93.

In der Wohnung überlagerte der Gestank voller Aschenbecher das Terpentin. »Franz Lehmann mein Name«, sagte er.

An der Wohnzimmerwand hing ein Porträt des ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner, den ein ultrarechter Offizier erschossen hatte. Auf einer Kommode standen Bücher von August Bebel, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg.

Raben schnaufte einmal durch. »Raben, Karl. Kriminalassistent in Berlin. Haben Sie von dem Fall Esser gehört?«

»Und ob. Setzen Sie sich doch. Wollen Sie eine?« Er deutete auf eine Pappschachtel mit losen Zigaretten.

»Danke, nein.«

»Über den Fall hab ich gelesen. Ziemlicher Skandal«, sagte er.

Raben setzte sich auf ein Sofa, das Lassalles beste Freundin hätte gewesen sein können, wenn der Arbeiterwohltäter nicht 1864 bei einem Duell um eine Gräfin umgekommen wäre.

Lehmann stand noch. »Es ist bald so weit, dass die einen wegen Büchern umbringen. Und mit dem Esser …?«

»Ich weiß, wer ihn ermordet hat. Also, wer den Trupp angeführt hat.«

»Ein Nazi«, hab ich gelesen.

»Der sich nach Wien abgesetzt hat, vermutlich.«

»Dort gibt’s auch genug von der Sorte. Aber wie wollen Sie den finden?«

»Ich habe keine Ahnung. Muss erst mal die Polizei und den SD loswerden.«

»Gut«, sagte Lehmann. »Sie haben keinen Koffer?«

»Der steht am Bahnhof. Oder ist bei der Polizei.«

»Na, wunderbar«, sagte Lehmann. »Soll ich …?«

»Danke, bloß nicht. Haben Sie ein Telefon?«

»Bin ich Krösus?«

»Kennen Sie jemanden, der ein Telefon hat und zuverlässig ist?«

»Ich kümmere mich drum.«

»Ich muss dringend im Polizeipräsidium … und meine Verlobte …«

»Ich verstehe. Sie waschen sich erst mal. Ich mach Feuer unterm Boiler und dann ab in die Badewanne. Sie müssen sich erholen. Sonst kriegen die Sie. Und Sie müssen was Gescheites essen.«

Während Raben badete, hörte er die Wohnungstür klacken. Dann wurde ein Schlüssel zweimal herumgedreht. Lehmann hatte recht, er musste sich erholen. Überlegen. Reden wir nicht mehr von Plänen, dachte er. Improvisation. Nur, was war der erste Schritt?

Er wachte vom eigenen Husten auf. Riss das Gesicht aus dem Wasser. Ihm war kalt. Er blickte sich um, erwachte auch aus seinem Traum, an den er sich schon nicht mehr erinnerte. Er zog den Stöpsel und stieg aus der Wanne. Jetzt roch er heißes Fett. Der Überschuss an Magensäure schmerzte. Er zog sich seine Kleidung an. Als er das Bad verließ, folgte er dem Fettgeruch.

Lehmann stand am Gasherd. Er wandte sich um und grinste. »Bratkartoffeln und Spiegelei, ich hoffe, es ist recht. Wir können uns auch zwei Flaschen Bier teilen. Feiern wir schon mal Weihnachten. Ist ja nicht mehr lang hin. Und besser als allein ist es allemal. Tut mir leid, mit Weihnachtsbäumen hab ich es nicht so.«

Raben lachte. »Aber singen muss ich nicht, hoffe ich.«

»Wenn Sie Brüder, zur Sonne, zur Freiheit können …«

»Bullen dürfen so was nicht singen«, erwiderte Raben.

»Wär ja auch noch schöner«, sagte Lehmann. Reichte Raben eine Bierflasche. Der hebelte den Porzellanverschluss auf und schluckte. Sofort wurde ihm schwummrig. Er setzte sich an den Küchentisch. Ihm gegenüber stand der zweite Stuhl.

Lehmann öffnete das Fenster. Eiskalte Luft drang ein. »Nachher schauen wir, ob ich was zum Anziehen für Sie habe.«

»Glaub ich nicht«, sagte Raben.

»Ich bin zu klein. Aber ich finde was für Sie. Wenn Sie’s gereinigt zurückgeben.«

»Ehrensache«, sagte Raben.

»So was gibt’s nicht mehr.«

Nach dem Essen: »Stehen Sie mal auf.« Er holte ein Maßband aus einer Schublade und fuhrwerkte damit an Raben herum.

»Sind Sie Schneider?«

»Nein, ich war im Krieg.«

»Und Sie haben da das Schneiderhandwerk erlernt?«

»Nein, das Messen.«

Raben lachte.

»Sie haben gut lachen. Ich war bei der Artillerie, das ist Mathematik. Da muss es für Körpermaße locker reichen.«

»Und mit den Körpermaßen im Kopf besuchen Sie einen Genossen, der so groß und breit ist wie ich.«

»Sie haben’s erraten. Hätte nicht gedacht, dass es auch schlaue Bullen gibt. Jetzt gehen wir erst mal telefonieren.«

Sie stiegen die Treppe hoch bis unters Dach. Lehmann klopfte leise an die Tür. Ein alter Mann öffnete. Ausgemergelt das Gesicht. Die Unterlippe zitterte. »Kommt rein!«

Er übersah Rabens Hand und ging voraus. Im Flur hing ein Telefon an der Wand. »Nicht zu lang«, sagte der Mann.

Raben wählte Wagners Nummer. Hoffentlich saß der noch am Schreibtisch.

»Ja«, sagte die Stimme.

»Raben hier. Wo ist meine …?«

»In München. Sie hat mir eine Telefonnummer hinterlassen. Ist eine Pension am Hauptbahnhof.«

Er notierte die Nummer und legte auf, schnaufte einmal durch und rief das Polizeipräsidium an. Aber der Telefonist konnte ihn nicht mit Lichtigkeit verbinden. Der war schon weg. Köpfchen auch. »Wer hat Nachtdienst?«

»Der Kommissar Nebe. Soll ich Sie verbinden?«

»Danke, nein. Wir wollen ihn nicht bei der Arbeit stören.«

»Ganz, wie Sie wünschen.«

Er rief die Münchener Pension an und ließ sich mit Lenas Zimmer verbinden.

»Die junge Dame ist nicht in ihrem Zimmer … Ich weiß nicht, wo sie sich aufhält.«