27.
»Sollen wir mit reinkommen?«, frage June, als Travis den Wagen vor dem Haus ihrer Eltern zum Stehen brachte.
Aria schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht nötig. Fahrt nach Hause.«
»Was ist mit dem Auto?« Travis drehte sich zu ihr um.
»Keine Ahnung. Soll Ben sich drum kümmern. Ich werde damit keinen Meter mehr fahren, geschweige, mich noch einmal hineinsetzen.«
»Verständlich«, stimmte June zu.
Aria kramte in der Tasche nach dem Hausschlüssel. Dabei sah sie, dass sie einige verpasste Anrufe auf dem Handy hatte. Sie entsperrte das Smartphone. »Ben hat versucht, mich anzurufen.«
»Hast du es nicht gehört?«, fragte Travis.
»Es stand auf lautlos.« Zehn verpasste Anrufe. Anscheinend drückte ihn das schlechte Gewissen. Sie steckte es in die Tasche zurück.
»Rufst du ihn an?«
»Ich weiß es nicht. Ich bin so durcheinander und weiß nicht, was ich von den Erkenntnissen heute halten soll. Er hat mich angelogen. Spätestens als er im Café war, musste er wissen, dass ich seine Mieterin bin. Statt die Wahrheit zu sagen, hat er den Samariter gespielt.« Aria war sauer, enttäuscht und traurig. Welches Gefühl dominierte, wusste sie nicht. Alle schienen gleich stark in ihr zu toben.
»Ruh dich aus und überleg dann, was du weiter unternimmst. Wut ist ein schlechter Ratgeber und du bist verdammt wütend.« June sah sie besorgt an. »Bist du sicher, dass ich nicht bei dir bleiben soll? Ich lasse dich ungern in dem Zustand alleine.«
»Es geht schon. Ich lege mich in die Wanne und versuche, ein wenig zu relaxen.«
»Okay, aber wenn was ist, rufst du an. Wir kommen.«
»Mache ich.«
»Versprochen?« Travis sah sie skeptisch an. »Ich kenne dich.«
»Großes Indianerehrenwort.«
»Wir verlassen uns drauf.«
»Bis morgen.« Aria stieg aus und wartete, bis der Wagen hinter der nächsten Ecke verschwand. Als sie auf die Haustür zuging, löste sich aus dem Schatten eine Person. Automatisch ging sie rückwärts.
»Nicht erschrecken. Ich bin es.« Ben kam auf sie zu.
Im ersten Moment fühlte sie Erleichterung, da sie an einen Überfall geglaubt hatte, aber sofort schlug das Gefühl in Wut um. Nicht nur, dass er sie belog, sich als jemand anders ausgab – jetzt erschreckte er sie noch, indem er ihr im Dunkeln auflauerte.
»Was willst du?« Mit aufeinandergepressten Lippen schloss sie die Tür auf. Gleich heulte sie los. Das war alles zu viel.
»Mit dir reden. Bitte lass es mich erklären.« Er kam einen Schritt näher.
»Meinst du, es gibt für deine Lügen eine Entschuldigung?« Ihr Ton klang bitter. So verletzt hatte sie noch nie jemand.
»Nein. Das ist unentschuldbar. Trotzdem hoffe ich, du gibst mir eine Chance zu erklären, wieso ich so gehandelt habe.«
»Was war dein Beweggrund?«
»Weil ich dich liebe.« Ben sah aus wie ein geprügelter Hund, aber sie verdrängte das aufkommende Mitleid für ihn.
»Weil du mich liebst, belügst du mich nach Strich und Faden?« Sie war fassungslos.
»Ja. Es klingt verrückt.«
»Wenn ich jemanden liebe, belüge ich ihn nicht.« Sie schloss die Tür auf. Ging sie jetzt rein und knallte ihm die Tür vor der Nase zu? Lust hätte sie dazu. Was war das für eine Aussage? Was Blöderes war ihm wohl nicht eingefallen.
»Ich weiß. Es tut mir leid.«
»Dafür ist es ein bisschen spät.«
»Darf ich dir erzählen, wieso ich dich angelogen habe?«
Aria zögerte. Gab sie ihm die Chance? Wollte sie es überhaupt hören?
»Bitte.« Flehendlich sah er sie an.
»Okay. Du hast fünf Minuten.«
»Darf ich reinkommen?«
»Nein. Sag, was du zu sagen hast und dann geh bitte. Dein Wagen steht übrigens an der Monside Street.«
»Ich lasse ihn dir morgen bringen.«
»Ich will ihn nicht mehr. Lieber gehe ich zu Fuß, als deinen Wagen zu fahren. Pardon. Das Auto deiner Großmutter.« Arias Stimme klang zynisch, aber das war ihr egal.
»Du hast recht. Ich habe alles falsch gemacht, was nur geht. Ich bereue es. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich es sofort tun.«
»Wieso hast du dich als jemand anders ausgegeben?«
»Also, es war so ...«
Aria sah auf die Uhr. »Deine Zeit läuft ab«, sagte sie ohne ein Lächeln. Sie war nicht bereit, ihm entgegenzukommen. Sie verhielt sich wie ein verletztes Tier. So fühlte sie sich. Hintergangen und verletzt.
Ben schloss kurz die Augen. »Als ich von Travis die Adresse deines Ladens bekommen habe, wusste ich natürlich sofort, wer du bist.«
»Das ist mir klar.«
»Meine Großmutter musste zur Kur, weil sie gesundheitlich angeschlagen war.«
»Geht es ihr wieder besser?«
»Ja, danke der Nachfrage.«
»Ich mag sie. Sie ist eine sehr nette Frau.«
»Danke.«
»Leider hat ihr Enkel von ihrem lieben Wesen nicht viel geerbt.« Aria verschränkte die Arme vor der Brust. Das traf ihn. Sie sah es an seinem Gesichtsausdruck. Aber sie wollte ihn verletzten, so wie er sie.
»Ich war ein Hornochse. Du hast jedes Recht, sauer zu sein.«
»Noch drei Minuten.« Aria zog die Jacke dichter um sich, wie einen Schutzpanzer.
»Sie hat mir die Betreuung ihrer Immobilien anvertraut. Außer das Haus, in dem dein Laden sich befindet, besitzt sie noch zwei weitere Gebäude. Sie sagt, sie braucht etwas zu tun. Deshalb hat sie es bis jetzt abgelehnt, dass ich mich darum kümmere.«
»Noch zwei Minuten.«
»Als ich dich dann im Café gesehen habe, war es um mich geschehen. Ich hatte vor, dir zu sagen, wer ich bin.«
»Wieso hast du es nicht getan?«
»Deine Wut auf Mr. Stone war so groß, dass ich befürchtete, dass du mich rauswirfst, wenn ich dir gestehe, wer ich bin und nie wieder etwas mit mir zu tun haben möchtest. Es war falsch, ich weiß das. Ich hatte mir vorgenommen, es dir zu einem späteren Zeitpunkt zu beichten. Aber wie es so ist, der richtige Moment findet sich irgendwie nie. So verstrich die Zeit und mein Mut sank. Morgen wollte ich dir die Wahrheit sagen. Du erinnerst dich, dass ich sagte, wir müssen reden?«
»Ja.« Nun wusste, sie, um was es ging. Leider zu spät. »Sag mal ...«
»Ja?«
»Dass der Ofen plötzlich angeschlossen wurde – hast du das angeordnet?«
»Ja. Das kam von mir.«
Sie sah auf die Uhr. »Die fünf Minuten sind um. Hast du noch etwas zu sagen?«
»Ja.«
»Und was?«
»Ich liebe dich Aria. Es tut mir so wahnsinnig leid, was passiert ist. Ich kann nur hoffen, dass du mir verzeihst. Wenn nicht, verstehe ich das. Wer will schon mit einem Lügner zusammen sein.« Ben seufzte leise. »Ich gehe dann. Denk in Ruhe darüber nach. Ich liebe dich aufrichtig, auch wenn ich vielleicht alles zwischen uns zerstört habe.« Mit einem traurigen Blick drehte Ben sich herum und ließ sie alleine.
Aria ging ins Haus, lehnte sich gegen die geschlossene Tür und ließ ihren Tränen freien Lauf.