32.
»Das tut mir so leid. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.« June nahm Aria in den Arm, die ihr gerade von ihrem Erlebnis mit Ben erzählt hatte.
Eigentlich hatte Aria vor, es für sich zu behalten, aber als June ihr verheultes Gesicht gesehen und nachgefragt hatte, war sie eingeknickt. Es tat gut, sich jemandem anzuvertrauen und den Kummer von der Seele zu reden.
Lindy hatte Aria Taschentücher gegeben und gesagt, sie sollten sich Zeit lassen. Sie übernahm so lange die Verkaufstheke.
Aria putzte sich die Nase. »Ich habe gedacht, ich träume oder es ist eine optische Täuschung. Im ersten Moment wollte ich es nicht glauben, aber es ist leider Realität. Er hat sich mit einer anderen getröstet.«
»So ein Mistkerl. Das hätte ich nicht von ihm gedacht.«
»Ich auch nicht. Aber man kann den Menschen nur vor den Kopf sehen, nicht hinein.«
»Wäre manchmal hilfreich.«
»Das stimmt.« Aria seufzte auf. Es brachte nichts, darüber zu jammern. Sie war froh, dass ihr die Peinlichkeit erspart geblieben war, die beiden zusammen in seinem Büro zu überraschen.
»Weißt du was? Ich komme heute Abend zu dir und wir machen es uns gemütlich. Ein Liebesfilm, wo du dich richtig ausheulen kannst, dazu eine Flasche Wein. Ich wette, danach fühlst du dich besser.«
»Das wäre schön, aber du gehst doch mit Travis ins Kino.« Sie wollte nicht, dass sie das verschob.
»Travis versteht das.«
»Ja, aber ich möchte nicht, dass es sonst jemand erfährt.«
»Aber ...«
»Fürs Erste. Morgen ist unsere Weihnachtsfeier. Wenn die anderen es wissen, behandeln mich alle wie ein rohes Ei. Darauf und auf mitleidige Blicke verzichte ich gerne. Ich erzähle es in einigen Tagen. Dann habe ich das auch für mich besser verarbeitet.«
»Das verstehe ich.«
»Kein Wort zu Travis.«
»Versprochen.«
»Danke.«
»Lindy hat es mitbekommen, aber sie wird nichts sagen.«
»Das denke ich auch. Ich spreche sie nachher darauf an.«
»Ist sicherer.«
»Eben.« Aria streckte sich. »Genug geheult. Jetzt wird gearbeitet. Das lenkt mich ab.«
»Dann erlöse ich Lindy.«
»Okay. Sag ihr, ich lade den Wagen aus.«
»Mache ich.« June ging in den Verkaufsraum und Aria verließ die Backstube durch den Hintereingang. Es gab viel zu tun.
***
»Verflixte Baumkette.« Aria sah auf die ineinander verknoteten Kabel. Eigentlich wollte sie die Fenster damit beleuchten. Bis jetzt war sie nicht dazu gekommen, ihre Wohnung weihnachtlich zu gestalten. Es war höchste Zeit. Bei der morgigen Feier sollte Feststimmung aufkommen. Seufzend setzte sie sich mit dem Knäul aufs Sofa. Jedes Jahr nahm sie sich vor, beim Abschmücken, die Ketten ordentlich aufzuwickeln. Beim guten Vorsatz blieb es meistens. Wenn sie den Weihnachtsschmuck abnahm, konnte es nicht schnell genug gehen und alle Jahre wieder, entwirrte sie Lichterketten.
Kaum saß sie, klingelte es. Das war sicher June. Sie sprang auf, um zu öffnen.
»Überraschung.« June hielt eine Flasche Wein hoch. »Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass ich Lindy eingeladen habe, mitzukommen.«
»Hey.« Lindy wirkte verlegen.
»Natürlich nicht. Kommt rein. Was hast du Travis gesagt, wieso der Kinobesuch ins Wasser fällt?«
»Er hat einen Nottermin bekommen. Eine Privatfeier suchte dringend einen Santa und sein Chef hat ihn gefragt. Da ein schöner Zuschlag winkt, hat er angenommen. Er hat sich tausendmal entschuldigt. Er wusste ja nicht, wie günstig das für mich war. So haben wir unseren Mädelsabend und er ist im Land der Ahnungslosen.«
»Männer dürfen nie zu viel wissen«, sagte Lindy grinsend.
»Stimmt.« Aria zog eine Grimasse. »Macht es euch gemütlich. Ich brauche helfende Hände.« Sie zeigte auf die Ketten.
»Mit einem Glas Wein klappt das bestimmt viel besser.« June ging in die Küche und entkorkte die Flasche.
»Es dauert auf jeden Fall länger.« Aria nahm Gläser aus dem Schrank und June schenkte den Wein ein. »Auf uns.« Sie verteilte die Gläser.
»Auf einen schönen Abend«, sagte Aria.
»Sehr lecker.« Lindy stellte das Glas weg und griff nach den Ketten. »Wie hast du das geschafft?«
»Beim Abschmücken bin ich die Ungeduld in Person.«
»So sieht es auch aus.« Lindy grinste. »Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass es bei meinem Weihnachtsschmuck nicht viel besser aussieht. Hauptsache runter nach dem Fest, das ist meine Devise.«
»Ich sehe, wir verstehen uns.« Lachend trank Aria einen Schluck. Sie freute sich, dass die beiden hier waren. Viel besser, als alleine zu sein, da drehte sich automatisch das Gedankenkarussell.
»Was gucken wir?«, fragte June.
»Schauen wir mal.« Aria startete Netflix und sie scrollten sich durch das Programm.
»Wie wäre es mit dem?« Lindy zeigte auf den Bildschirm.
»Den wollte ich schon lange sehen, aber ihn nicht alleine anschauen.« Kichernd trank Aria einen Schluck Wein.
»Hast du sonst Angst?«, frage Lindy.
»Ja, ich traue mich dann kaum auf Toilette in der Nacht.« Einmal hatte sie einen Zombiefilm geschaut und in der Nacht geträumt, ihre Wohnung wäre voller Zombies. Sie hatte sich tatsächlich nicht ins Bad getraut und sich stattdessen die Decke über den Kopf gezogen. Travis hatte sie ausgelacht, nachdem sie ihm davon erzählt hatte.
»Wir sind wirklich Seelenverwandte.« Lindy hielt sich den Bauch vor Lachen. »Mir geht es genauso.«
»Eigentlich wollten wir ja einen Liebesfilm gucken, einen mit richtig viel Schmalz zum Heulen, aber ...« June ließ den Satz unvollendet stehen.
»Du möchtest auch lieber diesen sehen?«, fragte Aria grinsend.
»Ich gestehe.«
»Okay. Dann sind wir uns ja einig. Wir gucken ES.« Aria startete den Film, der sie in ihren Bann zog und sie Ben für einige Zeit vergessen ließ.