4. Lena

W o gehst du hin?«, fragt mein Mann Marlon und klingt alles andere als angetan.

»Ich treffe mich mit Julia.«

Marlon rollt mit den Augen. Er mag es nicht besonders, wenn ich mich mit meiner besten Freundin treffe, was wohl daran liegt, dass er Julia nicht besonders leiden kann.

»Eigentlich dachte ich, dass wir an den See fahren können.«

»Jetzt?«, frage ich mit unschuldigen Augenaufschlag.

»Es ist dunkel.«

»Aber wenn du dich mit Julia triffst, ist es hell? Oder wie soll ich das verstehen?«

Eigentlich ist es mir egal, was er versteht. Wenn er mit seinen Freunden loszieht, interessiert es ihn doch auch nicht, ob ich lieber mit ihm Essen gehen würde.

»Wir hätten auch einen Spieleabend machen können.«

Einen Spieleabend? Bei dieser Hitze? Ganz sicher nicht.

»Finja übernachtet bei Sophie und Yannick ist mit Paul zelten.«

»Noch besser. Dann haben wir das Haus ganz für uns allein.«

Er zwinkert mir zu. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, was ihm so vorschwebt. Allerdings habe ich keine Lust.

»Ich habe meine Tage.«, erkläre ich ausweichend.

»Du solltest mal zum Frauenarzt gehen, so oft, wie du deine Tage hast.«

Marlon macht einen Schritt auf mich zu. Ich weiche zurück.

»Ich möchte jetzt keinen Sex haben.«, erkläre ich ihm, ohne mit der Wimper zu zucken.

Marlon verzieht das Gesicht.

»Langsam verstehe ich, warum so viele Männer Pornos schauen, ins Puff gehen oder sich eine Geliebte anschaffen.«

Obwohl mich seine Worte treffen, zucke ich lediglich mit den Schultern.

»Wir Frauen sind eben keine Maschinen, die auf Knopfdruck funktionieren. Vielleicht solltet ihr Männer euch mal etwas mehr bemühen.«

Ich weiß, dass ihn die Kritik trifft. Er hält sich selbst für einen ausgesprochen guten Verführer. Nur gut, dass jeder seine eigene Meinung haben darf.

»Ich werde jetzt auf jeden Fall gehen. Kann sein, dass ich heute bei Jule übernachte. Warte also nicht auf mich.«

Ich hauche ein versöhnliches Küsschen auf seine Lippen, wobei ich seine Lippen eher mit meinen streife. Marlon reagiert ziemlich heftig auf Küsse und da mein Bedarf nach Sex im Moment nicht wirklich vorhanden ist, will ich es nicht darauf anlegen.

»Tschüss. Schönen Abend.«

Mit dem Picknickkorb am Arm verlasse ich das Haus, wohl wissend, dass Marlon mir hinterher schaut.

Er macht die Tür noch einmal hinter mir auf.

»Wir hätten doch auch ein Picknick machen können. Nur du und ich.«, versucht er es noch einmal, mich umzustimmen, aber mein Plan steht fest.

Heute Nacht werde ich mit Julia schwimmen gehen. Wir werden uns nackt ins Gras legen und die Sterne und den Mond bewundern. Wenn das Loch im Zaun noch vorhanden ist. Ansonsten müssen wir wohl an den See fahren. Aber das wäre auch kein Problem. Ich freue mich auf die Zeit mit Julia.

Es ist schon eine Weile her, dass wir Beide einfach so losgezogen sind.

Da ich seit einigen Wochen stolze Besitzerin eines E-Bike bin, kann ich ganz entspannt in die Pedalen treten und komme gut vorwärts.

Vor dem Haus, in dem Julia wohnt, halte ich an und parke mein Rad neben dem Häuschen, in dem die Mülltonnen untergebracht sind.

Da Julia im Erdgeschoss wohnt, spare ich mir das Klingeln und klopfe einfach an das erste Fenster, das ich auf Zehenspitzen erreiche. Da keine Reaktion kommt, bücke ich mich und hebe ein kleines Steinchen vom Boden. Dieses Steinchen werfe ich gegen das Fenster. Es klimpert. Dann fällt das Steinchen zu Boden. Julias Wohnung bleibt dunkel.

Enttäuschung regt sich in mir. Frustriert drehe ich mich um die eigene Achse und versuche mein Glück erneut.

Das kann doch nicht wahr sein. Hat Julia ihre Drohung also wahr gemacht und ist einfach woanders hingegangen? Oder hat sie vielleicht ein Date? Mein Herz sticht ein bisschen. Aber das hätte sie mir doch geschrieben. Oder etwa nicht?

Ich bin mir nicht ganz sicher, aber manchmal glaube ich, dass Julia Geheimnisse vor mir hat.

Seit unserem Studium ist viel passiert. Da ist es nur logisch, dass man sich ein bisschen voneinander entfernt. Aber trotzdem ist sie einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben.

Noch einmal stelle ich mich auf die Zehenspitzen und klopfe ans Fenster.

»Was tun Sie hier?«, zischt eine weibliche Stimme hinter mir.

Ich zucke zusammen. Fühle mich nicht in der Lage, mich umzudrehen.

Das Zischen geht in Lachen über.

»Wolltest du etwa bei mir einbrechen?«

Jetzt, endlich, erkenne ich Julias Stimme. Ich drehe mich zu ihr um. Sie strahlt mich an.

»Normalerweise schlafe ich um diese Zeit ja schon.«, sagt sie.

Ich mache einen Schritt auf Julia zu und schließe sie in meine Arme. Wie sehr ich sie doch vermisst habe. Wir müssen uns unbedingt wieder öfter treffen. Zeit miteinander ist so wertvoll. Diese Momente kann uns niemand nehmen. Ich nehme mir vor, mit ihr darüber zu sprechen, sobald wir im Schwimmbad sind. Oder, wenn alles ungünstig läuft und das Loch im Zaun nicht mehr da ist, am See.

Ich schmiege mich an Julia und inhaliere ihren Duft. Sie riecht nicht mehr so wie früher. Früher hatte sie immer so einen herb-süßlichen Körpergeruch, der nur von ihrem Duschgel und dem Deo, das sie benutzte, überlagert wurde.

Ich habe diesen Duft geliebt.

Am Liebsten würde ich Julia gar nicht mehr loslassen.

»Ich kriege keine Luft.«, ächzt Julia nach einer Weile, so dass ich die Umarmung etwas unwillig lockere.

Julia lenkt den Blick auf mich. Obwohl es auch vor ihrem Haus ziemlich dunkel ist, erkenne ich das Funkeln in ihren Augen. Mein Bauch fängt an zu rumoren. Habe ich etwa etwas Falsches gegessen? Aber dann hätten wir doch alle diese Probleme. Daran kann es nicht liegen. Irritiert kratze ich mich am Kopf. Mein Herz schlägt auch ziemlich schnell, was wohl eindeutig an der Hitze, die wie eine Glocke über der Stadt hängt, liegt.

»Bist du bereit?«, frage ich mit schwindendem Enthusiasmus.

»Klar. Du auch?«

»Logo.«

»Super. Dann können wir ja los.«

Wir schwingen uns beide auf unser Fahrrad. Da Julia noch kein E-Bike besitzt, muss sie sehr viel mehr strampeln als ich. Trotzdem gelingt es ihr immer wieder, mich ein Stückchen abzuhängen.

Als wir einen Hügel hinauf müssen, steht sie auf und strampelt im Stehen. Ihr Hintern wackelt im Mondlicht. Ich starre auf ihren Hintern. Und vergesse zu treten. Der Abstand zwischen uns wird immer größer. Ihr Hintern immer kleiner.

»Warte!«, keuche ich und trete in die Pedalen, um den Abstand wieder zu verringern.

Ich weiß nicht, woran es liegt, aber irgendwie kommt es mir so vor, als ob sich die Strecke mehr zieht als früher. Dabei hatte ich früher nicht mal ein E-Bike. Fünf Gänge. Das wars.

Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass ich ziemlich nervös bin. Das letzte Mal, dass ich mit Julia zum nächtlichen Schwimmen ins Freibad gefahren bin, liegt schon viele Jahre zurück. Damals waren wir noch jung und ungestüm. Und dumm.

Viel hat sich verändert seitdem. Jung und ungestüm hat sich zu einer verantwortungsvollen Mutter zweier Teenager gemausert. Ich trage nicht nur Verantwortung. Ich bin auch ein Vorbild und versuche mein Leben so zu gestalten, dass Finja und Yannick sich an mir orientieren können. Ich bin zuverlässig und komme so gut wie nie zu spät. Außer vielleicht mal fünf Minuten. Ich koche und putze, ich wasche und bügle und habe für Finja, Yannick und natürlich auch für meinen Mann Marlon zu jeder Tages- und Nachtzeit ein offenes Ohr. Darüber hinaus bin ich auch privates Taxiunternehmen für meinen Sohn und meine Tochter, gelegentlich auch für meinen Mann, wenn er in der Kneipe eins zu viel gehoben hat. Mein ganzes Leben dreht sich um meinen Job und meine Familie.

Die einzigen Auszeiten, die ich mir gönne, sind die Momente, in denen ich mit Julia unterwegs bin. Ich brauche diese Tage, beziehungsweise Abende. Die Zeit mit Julia gibt mir die Kraft, die ich brauche, um bis zu unserem nächsten Treffen durchzuhalten.

Auch, wenn ich keine Helikopter-Mutter bin – und das bin ich definitiv nicht – führe ich ein anstrengendes Leben und frage mich leider viel zu oft, wo mir der Kopf steht. Es gibt Tage, an denen ich mir selbst hinterher hechle und mich doch nicht zu fassen kriege.

»Weißt du noch, wo unsere Stelle im Zaun ist?«, fragt Julia als wir den verschlossenen Haupteingang hinter uns lassen.

Ich recke den Daumen und radle zielstrebig an ihr vorbei.

Die Hecken um das Schwimmbad sind höher als damals. Und dichter. Hoffentlich ist der alte Stromkasten von damals noch da. Der, auf den andere Jugendliche mit Spraydosen in großen schwarzen Lettern »Atomkraft? Nein danke!« geschrieben haben.

Obwohl ich die Jugendlichen von damals nicht kenne, frage ich mich, wie sie wohl heute zu ihrer Meinung von damals stehen. Mit Spraydosen in der Hand hielten sie sich für besonders opportun und kamen sich groß und stark vor. Die Welt hatten sie verändern und zu einem besseren Ort für alle machen wollen. Einige Jugendliche engagierten sich für die Grünen. Das war damals. Mittlerweile fehlt den Meisten von uns wohl die Zeit und der Nerv, sich ernsthaft mit Politik auseinanderzusetzen.

Das ist auch in Ordnung so. Nur die ewigen Nörgler, die doch nichts ändern wollen, kann ich nicht leiden. Aber solange jeder an dem Ort ansetzt, an dem er sich gerade befindet und mit Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft dafür sorgt, dass die Tage für die Menschen um einen herum ein bisschen glücklicher sind, ist doch schon ein großer Schritt in die richtige Richtung getan. Oder nicht?

Auf dem, vom Mondlicht und ein paar Straßenlaternen, nur spärlich beleuchteten Weg hinter dem Freibad halte ich Ausschau nach unserem Stromkasten.

Der Kasten ist noch da. Wenn auch die Aufschrift durch ein buntes Bild ersetzt worden ist. Direkt hinter unserem Rücken schaukeln Getreideähren im sanften Wind. Grillen zirpen. Über unseren Köpfen stoßen Fledermäuse ihre schrillen Pfiffe aus. Ich mag den Duft und die Geräuschkulisse des Sommers.

Mit leuchtenden Augen drehe ich mich zu Julia um. Julia ist stehen geblieben. Sie schaut mich an.

»Hier sind wir richtig.«, erkläre ich nach außen hin ganz entspannt und deute auf den Stromkasten.

Ich versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass mein Herz schneller schlägt als sonst. Auch die feuchten Hände versuche ich zu ignorieren.

Solange Julia denkt, dass alles in Ordnung ist, kann ich mir selbst ebenfalls vormachen, dass alles passt. Trotzdem bin ich ziemlich nervös. Ich meine, als wir damals den zerstörten Zaun als Hintereingang ins Schwimmbad genutzt haben, waren wir zwischen sechzehn und achtzehn. Damals hat uns die Möglichkeit ertappt zu werden nur zusätzlich angestachelt. Heute ist das minimal anders. Es ist Julia anzusehen, dass es ihr nicht wohl ist in ihrer Haut.

Wir könnten auch einfach kehrt machen und zum See fahren. Uns dort ein lauschiges Plätzchen suchen und gut ist. Aber irgendwie hat mich die Abenteuerlust gepackt. Ich will etwas erleben und vielleicht will ich auch ein bisschen mit dem Feuer spielen. Egal, wie groß die Gefahr ist, dass ich mich am Feuer verbrenne.

Seit Tagen male ich mir aus, wie ich genauso wie damals mit Julia über die Wiese hinter dem Stadionbecken renne. Hand in Hand und splitternackt.

Die Aussicht auf dieses Erlebnis hat mich ziemlich kribbelig gemacht. Ist auch kein Wunder. Das erste Mal seit unserer Jugend bin ich im Begriff, etwas Verbotenes zu machen.

Ich bin so brav geworden, dass ich mir nicht mal Tickets für falsches Parken aufbrummen lasse.

Das hätte ich mir auch nie zu träumen gewagt. Es kommt mir so vor, als würde ein komplett anderer Mensch unter meiner Haut stecken. Allerdings bin ich mir nicht ganz sicher, ob das ausschließlich an der Tatsache, dass ich als Mutter Verantwortung für zwei Kinder trage, liegt, oder ob ich mich nicht auch ohne Kinder so verändert hätte.

Dieser Abend mit Julia soll dazu beitragen, dass ich mir selbst wieder etwas näher komme.

Schon klar, dass Marlon mich nicht verstehen wollte. Ihm gefällt die Frau, die ich geworden bin. Ist ja auch so herrlich einfach für ihn.

Julia stellt ihr Rad ab und kommt auf mich zu.

»Sollen wir das wirklich machen?«, fragt sie leise und sieht sich um.

»Klar. Warum denn auch nicht?«, gebe ich zurück.

Meine Stimme klingt nicht annähernd so mutig und motiviert wie die Worte, die sie sagen.

»Weil es verboten ist?«

Im Schein meiner Handytaschenlampe sehe ich, dass meine beste Freundin die Augenbraue hochzieht.

»Hast du etwa keinen Mumm in den Knochen?«

»Doch. Logisch. Aber stell dir doch nur vor, wie es wäre, wenn wir erwischt werden. Wie peinlich.«

Nach außen hin total lässig zucke ich mit den Schultern.

»Wir können nichts dafür, wenn wir Nachts schwimmen gehen wollen und in dieser Zeit das Schwimmbad geschlossen ist.«

Julia schüttelt den Kopf.

»Du bist unmöglich.«

Ich grinse.

»Tu nicht so. Dir ist doch auch nicht wohl dabei.«

Ha! Von wegen. Ich bin mutig und stark. Wenn unser Loch im Zaun noch da ist, werde ich es finden. Und dann werde ich schwimmen gehen. Wenn Julia nicht mitkommen möchte, muss sie es eben bleiben lassen.

Ich hole den Korb von meinem Fahrrad und nehme ihn über den Arm. Direkt vor dem Stromkasten beginne ich, mich durchs Gebüsch zu schlagen. Die Äste und Zweige kratzen mich an Armen und Beinen.

»Autsch!«, jaule ich und versuche, die Äste zur Seite zu drücken.

»Danke auch!«, jammert Julia hinter mir, und ich drehe mich zu ihr um.

»Was ist los?«

»Du hast mir den Ast ins Gesicht schnalzen lassen.«, grummelt sie.

»Das tut mir leid. Wirklich.«

Wie gut, dass es fast ganz dunkel ist. Dadurch sieht Julia mein breites Grinsen nicht.

Das Gebüsch ist so trocken, dass die Äste knacken und die Blätter rascheln. Nur noch wenige Schritte.

Enttäuschung regt sich in mir. Gleichzeitig bin ich ein bisschen erleichtert, ehrlich gesagt. Ich drehe den Kopf in Julias Richtung.

»Du hast nicht zufällig eine Drahtschere dabei, oder?«

»Wieso?«

»Weil unser Loch im Zaun weg ist.«

Wäre ja auch ein Wunder gewesen. Seit unserem letzten nächtlichen Schwimmbadbesuch sind viele Jahre vergangen. Bestimmt hat irgendwann ein übereifriger Gärtner das Loch bemerkt und dafür gesorgt, dass es verschlossen wurde. Oder ich habe mich getäuscht und wir müssen ein paar Meter nach rechts oder links gehen.

Vorsichtig schiebe ich die Äste zur Seite und spähe nach rechts. Kein Loch. Links auch nicht.

»Kein Loch!«, rufe ich mit unterdrückter Stimme.

Statt einer Antwort leuchtet der Schein einer Taschenlampe auf. Von der anderen Seite des Zauns. Ich zucke zusammen.

»Macht, dass ihr verschwindet, ihr Vandalen!«, schimpft eine zu hoch geratene Männerstimme.

»Kommt zu den normalen Badezeiten!«

Hektisch schiebe ich das Handy in die Hosentasche und schleiche vorsichtig durchs Gebüsch zurück.

»Lass uns gehen.«, zische ich in Julias Richtung, die mir folgt, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.

»Phu, das war vielleicht knapp.«, ächze ich als wir bei unseren Fahrrädern ankommen.

Julia schaut mich an. Sie grinst mich an. Dann bricht sie in Gelächter aus.

»Hast du sein Gesicht gesehen?«, gackert sie.

»Er sah aus wie ein roter Luftballon kurz vor dem Platzen.«

Auf meinen fragenden Blick zuckt sie mit den Schultern.

»Ich war direkt vor ihm. Allerdings hat er nur oben ins Gebüsch geleuchtet. Ich saß auf dem Boden. Dadurch hat er mich nicht gesehen.«

»Und was machen wir jetzt?«

»Wir fahren an den See. Ist doch sowieso viel schöner.«

Mittlerweile gewinnt die Erleichterung immer mehr die Überhand. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn der Security-Mitarbeiter uns erwischt hätte, wenn wir gerade nackt über die Wiese gelaufen wären.

»Na gut. Dann ab an den See!«

Julia und ich schwingen uns auf unsere Sattel und radeln los.

Es ist immer noch ziemlich warm. Ein Bad im See wird uns ganz sicher gut tun. Ich freue mich auf das erfrischende Wasser. Ob wir wohl wieder nackt baden? So wie damals?

Wir könnten uns eine Bucht suchen, in der nicht so viel los ist.

Obwohl es schon fast Mitternacht ist, erwarte ich jede Menge Leute am See. Vor allem an heißen Tagen tummeln sich an unserem See bis in die frühen Morgenstunden die Leute.

Selbst, wenn es aufgrund der Trockenheit verboten ist, offenes Feuer zu machen, sieht man schon von Weitem die eine oder andere Feuerstelle.

Es riecht auch verbrannt.

»Idioten!«, grummelt Julia dicht hinter mir.

»Sie demonstrieren gegen den Klimawandel und dann machen sie Feuer, wenn alles furztrocken ist.«

Ich lache leise.

»Gönne ihnen doch ihren Spaß.«

»Nö. In diesem Punkt bin ich hart. Ent oder weder. Man kann nicht Wasser predigen und Wein trinken. Weißt du, was ich meine?«

Aber wer sagt Julia denn, dass das die gleichen jungen Leute sind, die an manchen Freitagen die Schule sausen lassen und stattdessen auf die Straße gehen?

Am oberen Ende des Hügels hole ich Schwung und lasse mich dann treiben. Ich lasse den Lenker los und breite die Arme aus.

Julia schießt quietschend an mir vorbei.

»Jihaaa!«, schreit sie.

Meine Güte, hat die ein Tempo drauf. Ich muss ganz schön in die Pedalen treten, um mit ihr mitzuhalten. Uff.

Es gelingt mir nicht, sie zu erwischen, aber am Ufer bleibt sie stehen. Je näher ich komme, desto deutlicher erkenne ich, dass sie den Blick über den See richtet.

»Sieht das toll aus.«, sagt sie, und ich bilde mir ein, Ergriffenheit zu hören.

Der Mond und die Sterne zeichnen silbern schimmernde Spuren ins Wasser, das glatt wie ein frisch polierter Spiegel vor uns liegt.

Mittlerweile hat der Wind auch sein leichtes Lüftchen eingestellt. Kein Blättchen regt sich. Es kommt mir so vor, als ob es noch wärmer ist als vorhin.

»Rechts oder links?«, frage ich, doch da fährt Julia schon los.

Ich folge ihr, den Blick die ganze Zeit auf ihren kleinen Hintern gerichtet.

Ungefähr einen Kilometer später biegt Julia wieder nach links ab. Hoffentlich ist dieser Platz frei.

Ein kleines Jauchzen hüpft über Julias Lippen.

»Hier ist es perfekt!«, jubelt sie, springt vom Rad und lässt es einfach ins Gras fallen.

Ich stelle mein Rad vorsichtig ab und nehme den Korb vom Gepäckträger. Mit dem Korb in der Hand gehe ich hinter Julia her.

So wie früher auch immer ist Julia für die Decke und die Getränke zuständig, die sie aus dem Rucksack auf ihrem Rücken holt. Gemeinsam breiten wir die große Decke auf dem teilweise ziemlich vertrockneten und verbrannten Gras aus. Julia holt Gläser, eine Wasser- und eine Weinflasche aus dem Rucksack und stellt sie auf die Decke. Ich lege verschiedene Leckereien dazu.

»Endlich mal wieder ein Abend nur für uns.«, seufzt Julia.

»Marlon hat sich aufgeregt.«

»Aber warum denn das?«

»Weil er sich diesen Abend anders vorgestellt hat. Die Kinder sind unterwegs.«

»Oha. Du musst nicht weitersprechen. Ich kann mir auch so lebhaft vorstellen, was er sich vorgestellt hat.«

Ich unterdrücke ein Seufzen.

»Er zwingt dich aber nicht dazu, oder?«, fragt Julia und klingt ziemlich alarmiert.

»Natürlich nicht.«, sage ich bestimmt, obwohl das nur die halbe Wahrheit ist.

Natürlich zwingt er mich nicht. Das würde ich auch niemals zulassen. Wenn ich nicht will, will ich nicht. Allerdings kann es vorkommen, dass er dann mehrere Tage sauer ist und nur das Nötigste mit mir spricht.

Er ist davon überzeugt, dass er mindestens viermal pro Woche Sex haben muss, um keinen Samenstau zu erleiden. Ja. Wirklich. So argumentiert er. Mittlerweile hat er immerhin begriffen, dass es vielseitige Gründe gibt, warum im Bauplan der meisten Menschen zwei gesunde Hände vorhanden sind.

Diabolisches Grinsen huscht über meine Lippen, das Julia natürlich bemerkt, obwohl sie gerade damit beschäftigt ist, den Korken aus der Weinflasche zu ziehen. Es ploppt leise.

»Einen Fünfer für deine Gedanken.«, murmelt Julia, während sie den Wein in die Gläser gießt.

»Ich habe nur gerade daran gedacht, dass ich Marlon vor einiger Zeit gesagt habe, dass er doch zwei gesunde Hände hat.«

Julia kichert. Dann fängt sie an zu lachen.

»Ich hätte ja gerne sein Gesicht gesehen.«

»Das war filmreif, das kann ich dir sagen.«

Ich verziehe die Lippen.

»Versteh mich nicht falsch. Ich liebe Marlon, aber meistens habe ich so viel im Kopf, dass mir schlicht die Motivation und die Kraft fehlen, um intim zu werden. Verstehst du, was ich meine?«

Julia nickt, schwenkt aber nachdenklich das Glas zwischen den Händen. Ob sie wohl spürt, dass ich ihr etwas verheimliche? Ob sie wohl spürt, dass ich mir selbst nicht ganz klar bin, was ich fühle?

»Solange ihr glücklich zusammen seid, ist doch alles gut.«, murmelt meine beste Freundin und hält mir ihr Glas zum Anstoßen hin.

Ich nehme einen kleinen Schluck und starre nachdenklich auf den See.

»Ich denke schon, dass ich glücklich bin.«, wispere ich leise vor mich hin.

»Das klingt nur halb glücklich.«

»Finni und Yannick sind unglaublich anstrengend. Vor allem Finni. Sie zerrt so sehr an meinen Nerven, dass ich manchmal am Liebsten Scheiße brüllen würde.«

»Das kann ich nachvollziehen. Mädchen in der Pubertät … «

Julia lässt offen, ob sie noch etwas hätte sagen wollen. Da sie nicht weiter spricht, gehe ich allerdings davon aus, dass es sonst nichts zu sagen gibt.

»Ich brauche einfach ab und zu mal eine kleine Auszeit. Danke, dass du mitgekommen bist.«

Wir prosten uns zu. Julia schenkt mir ein Lächeln. Dann stellt sie ihr Glas auf die Decke und steht auf. Langsam läuft sie zum Wasser. Ich folge ihr. Mit den Blicken. Als sie im schillernden Mondlicht die Schuhe auszieht und sich streckt, um dann vorsichtig ins Wasser zu waten, erkenne ich einmal mehr, was für eine gut aussehende beste Freundin ich an meiner Seite habe.

Julia ist nicht nur ein toller Mensch. Sie sieht eben auch toll aus. Ich verstehe nicht, warum sie immer noch keine neue Frau an ihrer Seite hat.

»Warum bist du eigentlich immer noch Single?«, frage ich wenig einfühlsam als ich bei ihr ankomme.

»Weil ich noch nicht die Richtige gefunden habe.«, erklärt sie lapidar.

»Aber für jeden Topf gibt es doch einen Deckel, irgendwo da draußen.«

»Schon. Aber vielleicht bin ich ja gar kein Topf, sondern eine Pfanne.«

»Aber auch für Pfannen gibt es Deckel.«

»Und die passen meistens nicht.«

Da hat sie auch wieder recht. Mist.

»Ich verstehe es trotzdem nicht. Ich meine. Du bist so eine wundervolle und besondere Person. Wer dich kennt, liebt dich.«

»Danke für die Blumen. Aber ich bin eben auch ein bisschen wählerisch geworden. Außerdem habe ich keine Lust, meine Zeit mit der falschen Frau zu verschwenden. Dann bleibe ich lieber mit Ferdinand allein.«

»Aber sehnst du dich nicht nach Nähe und Wärme? Nach Liebe und Zärtlichkeit?«

»Natürlich. Wer tut das nicht? Aber nicht um jeden Preis.«

Julia bückt sich, um die Hose weiter hoch zu krempeln.

»Warum ziehen wir uns nicht ganz aus? So wie früher?«