedacht, das machte nichts aus und die Leute kamen trotzdem zu ihnen. Was für ein Irrtum.
Blauäugig hatte sie sich in die Selbstständigkeit hineingestürzt und wie es aussah, stand das Scheitern kurz bevor. Ihre ganze Hoffnung ruhte auf der beginnenden Vorweihnachtszeit. Bald war Thanksgiving und damit rollte der Weihnachtsverkauf an. Hoffentlich auch für ihre Konditorei. Was gab es Schöneres, als es sich nach einem ausgiebigen Shoppingtag zuhause mit Kaffee und einem Gebäckstück auf dem Sofa gemütlich zu machen?
»Wir können die Miete nicht zahlen.« June warf die Kassenschublade zu.
»Ich rufe morgen Estelle an.«
»Wie letzten Monat.«
»Und den davor.«
»Hoffentlich wird er gewährt.«
»Estelle hat gesagt, ich soll mir keine Gedanken machen. Sie unterstützt Jungunternehmer.« Mit ihrer Vermieterin hatte sie großes Glück. Inzwischen war sie mit mehreren Monatsmieten im Rückstand. Estelle sah das locker. Sie meinte, sobald der Laden florierte, konnte sie die Miete zahlen. Sie sollte halt nur Bescheid geben, wenn sie mehr Aufschub brauchte. Aria dämmte das Licht auf Nachtbeleuchtung.
»Sie ist echt toll. Lass uns nach Hause gehen. Leg dich in die Wanne und entspann dich.« June drückte sie kurz.
»Ich versuche es.« Aria lächelte matt. Das alles bereitete ihr schlaflose Nächte. Dass ihr Lebenstraum, sich zu einem Fiasko entwickelte, hatte sie nicht erwartet. Schon als kleines Mädchen hatte sie von einem eigenen Café geträumt. Nach der Schule hatte sie eine Ausbildung zur Konditorin gemacht. Sie liebte ihren Beruf.
Nach den Jahren als Angestellte hatte sie dann schlussendlich den Sprung in die Selbstständigkeit gewagt. Mit ihren Ersparnissen hatte sie den Laden gemietet und liebevoll eingerichtet. Ihre Freundin June verkaufte im Geschäft, was sie in der hinter dem Verkaufsraum liegenden Backstube kreierte. June bekam ihren Lohn manchmal erst zur Monatsmitte, was ihr immer extrem peinlich war. Sie selbst bezog kein Gehalt, sondern lebte von dem, was am Ende über blieb. Wenig bis nichts. Sie war froh, dass sie zurzeit kostenfrei in der Einliegerwohnung ihrer Eltern lebte, denn Miete für eine Wohnung, warf der Laden nicht ab. All ihre Ersparnisse steckten darin. Er musste bald florieren.
»Iss den in der Wanne.« June drückte ihr eine kleine Tüte in die Hand.
»Apfelkuchen.« Es war das Rezept ihrer Großmutter und die Kunden liebten ihn genauso wie sie. Am besten schmeckte er lauwarm, mit einem Klecks Sahne obendrauf.
»Lass die Seele baumeln. Es wird heute nicht mehr ans Geschäft gedacht, hörst du?«
»Zu Befehl Mam.« Aria salutierte.
»Du verrücktes Huhn. Raus hier. Ich schließe ab.« Sanft, aber bestimmt schob June sie zur Hintertür hinaus.
Aria wusste, sie schaffte es nicht, Junes Anweisungen zu befolgen. Ihre Gedanken kreisten ständig ums Geschäft. Das konnte sie nicht abschalten. Die Geldsorgen ließen sie kaum zur Ruhe kommen.
Sie schloss den Wagen auf und startete den Motor. Es war oft ein Glücksspiel, ob er ansprang. Zum Glück zeigte er sich einsichtig und setzte sich ächzend in Bewegung.
Als sie zu Hause die Tür aufschloss, stieg ihr der Duft einer Bolognesesoße in die Nase. Ihre Mutter hatte ihr eine Portion hingestellt. Sie hatte ständig Angst, dass sie vor lauter Stress zu wenig aß. Also sorgte sie auf ihre Art dafür, dass dies nicht passierte.
Aria war ihr sehr dankbar. Nach Feierabend noch kochen? Dafür wäre gar keine Zeit. Wahrscheinlich würde sie sich nur von Fertiggerichten ernähren.
Sie stellte den Teller in die Mikrowelle. Während sie wartete, streifte sie die Schuhe von den Füßen und schlüpfte in die Hausschuhe. Sie fröstelte leicht. Für morgen war Schnee angesagt. Er lag jetzt schon in der Luft, das hatte sie vorhin gespürt.
Mit den Spaghetti verzog sie sich aufs Sofa, schaltete den Fernseher ein und aß mit Teller auf dem Schoß. Bloß nicht kleckern. Den hellen Teppich zierte bereits ein Soßenfleck, der sich als besonders hartnäckig erwiesen hatte.
Etwas später beendete sie fleckenfrei ihr Mahl und räumte das Geschirr in die Spülmaschine. Den Apfelkuchen packte sie auf einen Teller und stellte ihn ins Badezimmer. Sie gab einen schäumenden, nach Kokos duftenden Zusatz ins Wasser und sog den Geruch ein.
»Herrlich.« Sie liebte es zu baden, dazu ein gutes Buch oder einfach die Seele baumeln zu lassen, wobei ihr Letzteres nicht mehr wirklich gelang.
Sie warf die Klamotten auf den Boden und glitt in das wohlig warme Wasser. Anschließend nahm sie den Teller, aber ihre innere Unruhe ließ sich nicht vertreiben. Sie aß den Kuchen und versuchte dabei abzuschalten.