VI. zum guten wolf

Der Gasthof Zum guten Wolf lag etwas außerhalb. Es war ein Gebäudekomplex, der viele Zwecke erfüllte. Hier wurde Landwirtschaft betrieben, es gab Stallungen und Scheunen, ein paar Fischweiher, ein Silo, ein kleines Traktor-Museum, eine Muttergottes-Kapelle mit Glockentürmchen, und ringsum breiteten sich Viehweiden aus. Walnussbäume beschatteten einen weitflächigen, teilweise gepflasterten Hof, auf dem an die zwanzig Autos abgestellt waren. Es wunderte Bruno, Kennzeichen aus weit entfernten Gegenden Deutschlands zu sehen, sogar aus Hamburg, und er erinnerte sich, dass Oberhauser ihm gesagt hatte, der Gute Wolf sei ein beliebtes Basislager für Wandertouristen. Der ebenso eigentümliche wie werbewirksame Name sei jüngeren Datums. Früher habe das Anwesen schlicht Nusshof geheißen.

Bruno bezog ein einfaches, sauberes Zimmer, das, nachdem er den Kangoo komplett ausgeräumt hatte, einer Messie-Bleibe glich. Er fühlte sich schlapp und legte sich aufs Bett, um ein wenig zu dösen. In den unerquicklichen Wachphasen kreisten seine Gedanken wie ein Kettenkarussell um Silvi – bis es ihm reichte. Er ging hinunter in die Gaststätte, die am frühen Abend gut besucht war, bestellte sich eine Rinderleber in Zwiebelsauce mit Apfelscheiben und so genannten Pariser Karotten, alles ländlich reichlich und mit einer gehörigen Portion Kartoffelpüree, und begab sich danach in die kleine Bar, die dem Speiseraum übergangslos durch einen Mauerdurchbruch angegliedert war. An der Hufeisentheke hoffte er mit dem ein oder anderen Einheimischen in Kontakt zu kommen, was, wie er aus Erfahrung wusste, im Saarland üblicherweise unkompliziert war. An Theken und Stammtischen hatte er schon oft Informationen gesammelt, für die er anderwärts lange hätte anstehen müssen.

Doch er hatte Pech. Die vier Amateurpolitiker, die kurz zuvor noch lautstark das ganz große Rad gedreht hatten, verließen thematisch die Weltbühne und ereiferten sich nun über lokale Baugenehmigungen, wobei Bruno natürlich nicht mitreden konnte. Also übte er sich in Geduld. Obwohl er im Lauf der Zeit ein Gehör für die verschiedenen saarländischen Dialektformen entwickelt hatte, verstand er nicht alles.

Mehr um Zeit zu überbrücken, als einem Bedürfnis folgend, ging er zur Toilette. In dem langen, holzgetäfelten Gang, der dorthin führte, waren Plakate aufgehängt. Brunos Blick, der darauf trainiert war, zwischen Alltäglichem das Ungewöhnliche zu entdecken, blieb an der großmäuligen Ankündigung eines Kampfabends hängen. Cage-Fight! Die Nacht der Gladiatoren! Kampfmaschinen im Käfig! Dieser Import aus Amerika, bei dem Rammschädel aus allen Kampfsport-Stilrichtungen von Jiu-Jitsu bis Kickboxen in einem Draht-Oktogon relativ regellos aufeinander losgingen, war aus der Illegalität herausgetreten, ohne jedoch den Ruch zivilisationsfreier Brutalität abzulegen. Um den Gegner zu demolieren, war außer Beißen und Augenausdrücken so ziemlich alles erlaubt.

Bruno pfiff leise durch die Zähne. Einer der Namen, die besonders fett gedruckt waren, lautete Marvin Koch. Er sollte sich mit einem schwarzen Freefighter namens Mbongo messen, dem »Gorilla von Ruanda«, der, wie es hieß, in ganz Afrika keine Gegner mehr fand.

»Na, das wollen wir uns doch nicht entgehen lassen«, murmelte Bruno, steuerte die Toilette an – und machte noch einmal kehrt.

Unbewusst hatte er etwas wahrgenommen, was sein Interesse erweckte. Es war ein völlig unspektakuläres weißes DIN-A4-Blatt, das zwischen Festankündigungen örtlicher Vereine an die Wand gepinnt war und auf dem die Frage gestellt wurde: »Wer kennt diesen Mann?« Auf dem Porträtbildchen neben der Überschrift war das Gesicht eines jungen Schwarzen zu sehen. Es zeigte – abgesehen von zwei narbigen Doppellinien auf beiden Wangen und einer offenbar retuschierten oder überschminkten Stelle an der Stirn – keine Verletzungen, aber es war sofort zu erkennen, dass der Mann nicht mehr lebte. Der Eindruck des Todes entstand hauptsächlich durch die unsymmetrisch geöffneten Augenlider. In sprödem Polizeideutsch wurde mitgeteilt, dass »eine unbekannte männliche Person afrikanischer Herkunft« dann und dann dort und dort aufgefunden worden sei. Die Person sei zwischen 25 und 30 Jahre alt, 185 Zentimeter groß, 82 Kilogramm schwer, zuletzt mit einer grünen Cargo-Hose und einem weißen T-Shirt bekleidet gewesen und habe keinerlei Ausweispapiere bei sich getragen. Laut Obduktion sei der Mann eines gewaltsamen Todes gestorben. Für Informationen, die zur Aufklärung des Falles führten, war eine Belohnung ausgesetzt: 10 000 Euro.

»Das ist üppig«, murmelte Bruno.

Bei dem genormten Schlusssatz – »Hinweise erbeten an das Landeskriminalamt des Saarlandes oder jede andere Polizeidienststelle« – musste er unweigerlich an einen bestimmten Hauptkommissar denken, Klaus Corbeau, den Erfinder des Sodbrennens, mit dem ihn eine eigenartige Hassliebe verband. Von Fall zu Fall hatten die beiden miteinander zu tun. Dennoch waren die Vorbehalte, die ein ordentlicher Staatsdiener im Polizeidienst gegenüber einem befugnislosen Privatschnüffler grundsätzlich hat, nicht kleiner geworden. Im Gegenzug brauchte Corbeau nicht zu hoffen, dass Bruno jemals darauf verzichten würde, ihn bei jeder Gelegenheit mit sarkastischen Bemerkungen zu triezen. So war jedem gedient.

Bruno blickte noch einmal auf das Bild des Toten. Sonderbar, dachte er, das Gesicht kommt mir irgendwie bekannt vor. Er konnte sich das nicht erklären, und eine dunkle Ahnung stieg in ihm auf, dass es in dieser Angelegenheit ein Wiedersehen mit Hauptkommissar Corbeau geben würde.

Zurück an der Theke, stellte Bruno fest, dass das Thema Baugenehmigungen noch immer nicht durch war. Blicke streiften ihn.

»Das wird der Oberhauser schon richten«, versuchte ein kränklich wirkender Tränensackträger die Debatte abzuschließen, »der wird dem Bürgermeister sagen, wo’s lang geht.«

»Was zu begrüßen wäre«, ereiferte sich ein dünnstimmiges Männchen mit hasenhaften Schneidezähnen und einer aerodynamischen Gesichtsform, »ich vertraue auch voll und ganz auf den Oberhauser.«

»Die Fraktion steht jedenfalls geschlossen hinter ihm«, stimmte ein rotgesichtiger Rundkopf in den Lobgesang ein.

»Nur weiter rein ins Rektum! Auch wenn da kaum noch Platz ist«, höhnte mit kratziger Stimme der Vierte in der Runde, ein kleiner, stämmiger Alter, den Bruno schon vorher mit einem gewissen Vergnügen betrachtet hatte, weil er so listig und gleichermaßen komisch aussah, dass er optisch alle Voraussetzungen für einen Schauspieler des komödiantischen Fachs erfüllt hätte. Seine grauen Haare standen störrisch in alle Richtungen und seine großen Ohren verlockten zu einem Vergleich mit offen stehenden Taxitüren. Von seinen Augen war nicht viel zu sehen, denn sie schienen – Charles Bronson ließ grüßen – wie Schlitze in dem gebräunten, zerknitterten Gesicht.

»Michel!«, tadelte der Tränensackträger den Majestätsbeleidiger mit angehobener Stimme.

»Der Oberhauser tut letzten Endes nur, was ihm persönlich nützt«, beharrte Michel, »und dafür erntet er Ruhm und jede Menge Goldtaler.«

»Michel!!«, wiederholte der Tränensackträger eine Spur schärfer. »Ohne Oberhauser würden hier einige Lichter ausgehen. Und unser Fußballclub würde drei Klassen tiefer spielen.«

»Einen unwürdigen Mann lobe nicht wegen seines Reichtums.« Michel hämmerte mit seinem Zeigefinger auf die Thekenplatte. »Das sagt Bias.«

»Bias? Wer ist Bias?«

»Einer der sieben Weisen Griechenlands. Ist leider schon seit über zweieinhalbtausend Jahren tot.«

Dieser Graukopf, dachte Bruno, schwimmt gegen den Strom. Seine schwarzrissigen Hände ließen auf eine grobe manuelle Tätigkeit schließen und standen im Widerspruch zu seiner geschliffenen Art zu sprechen.

Die Debatte stockte und Bruno nutzte die Pause, um sich ins Gespräch einzufädeln.

»Ich hab da draußen ein Plakat gesehen. Die Nacht der Gladiatoren. Kämpfe in einem Käfig. Das würde ich mir gern mal anschauen. Ist das hier in der Nähe?«

Die vier Biertrinker musterten ihn.

»Nicht direkt«, presste der rotgesichtige Rundkopf heraus, »da müssen Sie noch ein ganzes Stück fahren.«

»Richtung Saarbrücken«, ergänzte das dünnstimmige Männchen mit den großen Schneidezähnen, »kommen Sie, ich zeig’s Ihnen.«.

An der Wand hing eine Saarlandkarte mit kleinen Werbeflächen ringsum, auf denen der Name Oberhauser gleich mehrfach vertreten war. Wahrscheinlich war sie deshalb aufgehängt worden.

»Da! Sie können über die Autobahn fahren. Oder über die Bundesstraße. Wie Sie wollen.«

»Pff, nur um zu sehen, wie die sich gegenseitig die Fresse polieren«, warf der Tränensackträger ein, »dafür wär mir der Sprit zu teuer.«

»Die Schlägerei scheint aber auf Interesse zu stoßen«, sagte Bruno, »oder würde sonst hier ein Plakat hängen?«

»Das ist nur«, erklärte der Rundkopf, »weil einer von hier dabei mitmacht. Der Koch. Aber eigentlich ist der gar nicht von hier.«

»Zugezogen«, ergänzte der Tränensackträger, »aber ich will nichts gesagt haben.«

»Ich nehme mal an, dass man in der Gemeinde stolz auf ihn ist«, tastete Bruno sich weiter vor. »So ein starker Typ …«

»Pff«, Michel stieß Luft durch die Zähne und vertiefte die Faltenlandschaft seines sonnengebräunten Gesichts, »ein Tuwack, sag ich!«

Sonst gab es keine Reaktion.

»Ein Tuwack?«, fragte Bruno in das allgemeine Schweigen hinein.

»Ein Strolch eben! Der Typ ist nicht sauber«, krächzte Michel, »nicht sauber, sag ich!«

Bruno grinste verhalten, denn an Michels Händen und Unterarmen hatten deutliche Spuren von altem Motoröl die letzte Reinigung überstanden.

»Michel!«, mahnte der Tränensackträger und wandte sich Bruno zu: »Das ist kein Thema, verstehen Sie?«

»Kein Thema?« Bruno gab sich harmlos erstaunt.

»Kein Thema!«, bestätigte der Hasenzahnige und fuhr sich mit dem abgespreizten kleinen Finger über die Augenbraue.

»Ihr seid Schisser, allesamt«, sagte Michel und widmete sich seinem Bier.

Es folgte eine Gesprächspause von noch unangenehmerer Länge als die vorhergegangene, und Bruno startete einen neuen Versuch, am Ball zu bleiben.

»Mir ist noch ein weiteres Plakat aufgefallen«, sagte er, »auf dem wird nach einem unbekannten Afrikaner gefragt. Das wundert mich.«

»Es steht jedem frei, sich darüber zu wundern«, konterte der Hasenzahnige spitz. »Was haben wir mit diesem Kohlensack zu tun?«

»So musst du ihn nicht nennen«, sagte Michel, »das steht dir nicht zu!«

»Ist doch egal«, maulte das Männchen. »Dauernd hängen zwei Kripoleute hier rum! Als ob das hier eine Mördergemeinde wäre!«

»Ruhig, Horsti!«, mahnte der Tränensackträger und blickte zu Bruno: »Das ist kein Thema. Oder haben Sie einen Dienstausweis?«

Bruno schüttelte den Kopf.

»Das wird mir hier zu blöd, Männer!« Michel gab dem Mädchen, das am anderen Ende des Tresens hantierte, ein Zeichen. »Zita, ziehst du mir mal ab?«

Auch der Rundkopf zückte seinen Geldbeutel.

»Halt!«, rief das hasenzahnige Kerlchen namens Horsti, »das geht alles auf mich! Ich zahle!«

Bruno trank sein Bier aus. Dieses Quartett werde ich noch einzeln anzapfen, dachte er, die wissen nämlich mehr, als sie zugeben.