8. Lena

M eine auf dem Bett liegende leere Reisetasche wartet darauf, dass ich sie mit allem, was ich für das längere Wochenende mit Julia brauche, fülle.

Eigentlich gedenke ich nicht, besonders viel mitzunehmen. Den größten Teil der Zeit werden wir sowieso irgendwo im Hotel und im angrenzenden Schwimmbad verbringen. Denke ich jedenfalls. Also, was braucht man für ein Wochenende in einem Wellness-Hotel? Bikini auf jeden Fall. Und zwei schicke Kleider fürs Abendessen. Was noch? Jeans und Tops vielleicht? Gerade noch entspannt, fange ich an, mich hektisch durch meinen Kleiderschrank zu wühlen. Wo, zur Hölle, hält sich mein Lieblings-Top versteckt?

Das kann doch nicht wahr sein. Es ist wie vom Erdboden verschluckt. Dabei habe ich es gestern erst frisch gebügelt in den Schrank gelegt.

»Fiiiiinjaaa!«, rufe ich schallend.

»Hast du zufällig mein Lieblings-Top gesehen?«

»Nö.«

Irgendwie irritiert mich Finjas übermäßig schnelle Reaktion. Normalerweise muss ich mehrmals nach ihr plärren, wenn ich etwas von ihr will.

Mich verwirrt am Kopf kratzend starre ich in den Schrank als würde mir dessen Inhalt verraten, wo sich mein Lieblings-Oberteil verkrochen hat. Dann aber mache ich auf dem Absatz kehrt und schleiche auf Zehenspitzen zu Finjas Zimmer. Die Zimmertür steht offen. Mein Töchterchen ist gerade im Begriff ein Top auszuziehen. Ein dunkelgraues Top.

»Finja!«, schimpfe ich, und meine Tochter fährt herum.

Ertappt neigt sie den Kopf Richtung Boden.

»Wieso hast du mein Top an?«

»Weil es cool ist.«, entgegnet Finja und hält mir das Top hin.

Ich schnuppere am grauen Stoff und verziehe angewidert den Mund.

»Und du denkst allen Ernstes, dass ich diesen stinkenden Fetzen mitnehmen kann?«

»Tut mir leid.«, murmelt meine Tochter und schaut mich schuldbewusst an.

»Ich hatte nichts mehr zum Anziehen. Und heute ist doch mein letzter Tag. Da dachte ich… Außerdem stinkt das Top überhaupt nicht.«

Missmutig grinsend werfe ich das Top zu meiner Tochter zurück, die es lässig auffängt und an sich drückt.

»Darf ich wirklich?«, fragt sie vorsichtig in meine Richtung schielend.

»Ausnahmsweise. Aber lass das nicht zur Gewohnheit werden.«

»Bestimmt nicht, Mama.«

Kopfschüttelnd verlasse ich Finjas Zimmer, um mich wieder meinem Kleiderschrank zu widmen. Auch, wenn ich das Top selbst gerne mitgenommen hätte, ehrt es mich ja schon irgendwie, dass meine Klamotten bei meinem Teenager-Mädchen so gut ankommen, dass sie sich heimlich Sachen entwendet.

»Die schwarze Hose hast du dir aber nicht auch zufällig ausgeliehen, oder?«, belle ich nachdem meine Suche nach meiner eng geschnittenen schwarzen Hose genauso erfolglos war wie die Suche nach meinem Top.

»Doch. Also … äh.«

Finja lehnt sich an den Türrahmen. Unsere Blicke begegnen sich.

»Du bist unmöglich.«, schimpfe ich.

»Aber was kann ich denn dafür, dass meine Sachen nicht schneller trocknen?«

Ich lasse das Kleidungsstück, das bis gerade noch in meiner Hand lag, fallen und gehe barfuß an Finja vorbei. Vor ihrem Kleiderschrank bleibe ich stehen.

»Wollen wir ja mal sehen, ob deine Klamotten tatsächlich unter dem Verschwinde-Gen leiden.«

Ich ziehe die Schranktür zur Seite und deute mit beiden Händen auf das Chaos, das sich vor mir ausbreitet.

»Ich bin mir ganz sicher, dass sich irgendwo in dem Haufen noch etwas findet, was du hättest anziehen können.«

»Aber Mama, schau doch nur, das Top und die Hose passen so super zusammen.«

Ich schaue Finja von oben bis unten an. Die Kombination passt wirklich perfekt und scheint wie für meine Tochter gemacht. Dass Finja auch noch meine Schuhe trägt, darf ich wohl als zusätzliches Einverständnis für meinen Kleidergeschmack werten.

»Und was soll ich jetzt anziehen, wenn ich fragen darf?«, brummle ich, und Finja zuckt mit den Schultern.

»Ich denke, dass Julia kein Problem hat, wenn du gar nichts anhast.«

»Wie bitte?«

Ich muss mich verhört haben.

»Nichts. Nichts. Ich habe nur laut gedacht.«

»Und was hast du gedacht?«

»Dass heute ein wunderschöner Tag ist.«

Finja zwinkert mich an und taucht dann unter meinen Armen hindurch. Ich lege meinen Arm um sie. Gemeinsam schauen wir in den großen Spiegel an der Schranktür.

»Du siehst aus wie ich früher.«, stelle ich überrascht fest.

»Wie, früher. Damals, als es noch Schlaghosen gab und du noch jung und knackig warst?«

Also wirklich. Ich drehe den Kopf in Finjas Richtung und werfe ihr einen bösen Blick zu.

»Ich bin immer noch knackig.«

»Stimmt. Knackt hier. Knackt da.«

Finja lacht so fröhlich auf, dass mein Herz einen kleinen Hüpfer macht. Ich mag, wenn meine Große lacht, so dass es mir sogar gelingt, den Wahrheitsgehalt ihrer äußerst liebenswürdigen Spitze zu ignorieren.

»Du bist ganz schön frech.«

»Von wem ich das wohl habe?«, kontert Finja grinsend und umarmt mich stürmisch.

»Fährst du mich wieder zur Arbeit?«

Natürlich lasse ich es mir nicht nehmen, sie an ihrem letzten Arbeitstag ein letztes Mal persönlich an Lena zu übergeben.

»Heute holt dich allerdings dein Vater ab. Wenn er es vergisst, nimmst du eben den Bus.«

»Er vergisst es doch sowieso.«

Kann schon sein, doch damit werde ich mich heute nicht belasten. Pünktlich um halb fünf werde ich vor der Werkstatt für Behinderte auf Julia warten und sie dann in ein schönes Wochenende entführen.

Die Vorfreude auf unser Wochenende lässt mein Herz schneller schlagen. Natürlich habe ich Finjas Kommentar, dass es Julia wohl nichts ausmachen wird, wenn ich keine Klamotten trage, nicht vergessen. Allerdings bin ich mir nicht ganz sicher, was sie mir mit dieser Anspielung sagen wollte.

Finjas Blick strahlt Unschuld aus.

»Lass uns frühstücken gehen.«

»Morgen.«, murmelt Yannick als er ein paar Minuten später mit komplett zerzausten Haaren am Frühstückstisch auftaucht.

»Ich glaube, du verschwindest erst mal unter der Dusche.«, teile ich meinem Sohn mit.

»Aber warum denn? Ich möchte doch frühstücken.«

»Weil du stinkst wie ein Iltis.«, bemerkt Finja trocken.

»Ich kotze, wenn du noch länger hier stehen bleibst.«

»Finja!«

»Was denn? Ist doch wahr. Oder willst du behaupten, dass er wie Blümchen riecht?«

Das nun nicht gerade. Aber wie ein Iltis stinkt er auch wieder nicht. Er ist eben jetzt in einem Alter, in dem die Jungs eher zwei oder dreimal am Tag duschen müssen und sehr viel Deo brauchen.

»Ich kann auch wieder ins Bett gehen, wenn Finni meine Anwesenheit so schlimm findet.«

Mit hängendem Kopf trollt Yannick sich wieder. Ein paar Sekunden später höre ich das Wasser der Dusche laufen.

»Hör auf, so auf deinem Bruder herum zu hacken.«

»Wenn ich es ihm nicht sage, dass er stinkt, sagt es ihm niemand. Willst du etwa, dass er in der Schule gemobbt wird, weil er nicht gut riecht?«

Natürlich will ich nicht, dass Yannick gemobbt wird oder dass es so aussieht, als könnten wir uns kein Duschgel, kein Deo oder keine warme Dusche leisten.

»Du weißt doch, wie Jungs in diesem Alter sind.«

»Nö, weiß ich nicht.«

Finja zieht die Schultern hoch.

»Mal was Anderes.«, fange ich an und suche Finjas Blick.

»Wie hat dir das Praktikum gefallen?«

»War echt cool.«

Mehr erfahre ich wohl nicht. Finja starrt auf das Müsli auf ihrem Löffel.

»Was ist mit Wacken?«

»Das muss wohl ich bezahlen.«, grummelt meine Tochter.

»Heißt das, dass es dir gefallen hat?«

»War ganz cool. Wirklich.«

»Mehr hast du nicht zu erzählen?«

Finja legt den Löffel zur Seite und sieht mich voller Ernst in den Augen an.

»Ich glaube, ich werde nach der Zehnten die Schule verlassen und eine Ausbildung machen.«

Oh ha. Das sind ja komplett neue Töne. Interessiert beuge ich mich in Finjas Richtung.

»Ich möchte Erzieherin werden und dann mit Julia zusammenarbeiten. Julia ist nämlich echt cool. Vor allem, wenn man bedenkt, wie alt sie schon ist.«

Finja grinst. Ich schnappe nach Luft.

»Julia ist so alt wie ich.«

»Sag ich doch … steinalt.«

Ich frage mich, was ich falsch gemacht habe. Mein Töchterchen wird immer frecher. Doch diesen Zahn werde ich ihr gleich gezogen haben. Eine einzige kleine Frage wird ausreichen und ihr kleiner Höhenflug ist schlagartig wieder beendet.

»Musst du eigentlich auch einen Bericht schreiben?«

Sieben Wörter reichen aus, um Finja auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen.

»Ja.«, knurrt sie.

»Leider.«

»Wie lang?«

»Zehn Seiten.«

Oha, zehn Seiten werden eine Qual für Finja sein. Wenn es darum geht, einen Aufsatz zu schreiben, glänzt sie meist mit sehr kurzen Beiträgen. Wenn ich, ihr Vater oder ihr Deutschlehrer die Länge der Aufsätze kritisieren, zuckt sie mit den Schultern und erklärt, dass es sinnlos ist, mehr zu schreiben, wenn man sich auch mit wenigen Worten so ausdrücken kann, dass jeder weiß, worum es geht.

»Julia, Esther und Antonia haben mir ihre Hilfe angeboten.«

»Das bedeutet aber nicht, dass sie den Bericht für dich schreiben.«

»Das weiß ich auch.«, beschwert Finja sich missmutig und widmet ihre Aufmerksamkeit dem fast leeren Kaffeebecher vor ihrer Nase.

Kurze Zeit später gesellen sich Yannick und Marlon zu uns und lassen sich stöhnend auf ihre Plätze fallen. Während ich meistens ganz gut aus dem Bett komme und auch Finja nicht gerade mit dem Morgenmuffel-Gen ausgestattet ist, brauchen Marlon und Yannick morgens immer eine Weile, um ihre Betriebstemperatur zu erreichen. Vor dem ersten Kaffee braucht man Marlon morgens nicht ansprechen. Es sei denn, man hätte gerne einen Einlauf. Denn der ist einem gewiss, wenn man sich nicht an diese Regel hält.

»Na, Finni, heute letzten Tag?«, fragt Marlon und schluckt den Kaffee fast auf Ex hinunter.

»Klar. Holst du mich heute Nachmittag ab?«

»Warum denn das?«

»Weil Mama mit Julia wegfährt.«

»Ach so. Stimmt ja. Kein Problem.«

Er schaut Finja an.

»Läufst du eben heute mal heim.«

Yannick prustet. Finja fuchtelt mit den Armen durch die Luft. Ich lehne mich zurück. Schließlich ist der Familienwahnsinn ab heute bis Montag Abend nicht mehr mein Problem.

Allerdings verstehe ich nicht ganz, warum Marlon Finja so auflaufen lässt. Er weiß seit dem Tag, an dem ich gebucht habe, dass ich an diesem Wochenende nicht Zuhause sein werde. Warum er sich wohl so anstellt? Ich mag es nicht, wenn er seinen Unmut über meine Abwesenheit an den Kindern auslässt.

»Aber du hast es mir doch versprochen.«, jammert Finja.

»Habe ich das? Ich kann mich nicht daran erinnern.«

Marlon zwinkert mir zu. Finjas Kopf ist tiefrot. Wenn es gleich einen Schlag tut, ist unser Kind geplatzt.

»Könnt ihr euch bitte leiser streiten? Ich schlafe noch.«

Obwohl Yannick gerade geduscht hat, sieht er so aus, als wäre er unmittelbar aus dem Bett an den Küchentisch gefallen.

»Schafft ihr das am Wochenende?«, frage ich skeptisch in die Runde.

Die Mitglieder meiner Familie schütteln den Kopf, sagen aber Ja.

»Natürlich schaffen wir das.«, erklärt Finja und gibt ihrem Vater und ihrem Bruder zu verstehen, dass sie den Mund halten sollen.

»Wir bekommen das schon hin. Brauchst dir keine Sorgen machen.«, erklärt Marlon und nickt bekräftigend.

»Solange Finja wäscht, kocht und putzt, ist alles bestens.«

Finja und ich reißen die Augen auf. Yannick lacht herzhaft, während Marlon in Ruhe sein Brötchen mit Marmelade bestreicht.

»Mama, Papa ist bekloppt.«, schimpft Finja, und ich muss ihr ausnahmsweise Recht geben.

»Ich bin nicht eure Putze. Mama, darf ich übers Wochenende bei Leni übernachten?«

Ich würde gerne Ja sagen, halte mich aber zurück. An diesem Wochenende sind Finjas Pläne nicht mein Problem.

»Klär das mit deinem Vater.«

»Dann darf ich sowieso nicht. Du hast doch gehört, was er mit mir vorhat.«

Wenn ich Marlons abwesenden Gesichtsausdruck richtig deute, bekommt er zur Abwechslung nicht mit, was um ihn herum geschieht und besprochen wird. Seine Aufmerksamkeit gehört einzig dem Handy vor der Nase und der Brötchenhälfte, in die er herzhaft beißt.

»Marlon?«

Ich stupse ihn an. Ein Lächeln huscht über das Gesicht meines Mannes.

»Was ist denn?«, brummelt er und hebt den Kopf, um sich einen Kuss von mir zu erhaschen.

Diesen Kuss hat er sich allerdings selbst kaputt gemacht. Statt ihn zu küssen, entferne ich mich gerade so weit, dass er mich nicht mehr erreichen kann.

»Finja wird nicht eure Sachen wegputzen.«

»Das war doch auch nur ein Scherz.«

»Ein verdammt blöder Scherz, wenn du mich fragst.«, knurrt Finja.

»Dich fragt aber niemand. Also setz dich hin und sei still.«

Also, das ist doch die Höhe. Dass Marlon seinen Ärger über meine Abwesenheit am Wochenende an unserer Tochter auslässt, kann ich nicht so stehen lassen.

»Komm mal bitte kurz mit.«, sage ich und fasse Marlon am Arm.

Mein Mann latscht gemächlich hinter mir her. Ich gehe ins Schlafzimmer.

»Oh. Willst du nochmal?«, fragt er keck und leckt sich demonstrativ über die Lippen.

Ein Vorschlaghammer sendet eindeutig subtilere Botschaften aus als mein Mann.

»Ganz sicher nicht. Ich will, dass du dich am Wochenende um die Kinder kümmerst und dass du aufhörst, sie schlecht zu behandeln, nur weil du auf mich sauer bist.«

»Aber ich behandle sie doch gar nicht schlecht. Das, was ich mache, nennt man Erziehung.«

»Erziehung?«

Ich spucke das Wort förmlich aus, so gereizt bin ich mittlerweile. Dabei hat der Tag doch gerade erst angefangen.

»Wenn dir meine Methoden nicht passen, kannst du gerne am Wochenende daheim bleiben und dich selbst um Finja und Yannick kümmern.«

Also echt. Ich schnappe nach Luft und schaue meinen Mann an. Er hält meinem Blick lässig stand und lässt sich auch von meinem Schnauben nicht aus der Ruhe bringen. Es ist offensichtlich, dass er sich im Recht fühlt.

»Dünnes Eis. Ganz dünnes Eis.«, zische ich erbost.

Marlon schließt die Augen und schüttelt träge den Kopf.

»Hör zu, ich will nicht mit dir streiten. Fahr du zu deinem Wochenende mit Julia und lass mich und die Kinder mal machen. Vertrau mir einfach.«

Wie soll ich ihm vertrauen, wenn er so bescheuerte Sprüche herauslässt? Besonders entspannt bin ich gerade nicht mehr.

Genau genommen überlege ich, ob es nicht doch sinnvoller ist, das Wochenende mit Julia zu verschieben. Die Frage ist nur, auf wann. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die familiäre Stimmung sich in nächster Zeit großartig ändert. Allmählich fühlt es sich so an, als würde ich mein Haus mit drei pubertierenden Kindern teilen. Enttäuschung regt sich in mir. Ich würde Marlon gerne ein paar sehr direkte Dinge an den Kopf werfen, aber dazu fehlt mir im Moment die Kraft.

»Gibt es noch etwas, worüber du mit mir sprechen willst? Wenn nicht, würde ich jetzt gerne duschen gehen.«

Wie immer lässt Marlon seine Klamotten an der Stelle, an der er steht, einfach auf den Boden fallen und geht splitternackt zum Fenster. Es nervt mich, wenn er sich so übertrieben selbstbewusst gibt. Überhaupt nervt er mich heute so sehr, dass mein Geduldsfaden schon so früh am Tag kurz vor dem Reißen ist.

Ich vermute mal, dass er sich für besonders sexy hält. Jetzt wackelt er auch noch mit dem Hintern. Ich schließe die Augen und konzentriere mich ausschließlich auf meine Atmung.

»Kommst du mit unter die Dusche?«, raunt Marlon mir ins Ohr und streichelt mir über den Rücken.

»Du könntest mir den Rücken einseifen. Außerdem … «

»Ich habe schon geduscht.«, erkläre ich, statt ihm eine ordentlich platzierte Abfuhr zu verpassen.

Es hat mir schon gereicht, dass er sich vor zwei Stunden mit seiner Morgenlatte von hinten an mich herangemacht hat. Ich war noch nicht mal richtig wach …

Egal. Ich ignoriere sein Winseln und das Jammern und Flehen und lasse ihn einfach stehen.

»Aber wir sehen uns doch erst am Montag wieder. Wie soll ich das so lange aushalten, ohne...«

Ich schnappe nach Luft und schlucke den bissigen Kommentar, den ich noch auf den Lippen hatte, wieder hinunter und gehe einfach weiter. Besser ist das.

An der Tür bleibe ich stehen, drehe mich aber nicht zu ihm um.

»Wir sehen uns Montag Abend.«

Dann verschwinde ich aus seinem Sichtfeld und tappe kopfschüttelnd die Treppe hinunter. Theoretisch sollte es mir wahrscheinlich gefallen, dass er auch nach so vielen Jahren noch heiß auf mich ist und mehrmals pro Woche Bock auf mich hat.

Allerdings …

Diesen Gedanken führe ich nicht weiter.

Finja steht, ihren Rucksack über der Schulter, am unteren Ende der Treppe und schaut mich erwartungsvoll an.

»Bereit für deinen letzten Tag?«, frage ich fröhlich und lächle meine Tochter direkt an.

»Klar. Immer doch.«

»Bist du froh, dass du das Praktikum hinter dir hast?«

»Nö. Eigentlich nicht.«

Wenn ich den Ausdruck in Finjas Gesicht richtig deute, hat sie die Zeit in der Schwerbehindertengruppe der örtlichen Werkstatt für Behinderte sehr genossen. Ich kann mir gut vorstellen, dass es ihr gut getan hat, gebraucht zu werden. Sie ist während der letzten vier Wochen sichtbar gewachsen. Nicht körperlich, aber innerlich.

Noch am ersten Tag des Praktikums habe ich ein verwöhntes kleines Mädchen dort abgegeben und durfte von Tag zu Tag erleben, wie sich ihr Körper gestrafft hat. Ich habe den Eindruck, dass Finja selbstbewusster geworden ist. So etwas lernt man nicht in der Schule. Das haben Finja und ich ausschließlich Julia zu verdanken.

Wenn Finja auch nur ein bisschen nach mir kommt, saugt sie die Erfahrungen, die das Leben ihr liefert, auf wie ein trockener Schwamm. Ich konnte damals mit dem Wissen, das in der Schule in einen hinein getrichtert wird, nicht allzu viel anfangen.

»Ich hätte meinen Hintern verwettet, dass ich an meinem letzten Tag eine riesige Party gebe, weil das Praktikum endlich vorbei ist.«

Damit habe ich ehrlich gesagt auch gerechnet.

»Was hat sich verändert?«, frage ich interessiert nach.

»Ich. Ich habe mich verändert, denke ich.«

Oh lala. Das sind ja mal schöne Töne. Ich hoffe und wünsche mir, dass diese Veränderung lange anhält und nicht bereits nach ein paar Tagen wieder verpufft.

»Mist! Mist! Mist!«, jault Finja plötzlich.

»Was ist denn los?«, frage ich alarmiert.

»Haben wir noch Kekse, oder irgendwas, was Lina und den anderen schmecken könnte?«

Finja eilt in die Küche und reißt erst sämtliche Küchenschränke und dann den Apothekerschrank auf. Mit missmutig verzogenem Gesicht kehrt sie zu mir zurück.

»Papa und Yannick haben wieder alles aufgefressen.«, meckert sie und schnaubt frustriert.

»Weißt du was?«

Ich lege meinen Arm um meine Große.

»Wir halten unterwegs beim Bäcker und holen ein paar süße Teilchen. Damit machst du den Leuten bestimmt eine Freude.«

»Echt jetzt? Mama! Du bist die Beste!«

Mein Kind dreht den Kopf zu mir und platziert einen Schmatzer auf meiner Wange.

»Das weiß ich doch.«, necke ich und tippe ihr mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze.

Gute fünfzehn Minuten später kommen wir schwer beladen am Haupteingang der Werkstatt für Behinderte an.

Wie an Finjas erstem Tag steht Julia vor der Tür und schaut uns entgegen. Als sie uns sieht, heben sich ihre Mundwinkel.

»Habt ihr eine Bäckerei überfallen?«, fragt sie nach, bevor ich dazu komme, sie zu begrüßen und ihr einen guten Morgen zu wünschen.

Doch das hole ich nach. Aber so was von.

Ich drücke Finja die Tüten in die Hand und nehme Julia in den Arm. Wie immer in den letzten Tagen hauche ich einen sanften Kuss auf ihre Lippen.

Warum ich das mache? Ich habe keine Ahnung. Aber es fühlt sich gut an. Und richtig.