M ama!«, schallt es aus dem Zimmer meiner Tochter, und ich harre der Dinge, die da gleich auf mich zukommen werden.
»Mama!«
»Was ist denn los?«, frage ich mit unschuldigen Augenaufschlag und einem freundlichen Lächeln auf den Lippen.
»Wir haben kein WLAN!«, schimpft der Teenager, der das erste Mal seit zwei Tagen mehr als ein Wort zu mir sagt.
»Na so was.«
Ich unterdrücke ein Grinsen und pflanze stattdessen einen mitfühlenden Ausdruck in mein Gesicht.
»Wie kann das denn sein?«
»Woher soll ich das wissen?«, fragt meine Sechzehnjährige ziemlich gereizt.
»Mach, dass das WLAN wieder läuft.«
Soll ich ihr gleich sagen, dass sie ihr Zimmer aufräumen und sauber machen soll, damit das Internet freiwillig zu ihr zurückkehrt? Oder soll ich sie ein bisschen schmoren lassen?
»Ich muss noch Hausaufgaben machen und dazu brauche ich nun mal das Internet.«
Tja. Ich behalte mein neutrales Lächeln bei.
»Wenn ich versuche, mich einzuwählen, sagt mir der blöde Laptop, dass mein Passwort falsch ist.«
Ups. So was aber auch. Böses Internet.
»Vielleicht mag das Internet den Geruch in deinem Zimmer nicht.«, schlage ich nachdenklich vor.
Der Blick meiner Tochter ist Gold wert. Ihr fallen regelrecht die Augen aus dem Kopf.
»DU hast das Passwort geändert.«, stellt sie folgerichtig fest.
Ihre Augen sind schmale Schlitze. Sie wirft mir einen Blick zu, der mir wohl das Fürchten lehren soll. In diesem Punkt hat meine Tochter leider Pech. So schnell macht mir niemand Angst und erst recht nicht sie.
»Du könntest dein Zimmer aufräumen, die Teller, Tassen und das Besteck in die Küche räumen und die vergammelten Essensreste entsorgen. Danach könntest du dein Geschirr abspülen und in den Schrank räumen. Wenn du damit fertig bist, könntest du dein Zimmer lüften und die dreckigen Klamotten in den Waschkeller bringen, damit ich sie waschen kann.«
»Sonst noch Wünsche?«, grummelt meine Sechzehnjährige.
»Also, wenn du so lieb fragst, ein frisch gebrühter Kaffee wäre toll.«
Oha. Das hätte ich wohl lieber nicht sagen sollen. Meine Tochter schnaubt wie ein übellauniger Stier. Gleich hüpft sie im Achteck.
»Sobald dein Zimmer sauber und ordentlich ist, können wir uns gerne hinsetzen und über das WLAN-Passwort sprechen.«
Ihr Schnauben im Rücken lasse ich sie stehen und gehe ins Wohnzimmer, wo ein spannender Schmöker auf mich wartet.
Ein paar Minuten tut sich gar nichts, doch dann fliegt ihre Zimmertür mit einem lauten Scheppern ins Schloss. Ich grinse vor mich hin. Wenn ich das Julia erzähle, dann wird sich meine beste Freundin vor Lachen wegwerfen.
»Mama! Wir haben kein WLAN!«, höre ich nun auch die Stimme meines Sohnes schallen.
»Mach dein Zimmer sauber!«, brüllt meine Sechzehnjährige.
»Nicht dein Ernst!«
»Doch! Mein voller Ernst! Mama dreht am Rad. Sie hat einfach das Passwort geändert.«
Gemächlich stehe ich auf und schließe die Wohnzimmertür. Die Ruhe tut gut.
Ich liebe meine Teenager-Kinder. Ich liebe sie wirklich. Nur manchmal könnte ich sie auf den Mars schicken. One-Way-Ticket. Und ihren Vater würde ich gleich hinterher schicken.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass Finja und Yannick gewisse negativen Angewohnheiten von ihrem Vater übernommen haben. Ihm musste ich auch erst beibringen, dass die Socken den Weg in den Wäscheraum nicht von alleine finden. Oder dass man eine höhere Chance auf saubere Teller hat, wenn man die schmutzigen gelegentlich abspült.
Ich mache es mir auf dem Sofa gemütlich und lege sogar die Füße hoch. Das ist ein Luxus, den ich mir nur ganz selten gönnen kann. Ein Zeichen höchster Entspannung. Nun bin ich nicht mehr bereit, mich stören zu lassen. Sonst bin ich eigentlich immer auf dem Sprung. Sonst. Nicht jetzt.
Beim Öffnen des Buches fällt mir das Foto, das ich als Lesezeichen nutze, in die Hand. Auf dem Foto bin ich mit Julia abgebildet. Ein Lächeln huscht mir übers Gesicht. Zärtlich streichle ich Julias Wangen. Warum ich das mache, weiß ich auch nicht so genau.
»Mama!«
Die Wohnzimmertür wird aufgerissen. Meine sechzehnjährige Tochter baut sich vor mir auf. Ihr Gesicht ist voller roter Flecken.
»Na toll!«, mosert sie.
»Wir dürfen hier schuften, während du es dir gemütlich machst.«
Tja, so ist das. Ich ziehe amüsiert die Augenbrauen hoch.
»Du weißt aber schon, dass Kinderarbeit verboten ist.«
»Was willst du?«, gehe ich mit einer Gegenfrage über ihre Anklage hinweg.
»Wo ist der Staubsauger?«
»Da, wo er immer ist.«
»Und wo ist er immer?«, schallt Yannicks Stimme von draußen.
»In der Kammer. Wo denn sonst?«
Manchmal frage ich mich ehrlich, ob meine Teenager-Kinder denken, dass sie nur zu Gast in diesem Haus sind. Sie interessieren sich für gar nichts. Außer fürs WLAN-Passwort. Essen würden sie am Liebsten allein in ihrem Zimmer und auch sonst verbringen sie kaum noch Zeit mit Marlon und mir.
Wenn es uns gelingt, sie wenigstens einmal im Monat zu einem Spieleabend zu überreden, ziehen sie die ganze Zeit ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter.
In ihren Augen sind ihre Eltern vermutlich kurz vor scheintot und stinke langweilig. Dabei empfinde ich mich selbst weder als langweilig, noch als alt.
»Tür zu!«, rufe ich den Teenagern hinterher.
Ich warte, bis die Tür geschlossen ist. Dann widme ich mich wieder dem Buch auf meinem Schoß. Oder besser gesagt dem Bild, aus dem mir Julia entgegen strahlt.
»Oh man, Jule. Du musst dich nicht mit so einem Mist herumärgern.«, murmle ich.
Da das Brummen des alten Staubsaugers unangenehm laut ist, strecke ich mich nach der Fernbedienung und schalte die unterhalb des Fernsehers versteckte Anlage ein. Ich fahre den Lautstärkeregler so weit hoch, dass ich die Lautstärke gerade noch als angenehm empfinde.
Obwohl ich gerne Mutter bin und meine Kinder über alles liebe, beneide ich Julia manchmal für ihre Unabhängigkeit. Sie kann tun und lassen, wonach ihr der Sinn steht, ohne sich mit Gedanken um Kinder zu belasten. Wenn sie spät ins Bett gehen, oder feiern gehen will, kann sie das machen. Am nächsten Morgen kann sie ganz in Ruhe ausschlafen und steht erst dann auf, wenn sie wirklich wach ist. Bei mir sieht das ein bisschen anders aus. Spätestens wenn die Kinder aus den Federn kriechen, beginnt zwangsläufig mein Tag. Vor allem am Wochenende erwarten sie einen reichhaltig gedeckten Frühstückstisch, an dem sie sich dann niederlassen können. Sie stopfen ein Brötchen in sich hinein und lassen dann alles stehen und liegen. Das regt mich so auf, dass mir die Lust auf gemütliches Familienfrühstück direkt wieder vergeht.
Schon oft habe ich darüber nachgedacht, einfach meine Tasche zu packen und Finja, Yannick und Marlon für ein paar Tage sich selbst zu überlassen. Ich könnte zu Julia gehen und ein paar Tage ausspannen. So oft habe ich mit dem Gedanken gespielt. Getraut habe ich mich noch nicht.
Ich weiß ziemlich genau, was mich bei meiner Rückkehr erwarten würde. Bestimmt würden überall Pizza-Kartons und Burger-Schachteln nur darauf warten, dass ich endlich nach Hause komme und das Chaos beseitige. Nein danke. Das ist es mir dann doch nicht wert.
Natürlich wäre es auch möglich, dass Finja, Yannick und Marlon über sich hinauswachsen und unser Haus in einen topp Zustand versetzen würden. Es könnte gut sein, dass sie mich mit frischen Blumen und einem leckeren Abendessen überraschen würden. Möglich wäre es. Allerdings glaube ich nicht daran. Dafür kenne ich meine Pappenheimer dann doch ein bisschen zu gut.
Dass Yannick und Finja sich so eingehend mit ihren Zimmern befassen, liegt auch nur daran, dass sie dringend das WLAN-Passwort haben wollen. So werde ich es in Zukunft wohl immer handhaben, wenn die Kinderzimmer nach frischer Luft, einem Staubsauger und Putzlappen schreien.
Stumm lächle ich vor mich hin.
»Mein Zimmer ist sauber.«, erklärt Yannick eine gute Stunde später.
»Meines auch.«, schiebt Finja hinterher.
»Das klingt wunderbar.«, sage ich lächelnd.
»Bekommen wir jetzt das WLAN-Passwort?«
»Ihr habt auch nicht alles einfach in die Schränke geschmissen?«
»Natürlich nicht. Also Mama.«
Meine Teenager schütteln die Köpfe und lächeln mich an.
»Okay. Dann lasst mal sehen.«
Ich erhebe mich gemächlich.
Yannicks Zimmer sieht aus wie neu. Sogar die Schränke sind weitgehend ordentlich. Keine schmutzigen Teller oder Becher zwischen sauberen Klamotten. Erleichtert atme ich auf.
Dann betrete ich Finjas Zimmer. Meine Große ist nicht gerade mit dem Talent, Ordnung zu halten, gesegnet. Trotzdem hat sie für ihre Verhältnisse gut aufgeräumt.
»Dafür habt ihr euch eine Belohnung verdient.«, erkläre ich gut gelaunt und frage mich einmal mehr, warum mir nicht schon früher die Idee gekommen ist, das WLAN-Passwort zu ändern.
»Das Passwort?«, fragen Finja und ihr jüngerer Bruder wie aus einem Mund.
»Also, eigentlich hatte ich eher an ein Eis gedacht.«
»Ooooh. Mama.«
»Ich mag gar kein Eis.«
Ha! Das ist gelogen. Meine Kinder lieben Eis.
»Wir könnten ein Eis essen gehen und wenn wir wieder daheim sind, verhandeln wir übers Passwort.«
»Keinen Bock.«
»Ich muss noch was für die Schule machen. Apropos Schule … «
Finja verzieht das Gesicht.
»Kann ich kurz allein mit dir sprechen? Ohne den kleinen Wichser?«
»Finja!«, schimpfe ich.
»Blöde Kuh!«, zischt Yannick.
»Arsch!«
Oh, ich liebe meine Kinder. Vor allem, wenn sie so liebevoll miteinander umgehen.
Yannick lässt sich auf Finjas Schreibtischstuhl fallen und macht es sich dort gemütlich. Abwartend schaut er uns an.
»Yannick, du hast doch bestimmt auch noch was zu tun, oder?«
»Nö. Eigentlich nicht. Ich warte nur noch auf das WLAN-Passwort.«
»Dass du nicht bekommst, wenn du weiterhin so rumnervst.«, knurrt meine Sechzehnjährige.
»Heißt übersetzt … hau ab!«
Yannick schaut mich fragend an.
»Wenn Finja mit mir alleine sprechen will, wirst du das akzeptieren müssen.«, erkläre ich meinem Sohn, der nachdenklich mit dem Kopf wackelt.
»Okay. Aber das kostet dich was, Finni.«
»Schieb deinen Hintern zur Tür raus. Sonst setzt es was!«
Meine Güte, was zur Hölle ist denn bitte in meine Kinder gefahren? Früher waren sie immer so süß zusammen. Sie haben es geliebt, miteinander in einem Bett zu schlafen. Das hat sich schon vor einiger Zeit geändert. Aber so wie gerade gehen sie sich selten an. Sie lieben sich vielleicht nicht immer, akzeptieren sich aber eigentlich schon. Ich unterdrücke ein Seufzen.
»Yannick, lass Finja und mich bitte kurz allein.«, erkläre ich nach außen hin völlig ruhig.
In mir tobt jedoch ein Sturm. Ich muss demnächst mal mit Julia über Finja und Yannick sprechen. Sie kennt sich doch aus mit jungen Leuten.
Als Finja einen Schritt auf Yannick zumacht, erhebt sich der Jüngere meiner Kinder und trollt sich zur Tür. An der Tür bleibt er stehen und wirft seiner Schwester einen vernichtenden Blick zu, den diese locker pariert.
»Was ist los?«, frage ich als die Tür endlich hinter Yannick ins Schloss fällt.
»Ich brauche einen Praktikumsplatz.«
»Oh. Sehr gut. Wann geht es los?«
»Nächsten Montag.«
Wie bitte? Ich muss mich verhört haben.
»Wann?«, frage ich vorsichtshalber nach.
»Nächsten Montag.«
Ich fürchte, ich habe mich doch nicht verhört. Alles andere als entspannt, reibe ich mir den Nacken. Kopfschmerzen stellen sich ein.
»Heute ist schon Donnerstag.«
»Ich weiß.«, erklärt Finja und windet die Hände.
»Ich werde mich morgen bei deinem Lehrer melden und mich beschweren, dass ihr so spät Bescheid bekommt, wenn ein Praktikum ansteht.«
»Äh. Also … ich … «
Meine selbstbewusste Tochter ist plötzlich so gar nicht mehr selbstbewusst.
Ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, zieht Finja eine Schublade auf und befördert einen Schwung zerknüllter Blätter ans Tageslicht. Sie wühlt sich durch den Stapel Papiere und drückt mir schließlich eine der DIN-A vier Seiten in die Hand.
Mein Blick sucht automatisch nach dem Datum.
»Du weißt das seit drei Monaten!«
Tief durchatmen, Lena. Tief durchatmen. Es bringt rein gar nichts, wenn du dich aufregst. Es bringt auch nichts, wenn du deine Tochter nieder machst. Damit änderst du rein gar nichts.
»Ich habe es vergessen.«, murmelt Finja.
»Vergessen? Leidest du an Alzheimer?«
»Keine Ahnung. Kann schon sein.«
Dieses Kind ist unmöglich. Ich frage mich ernsthaft, wie sie so ruhig bleiben kann. Das Praktikum stellt einen wichtigen Punkt im Jahr dar. Vier Wochen lang muss sie in einem Unternehmen helfen und das, was sie macht, dokumentieren. Ich will lieber nicht wissen, was passiert, wenn sie keinen Praktikumsplatz hat.
»Was soll ich denn jetzt machen?«, fragt Finja und schaut ein bisschen ängstlich aus der Wäsche.
Gute Frage. Verdammt knappe Kiste. Oh Mann. War ich früher auch so? Ich denke zurück, kann mich aber nicht erinnern, dass ich jemals so im Dreck gesessen hätte. Wenn ich Gefahr lief, einen Termin zu vergeigen, hat Julia mir die entsprechenden Termine in Erinnerung gerufen. Julia ist wie ein wandelnder Kalender. Ihr Gedächtnis funktioniert besser als die beste digitale Gedächtnisstütze.
Apropos Julia. Ein kleiner Hoffnungsschimmer funkt auf.
»Du könntest Julia anrufen und sie um Hilfe bitten.«
»Kannst du das nicht machen?«
»Tu nicht so, als ob Julia dich fressen würde. Ruf sie an und frag sie, ob sie dir helfen kann.«
»Na guuuut.«, brummelt Finja gedehnt und klingt alles andere als begeistert.
Ich kann mir vorstellen, warum sich ihre Begeisterung in Grenzen hält. Julia ist meine beste Freundin. Wenn Finja bei ihr Praktikum macht, steht sie unter ihrer Kontrolle. Das würde mir wahrscheinlich auch nicht gefallen.
»Kann ich nicht erst mal durch die Stadt düsen und schauen, ob ich irgendwo anders ein Praktikum bekomme?«, fragt Finja mit hoffnungsvollen Augenaufschlag.
»Das kannst du gerne machen. Mach dir aber lieber nicht zu viel Hoffnung. So weit ich das aus dem Brief herauslese, machen gerade sämtliche neunten Klassen der Stadt ein Praktikum. Wer jetzt noch keinen Platz hat, muss ordentlich Klinken putzen und auf ein Wunder hoffen.«
In meinen Augen ist Julia die einzige Möglichkeit, die Finja noch bleibt.
»Aber ich hab keinen Bock auf Behindis.«
»Finja!«
»Was denn? Die haben doch alle keinen Grips in der Birne.«
Seit wann neigt mein Kind so zu Vorurteilen? So habe ich sie definitiv nicht erzogen. Sie sollte dringend das Praktikum bei Julia machen. Und sich in Erinnerung rufen, dass es nicht selbstverständlich ist, gesund zu sein.
»Ruf Julia an.«
»Na gut. Aber auf deine Verantwortung.«