28.
Am nächsten Morgen quälte Aria sich nach einer schlaflosen Nacht aus dem Bett. Matt schleppte sie sich ins Badezimmer und erschrak vor ihrem Spiegelbild. Verquollene Augen vom Weinen mit Schatten darunter. Sie fühlte sich uralt und genauso sah sie im Moment aus. Sie benötigte eine Dusche. So konnte sie sich im Laden nicht sehen lassen. Die Kunden durften nicht merken, wie schlecht es ihr ging.
Aria drehte das Wasser auf und stellte sich unter den warmen Strahl. Ihre Gedanken kreisten automatisch um Ben. Am liebsten würde sie ihn aus ihrem Kopf streichen. Die ganze Nacht hatte sie gegrübelt. Verzieh sie ihm? Sie wusste nicht, ob sie dazu bereit war. Sie war verletzt, fühlte sich hintergangen und betrogen. Nein, sie konnte nicht so tun, als wäre alles in bester Ordnung. Das war es nicht. Sie brauchte Abstand.
Aria drehte das Wasser ab, wickelte sich in ein Handtuch und ging ins Schlafzimmer. Sie ließ sich aufs Bett fallen, zog die Beine hoch und schlang die Arme drum. So saß sie mehrere Minuten, in denen sie mit sich haderte. Sie musste eine Entscheidung treffen. Für sich und auch für Ben. Trotz, dass er sie belogen hatte, fand sie es unfair, wenn sie ihn hinhielt. Sie war kein Freund des Hinauszögerns. Sie schloss die Augen und hörte in sich hinein.
Sie liebte Ben, aber mit der Lüge hatte er sie zutiefst verletzt. Sie in dem Glauben zu lassen, er wäre jemand anderer – sie fühlte sich so gedemütigt. Hätte er ihr in den ersten Tagen gebeichtet, wer er war, wäre sie damit klargekommen. Aber über einen so langen Zeitraum? Sie waren ein Paar und er belog sie. Sie schluchzte leise. Das war mehr als sie ertrug. Es fiel ihr schwer, objektiv zu urteilen, deshalb ließ sie sich von ihren Gefühlen leiten.
Als ihre Entscheidung gefallen war, fühlte sie sich ein Stück weit befreit. Noch bevor sie ins Geschäft fuhr, würde sie Ben anrufen, um es ihm mitzuteilen.
Eine Stunde später wählte Aria, zwar mit zittrigen Fingern, aber einigermaßen gefasst, Bens Nummer. Es war das Richtige, was sie tat.
Nach dem ersten Klingeln nahm Ben das Gespräch an. »Guten Morgen Aria.«
Er klang nervös. Kein Wunder. Nachdem, was er sich geleistet hatte, wäre wohl jeder nervös. »Guten Morgen.«
»Hast du über das, was ich dir gesagt habe, nachgedacht?«
»Ja. Ich habe die ganze Nacht gegrübelt.« Mit dem Fingernagel fuhr sie über die Tischplatte. Zum Glück bestand er nicht aus Holz, sonst hätte er jetzt einige Kerben, so fest, wie sie drückte.
»Und ... bist du zu einem Ergebnis gekommen?«
»Ja.« Aria schloss die Augen. Sie tat ihm nicht gerne weh. Schließlich liebte sie Ben. Aber sie war nicht in der Lage, das zu verzeihen und so weiterzumachen, als wäre es nicht passiert. Das schaffte sie nicht. Was man liebte, sollte man loslassen. Genau das tat sie.
»Und?«
Aria hörte das Zittern in der Stimme. Sie entschloss sich, es kurz und schmerzlos zu machen. »Es ist vorbei.«
Am anderen Ende herrschte Stille.
»Bist du noch dran?«, fragte Aria nach einigen Sekunden. Die Ruhe war fast gespenstisch.
»Ja.«
»Du warst so ruhig.«
»Was nicht verwunderlich ist, nach so einer Nachricht.«
»Das stimmt. Tut mir leid.« Aria hätte sich gerne anders entschieden, aber das war für sie im Moment unmöglich. Zu tief saß der Schmerz. Sie würde Ben das spüren lassen. Deshalb zog sie einen Schlussstrich. Um sich zu schützen und ihn nicht zu verletzen.
»Ich akzeptiere deine Entscheidung. Ich verstehe es. Trotzdem möchte ich dir noch mal sagen, dass ich dich liebe und ich mein Verhalten zutiefst bereue.«
Aria presste die Lippen aufeinander. Bloß nicht heulen. Wie gern würde sie ihm sagen, dass er sofort zu ihr kommen sollte, um sich in seine Arme werfen. Sie liebte ihn so sehr, dass es körperlich wehtat. Sie fühlte sich wie auf Entzug. Wieso tat Liebe so verdammt weh? Sie schniefte.
»Aria?«
»Ja?«
»Weinst du?«
»Nein.« Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Wieso war sie so nah am Wasser gebaut? Hoffentlich bohrte er nicht weiter.
»Es hörte sich so an.«
Aria lächelte, auch wenn ihr nach Heulen zumute war. Aber so schaffte sie es, die Tränen zu unterdrücken. »Alles gut.«
»Ich weiß, du hast kein Auto. Ich würde dir gerne den Jeep weiter zur Verfügung stellen.«
»Nein, danke.« Das war dass Letzte, was sie wollte. Etwas, was sie ständig an ihn erinnerte.
»Bitte nimm ihn. Du bist auf ein Auto angewiesen.«
»Ich möchte keine Almosen von dir.«
»Das ist kein Almosen.«
»Für mich schon.«
Ben seufzte. »Ich kann dich nicht dazu zwingen. Wenn du es dir anders überlegst, ruf mich an. Jederzeit.«
»Okay. Danke für das Angebot.« Aria wusste, dass sie es niemals annehmen würde und Ben ahnte es wahrscheinlich. Ein Wiedersehen mit ihm tat ihr nicht gut. Das wühlte alles wieder auf.
»Ich wünsch dir alles Gute Aria. Ich bin weiterhin für dich da, wenn du mich denn in deinem Leben haben möchtest.«
Wieder spürte Aria die aufkommenden Tränen. Sie kam sich vor, wie in einem Liebesfilm, nur dass es bei ihnen kein Happy End gab. »Danke, das wünsche ich dir auch.«
»Ich wiederhole mich, aber wenn etwas ist ...«
»Rufe ich dich an. Danke dafür.« Aria stand auf und lief um den Tisch herum. Sie musste sich bewegen, um sich zu beruhigen.
»Mach es gut Aria.«
»Ja, du auch.«
Es klickte in der Leitung. Wie betäubt legte Aria das Telefon auf den Tisch und starrte es an. Es war vorbei. Sie hatte es beendet. Sie sollte Erleichterung empfinden, aber sie fühlte nur eine innere Leere in sich. Sie hatte den Mann, den sie über alles liebte, aus ihrem Leben verbannt. Ihr Kopf wusste, es war die richtige Entscheidung. Nun musste sie darauf hoffen, dass die Erkenntnis bald in ihrem Herzen ankam.