31.
»Schaffst du den Rest alleine?« Aria sah Lindy an.
»Na klar. Fahr ruhig. Ich habe alles unter Kontrolle.« Sie schob ein Blech in den Ofen.
»Ich bin so froh, dass du hier bist.« Lindy war eine echte Entlastung für sie. Lange hätte sie das nicht mehr durchgehalten. Jede Nacht nur drei bis vier Stunden Schlaf reichte auf Dauer nicht.
»Und ich, dass du mich genommen hast. Es gefällt mir gut hier. Einen Job mit Familienanschluss hatte ich noch nie.«
Schmunzelnd dachte Aria daran, wie herzlich ihre Eltern sie beim ersten Zusammentreffen begrüßt hatten. Lindy war in der kurzen Zeit bereits zu einer Freundin geworden und sie ein eingeschweißtes Trio im Café. Beruflich war sie auf dem Höhenflug, nur privat haperte es. Sie hatte sich Travis´ Worte zu Herzen genommen. Bevor sie gleich in den Großmarkt fuhr, machte sie einen Abstecher zu Bens Firma. Sie lud ihn für übermorgen zur Feier ein und sie hoffte, er nahm die Einladung an. Sie würde ihn bitten, etwas früher zu kommen, da sie noch in Ruhe mit ihm reden wollte. Seit sie diese Entscheidung getroffen hatte, fühlte ihr Herz sich leichter an. Sie wusste, sie tat das Richtige. Nur weil sie stur war, setzte sie am Ende ihr Glück aufs Spiel.
»Mach, dass du Land gewinnst.« Lindy wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum.
»Ich war in Gedanken.«
»Muss ein schöner Tagtraum gewesen sein.«
»Wieso?«
»Du hast verzückt gegrinst.« Neugierig sah Lindy sie an.
»An meiner Mimik arbeite ich noch.«
»Eine gute Idee. Man kann in deinem Gesicht lesen, wie in einem Buch.«
»Ja leider.« Aria seufzte.
»Jetzt raus mit dir.« Lindy schob sie zur Tür. »Sonst stehst du heute Abend noch hier.«
»Bis später«, verabschiedete Aria sich. Draußen atmete sie einmal tief ein. Sie hatte vor ihrer eigenen Courage Angst. War es die richtige Entscheidung? Normal besprach sie sich mit June, wenn sie unsicher war, aber diesmal nicht. Sie wollte alle damit überraschen, deshalb wusste niemand von dem Vorhaben. Zähneklappernd stieg Aria ins Auto. Die Temperaturen waren in den letzten Tagen stark gefallen. Der Wetterdienst stellte ihnen weiße Weihnachten in Aussicht. Ihr Vater kam mit Schneeschaufeln kaum noch nach. Vor dem Laden wechselten sich die Drei an der Schaufel ab. Bei noch mehr Schnee stieg sie besser auf einen Schlitten um. Aber dafür stieg der Verkauf warmer Getränke rapide an. Es gab immer Vor - und Nachteile. Sie beschwerte sich nicht. Jede Jahreszeit hatte ihre schönen Seiten. Sie liebte es, morgens aus dem Haus zu gehen und Fußstapfen in dem frischen Schnee zu hinterlassen. Die Geräusche schienen leiser und alles wirkte friedlich.
Aria stieg wieder aus, um die Scheibe von Schnee und Eis zu befreien. Das war ein Aspekt, den sie hasste. Trotz Handschuhen waren ihre Finger Eiszapfen, wenn sie fertig war.
Zitternd stieg sie ein und ließ den Motor an. Hoffentlich brauchte die Heizung nicht so lange. Sonst fror sie gleich am Lenkrad fest.
Sie kroch mit den anderen Wagen im Schneckentempo durch die verstopften Straßen. Im Moment schien zu jeder Zeit Rushhour zu sein.
»Was hat der gesagt?« Sie drehte das Radio lauter. Auf ihrem Weg war ein Unfall und der Verkehr wurde umgeleitet. Aria entschied sich daraufhin, zuerst in den Supermarkt zu fahren. Sonst wäre es durch den Unfall ein Riesenumweg, wenn sie erst zu Ben fuhr. Ihr wäre es andersherum lieber, aber das wäre unklug. Sie verlor dadurch zu viel Zeit. Schließlich wartete Arbeit auf sie. Also setzte sie den Blinker und bog an der nächsten Kreuzung rechts ab, Richtung Supermarkt.
»Ist das schön warm.« Aria genoss die Wärme, die sie im Großmarkt empfing. Der Wagen war bis hier nicht warm geworden und sie fühlte sich wie ein Eiszapfen.
Mit steifen Fingern nahm sie den Zettel aus der Tasche und arbeitete die Posten der Reihe nach ab.
Eine halbe Stunde später hatte sie fast alles beisammen. »Nur noch Mehl.« Sie sah ins Regal und entschied sich für den Zehnkilosack aus dem Angebot. Aria bückte sich und zog die erste Tüte ein Stück näher zu sich. Sie nahm ihn vom Stapel und dann passierte es. Er platzte auf.
Aria stand wie erstarrt mit dem jetzt fast leeren Sack im Arm da. Sie hustete und kniff die Augen zusammen. Das Mehl war überall.
»Miss, ist Ihnen was passiert?« Ein Angestellter war sofort zur Stelle.
»Geht ... schon«, sagte Aria hustend. Das war ihr noch nie passiert. Wahrscheinlich sah sie aus wie ein Schneemann.
»Das tut mir furchtbar leid. Möchten Sie mir in den Mitarbeiterbereich folgen, um sich frisch zu machen? Wir zahlen selbstverständlich die Reinigung Ihrer Kleidung.«
»Danke, das ist nett.« Aria schüttelte die Haare, aber die waren recht Mehlfrei. Zum Glück.
Mithilfe des Mitarbeiters befreite sie ihre Jacke von der Mehlschicht. Es ließ sich alles gut abklopfen. Eine Reinigung war nicht nötig. Die Jacke wusch sie in der Maschine, ebenso wie die Jeans.
Als Entschädigung bekam sie einen Einkaufsgutschein von fünfzig Dollar, den sie gerne annahm.
»Vielen Dank«, sagte Aria erfreut.
»Als kleine Entschädigung. Das sollte natürlich nicht passieren.«
»Schon gut. Das war mal eine Erfahrung der anderen Art.« Aria überlegte, öfters hier eine Mehldusche zu nehmen. Die Entlohnung war gut. Sie bemühte sich, nicht zu grinsen.
»Trotzdem entschuldige ich mich im Namen des Hauses. Wir würden uns freuen, wenn Sie uns weiterhin als Kundin treu bleiben.«
»Auf jeden Fall. Vielen Dank noch mal.«
Aria ging zu ihrem Wagen und griff nach dem nächsten Sack. Zum Glück ging diesmal alles gut und sie schob den Einkauf zur Kasse, der heute fünfzig Dollar günstiger war, als geplant.
Zwanzig Minuten später parkte sie das Auto in einer Nebenstraße von Bens Büro und ging die paar Meter zu Fuß. Auf dem Weg überlegte sie, was sie sagte. Aber alles hörte sich irgendwie doof an im Kopf. Sie beschloss, einfach drauflos zu reden. Das war manchmal das Beste.
Sie erreichte den Bürokomplex und sah durch die Glaswände hinein. Es sah genauso aus, wie beim letzten Mal, bis auf den Weihnachtsbaum, der die Lobby nun beherrschte. Sie sammelte Mut und ging zur Tür. In dem Moment öffnete sich innen der Fahrstuhl und Ben trat gemeinsam mit einer Frau, ungefähr in ihrem Alter, heraus. Die beiden lachten und die Frau sah ihn so bewundernd an, dass es Aria fast schlecht wurde. Sie stellte sich so, dass der Weihnachtsbaum sie verdeckte, aber durch die Zweige hindurch sah sie die beiden noch.
Ben legte einen Arm um die Frau, die sich an ihn schmiegte. Aria fühlte sich wie betäubt. Das durfte nicht wahr sein. Ben hatte sich mit einer anderen getröstet? Wie hatte Travis sich ausgedrückt? Er wartet nicht ewig. Das hatte sie nicht angenommen, aber dass er sie so schnell austauschte, hätte sie nicht erwartet. Die beiden gingen zur Tür. Aria drehte sich herum und rannte zum Auto. Auf keinen Fall sollte er sie sehen. Blind vor Tränen schloss sie den Wagen auf, legte den Kopf auf das Lenkrad und heulte los.