XI. die spitze des eisbergs?

Obwohl Hauptkommissar Corbeau vom saarländischen LKA ein neues Büro in einem anderen Gebäude bezogen hatte, sah es aus wie das vorherige, in dem Bruno den wegen seines häufigen Sodbrennens und seiner sauertöpfischen Grundzüge mit dem Spitznamen »Essigvisage« belegten Ermittler vor Jahren kennen gelernt hatte: ein dunkelgrauer Metallschreibtisch in einem Zimmer mit Leuchtröhren, viel Kunststoff, kaum Holz, einem Ablagesystem aus grauen und blauen Plastikschalen und einer anthrazitgrauen Wand aus Spurenordnern. Neu war nur der flache Computerbildschirm.

Die gerahmte Wilhelm-Busch-Zeichnung, die dem Hauptkommissar von hintersinnigen Kollegen – Corbeau ist das französische Wort für Rabe – zu einem Dienstjubiläum verehrt worden war, hing an ihrem gewohnten Platz an der Wand hinter dem Schreibtischstuhl. Sie zeigte den Raben Hans Huckebein mit einem Strick um den Hals und einem Vers unter den baumelnden Krähenfüßen:

»Die Bosheit war sein Hauptpläsir,

drum«, spricht die Tante, »hängt er hier.«

Bruno, der vor dem Schreibtisch Platz genommen hatte, befand im Stillen, dass Corbeau sich in seinem Äußeren mehr und mehr dem namensgebenden Vogel annäherte. Seine Art, die schmalen Schultern hochzuziehen und den Kopf nach vorn zu beugen, hatte in der Tat etwas Rabenhaftes. Letztes Mal, als Bruno den Hauptkommissar gesehen hatte, waren dessen Haare noch grau meliert gewesen. Nun waren sie durchgängig grau. Nur an der Länge – sie stießen im Nacken an den Hemdkragen – hatte sich nichts geändert, auch nicht ihr fettiger Glanz, der durch eine regelmäßigere Wäsche vermutlich zu beseitigen gewesen wäre.

»Ich sag’s gern noch mal, Schmidt.« Corbeau stützte sein Kinn auf die mageren, gegeneinandergeschobenen Fäuste. »Was Sie mir hier erzählen, ist absolut nichts Neues. Wir haben das Geschehen sozusagen auf dem Schirm.« Er deutete kurz auf den Monitor.

»Tut mir leid, ich begreif’s nicht«, beharrte Bruno. »Kreuz und quer durchs Saarland wird Schutzgeld erpresst – und die Polizei guckt zu. Man könnte grad glauben, Sie stecken selber mit drin.«

»Nun aber mal halblang, Schmidt! Wenn ich Sie nicht so gut kennen würde, würde ich Sie jetzt rausschmeißen. Aber …«, Corbeau zog die Stirn kraus, »Sie haben ja Ihre Verdienste. Unbestreitbar.«

Das sagte er so prononciert, dass auch der Dümmste die unverarbeitete Missgunst des situierten Beamten gegenüber der zweifelhaften Existenz eines Privatermittlers, der ein paar Mal zu erfolgreich gewesen war, herausgehört hätte.

»Ich hatte im Saarland zwei-, dreimal Glück«, sagte Bruno, »aber es ist auch viel in die Binsen gegangen.«

Corbeau goutierte die Bescheidenheit mit einem leichten Kopfnicken, dann presste er die Fingerspitzen gegeneinander und blickte zur Decke. Aha, dachte Bruno, jetzt kommt’s.

»Wir wissen sehr wohl, was da vor sich geht«, begann Corbeau bedächtig. »Nach außen hin handelt es sich um eine Firma.«

»Eine Scheinfirma«, wandte Bruno ein.

»Ja, aber eine Scheinfirma, die tatsächlich etwas produziert. Nämlich Angst. Das ist die Geschäftsgrundlage. Man treibt Geld ein. Wie ein Inkasso-Büro. Nur wesentlich effizienter. Teils mit Fäusten, teils mit Waffen.« Der schlaksige Hauptkommissar stand auf und begann mit hinter dem Rücken verschränkten Händen hin und her zu laufen. »Dem Etikett nach ist es ein Sicherheitsdienst. Aber ein Sicherheitsdienst, den keiner bestellt hat und den keiner haben will. Und wer sich den selbst ernannten Schutzengeln verweigert, lernt sie richtig kennen. Erst findet er im Briefkasten einen abgeschlagenen Hühnerkopf, und wenn er diese Warnung nicht versteht, kriegt er selber was auf die Ohren.«

»Mafia?«

»Der Reihe nach«, sagte Corbeau. »Die Gewalttäter kaben klein angefangen. Zuerst haben sie Drogendealer und Luden abkassiert. Das lief ganz still und leise an uns vorbei. Was einen nicht wundern sollte, denn ein Zuhälter würde sich ja eher die Zunge abbeißen, als zuzugeben, dass er, der große Beschützer, selber Schutzgeld entrichten muss.«

»Wie tragisch«, Bruno grinste, »wo die Goldkettchen und die dicken Uhren doch so teuer geworden sind …«

»Nach diesem Gesocks wurden Nachtlokale und Milieukaschemmen zur Ader gelassen. Und seit einer Weile …«, Corbeau zog ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche und schnäuzte sich, »seit einer Weile gehören ganz normale Betriebe zum Beutespektrum, und zwar nicht nur gastronomische, wie Sie vielleicht glauben, nein, das kann auch eine Drogerie sein oder eine Lottoannahmestelle.«

»Die Geschäftsidee ist ja nicht gerade neu«, sagte Bruno.

»Ja und? Manche Branche ist so krisenfest, dass sie nie aus der Mode kommen wird.« Corbeau nahm seine schlurfende Zimmerwanderung wieder auf. »Die Bande hat zweifellos eine mafiose Struktur. Es steht auch tatsächlich ein Italiener an der Spitze. Wir kennen seinen Namen. Wir wissen auch, wo er wohnt.«

»In Merzig«, sagte Bruno.

»Kompliment, Herr Amateurkommissar!« Corbeau deutete eine Verbeugung an.

»Könnte ich da undercover einsteigen?«, fragte Bruno.

Corbeau legte den Kopf in den Nacken.

»Ich weiß doch, wie alt Sie sind«, sagte er belustigt.

»Alt wird man nur in den Augen der anderen«, hielt Bruno mit einem Sartre-Zitat dagegen.

»Vergessen Sie’s, Schmidt!« Corbeau schüttelte den Kopf über so viel Unvernunft. »Wer unbedingt von Haien gefressen werden möchte, sollte nachts vor Südafrika oder Australien im Meer schwimmen.«

»Übertreiben Sie da nicht?« Bruno grinste.

»Keineswegs«, sagte Corbeau. »Wir stufen diese Organisation als sehr gefährlich ein, auch wenn es nach vorliegenden Erkenntnissen kein direkter Ableger der italienischen Mafia ist. Dazu ist die Gruppierung zu unorthodox.«

»Was meinen Sie damit?«

»Die internationale Zusammensetzung«, sagte Corbeau. »Das ist ungewöhnlich für so eine Bruderschaft. Es sind Russen beteiligt, Türken und Deutsche. Auch ein Lette ist dabei. Wir kennen jeden Einzelnen. Sogar mit Spitznamen.«

»Warum, verdammt noch mal, greifen Sie dann nicht zu?«, fragte Bruno. »Bei allem, was Sie ermittelt haben, kriegen Sie die Bagage doch dran wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung. Die Jungs erfüllen dafür alle Voraussetzungen.«

Corbeaus Mundwinkel sanken auf einen Tiefpunkt.

»Darüber dürfte ich gar nicht sprechen«, sagte er. »Höchstwahrscheinlich sehen wir nur die Spitze des Eisbergs. Wir haben es zwar nicht unmittelbar mit der Mafia zu tun, aber es gibt Querverbindungen. Eine mögliche, na, nennen wir’s mal Offensiv-Allianz.«

»Verstehe«, sagte Bruno, »Sie wollen der Hydra alle Köpfe abschlagen, auch die großen.«

»Die Mafia hat überall in Deutschland ihre Stützpunkte«, Corbeaus Zeigefinger stach in der Luft auf imaginäre Punkte, »natürlich auch hier bei uns, das ist ja längst kein Geheimnis mehr. Schwerpunkte der Aktivitäten sind Drogen, Waffen und Falschgeld.« Er verstieg sich in ein Referat über italienische Clans, nannte eine Fülle von Familiennamen aus der kalabrischen ’Ndrangheta und der neapolitanischen Camorra, die traditionell nur den eigenen Leuten vertrauten, und die nun – »Das lässt uns aufhorchen, Schmidt!« – ihre Helfershelfer auch aus anderen Nationen rekrutierten.

Mafia – der Begriff stand für eine Kragenweite, die für einen Einzelkämpfer entschieden zu groß war. Da habe ich mich auf ein Pulverfass gesetzt, dachte Bruno. Die Zeiten, in denen Mafiosi mit Stilett und Schrotflinte vorgingen, waren vorbei. Sogar die Neun-Millimeter-Beretta zählte mittlerweile zum Spielzeug. Die Clans der neuen Generation verfügten über Waffen, mit denen man im Kongo oder am Hindukusch einen Krieg gewinnen könnte.

In seiner leicht gebeugten Haltung verharrte Corbeau, Bruno den Rücken zuwendend, vor der Aktenwand und sagte: »Über den Chef in Merzig wissen wir fast nichts. Eigentlich nur, dass er Kalabrese ist. Aus irgend so einem kleinen, beschissenen Dorf.«

»Das ist doch schon was.« Bruno grinste, weil davon auszugehen war, dass Corbeau nur Bruchstücke der Ermittlungen preisgab.

»Wie wir beide wissen, Schmidt, treibt die Gruppe um diesen Merziger Italiener hauptsächlich Schutzgelder ein.« Corbeau wanderte wieder. »Und das nicht nur, wie Sie festgestellt zu haben glauben, bei privaten Firmen. Es werden auch andere Bereiche von den Halunken terrorisiert, und zwar nicht nur wirtschaftliche.«

Sein Mienenspiel verriet, dass er die Bedeutungsschwere seiner Andeutung genoss. Das Geheimniskrämerische lag ihm.

Bruno wusste, dass Corbeau jetzt auf eine Nachfrage wartete, die er dann mit Verweis auf die dienstliche Diskretion genüsslich abschmettern würde. Deshalb sagte er: »Mich geht das nichts an. Das Saarland retten – das ist Ihre Aufgabe, nicht meine. Mich interessiert nur ein einziges Mitglied der Organisation: Marvin Koch.«

Corbeaus schlurfender Schritt stockte.

»Wieso gerade der?«, fragte er, und dabei verengten sich seine Augen.

Bruno erklärte ihm, was sein Auftraggeber Götz Oberhauser von ihm erwartete.

Corbeau schwieg nachdenklich.

»Was können Sie mir über den Mann sagen?«, drängte Bruno.

»Hm.« Corbeau setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch und sah aus, als hätte er Sodbrennen. »Was soll ich da sagen, so aus der Lamäng …?«

»Sie wissen doch von allen alles. Also … was ist?« Bruno ließ nicht locker.

»Über den wissen wir am wenigsten«, nuschelte Corbeau.

»Ich bin manchmal schon mit wenig zufrieden«, sagte Bruno.

»Tja …« Corbeau gab sich einen Ruck. »Koch ist offenbar ein ganz schwerer Junge. Ehemaliger Soldat. Hat ein ziemliches Sündenregister. Vorbestraft wegen Drogen, Zuhälterei, Geldwäsche, Körperverletzung und Waffenhandel.«

»Das nennt man Bandbreite!«, sagte Bruno mit einem Kopfnicken und ironischer Anerkennung in der Stimme. »Und wie hoch stufen Sie diesen Gutmenschen in der Hierarchie der Bande ein?«

»Hm. Schwer zu sagen.« Corbeau befingerte seine Unterlippe. »So eine Art Kolonnenführer.«

»Also dirigiert er ein Rollkommando?«

»Na ja …« Corbeau griff sich an den Hinterkopf. »Koch ist einer, der gewohnt ist, mit seiner physischen Präsenz Wirkung zu erzielen.«

Der redet so geschwollen, dachte Bruno, weil er mit der Sprache nicht heraus will. Warum tat der LKA-Mann sich so schwer? Befürchtete er vielleicht, dass Bruno ihm beim Zerschlagen des Erpresserrings zuvorkommen und anschließend – was nicht zum ersten Mal geschähe – in der Presse die Meriten ernten würde?

»Physische Präsenz …« Bruno grinste. »In akademischer Fortsetzung Ihrer Ausdrucksweise heißt das, dass Koch seine Konflikte lieber mit der Handkante löst als durch gruppendynamisches Ausdiskutieren. Würden Sie das bestätigen, Herr Chefermittler?«

Corbeaus Miene wechselte von säuerlich zu sauer und er blickte demonstrativ auf seine Uhr.

»Wann lassen Sie die Bande hochgehen?«, fragte Bruno schnell. »Gibt es einen Zeitplan?«

»Wenn Sie uns da nicht reinfunken, Schmidt, wird’s nicht mehr lange dauern. Und jetzt lassen Sie mich meine Arbeit machen!«

»Danke.« Bruno erhob sich von seinem Stuhl. »Das war doch jetzt mal ein richtig ergiebiges Gespräch, Herr Hauptkommissar. Wenn Sie nicht sowieso schon überbezahlt wären, würde ich Sie glatt an meinem Honorar beteiligen.«

»Kaufen Sie sich lieber einen Lolli, wenn’s dafür noch reicht«, konterte Corbeau und stand ebenfalls auf, verzichtete allerdings darauf, Bruno zur Tür zu begleiten. »Ach ja, und lassen Sie Ihre Handy-Nummer da!«

Bruno kritzelte die Nummer auf einen Zettel. Die Türklinke bereits in der Hand, drehte er sich noch einmal um und griff sich an die Stirn wie Inspektor Columbo.

»Fast hätte ich’s vergessen … Da hat mich von einem Plakat herunter ein Toter angeguckt, wenn man das so nennen kann. Ein Schwarzer, den niemand kennt. Er wurde irgendwo im Wald gefunden. Gibt es einen Zusammenhang mit der Bande?«

»Nein«, lautete Corbeaus knappe Antwort.

»Dann vielleicht mit der Käfigkampf-Szene?« Bruno neigte den Kopf zur Seite und kniff ein Auge zu.

»Nein!«, wiederholte Corbeau.

»Auf dem Plakat heißt es: Hinweise erbeten an das Landeskriminalamt des Saarlandes oder jede andere Polizeidienststelle.«

»Der Fall ist zunächst ans LKA gegangen, weil wir hier zuständig sind für Schleusungskriminalität – vor allem, wenn ein terroristischer Hintergrund vermutet wird.« Corbeau setzte sich und klapperte kurz auf seiner Computertastatur. »Jetzt kümmern sich um die Sache … warten Sie mal, ich hab’s gleich … Oberkommissar Führmann und Kommissarin Herbst.«

»Einen schönen Tag noch, Herr Hauptkommissar!« Bruno ging.

»Wir bleiben in Verbindung, Schmidt!«, rief Corbeau hinter ihm her. »Haben Sie gehört? Wir halten Verbindung!«

Komisch, dachte Bruno, das Bedürfnis hatte er noch nie.