1.

»’N Abend, Kurt.« Der Wirt winkte vom Tresen. »Schöne Scheiße, was?«

»Schöne Scheiße, Franz.« Kurt Esser schlug die Schiebermütze gegen den Türrahmen. Wasser spritzte. Er löste die Knöpfe seines Mantels. Zog die Rote Fahne aus dem Gürtel und den Mantel aus. Hängte ihn über einen Stuhl. Er tropfte auf den Holzboden. Gleich umgab ihn der Gestank aus Zigarettenqualm und Bier, das sich an seinen Geschmackshöhepunkt nicht mehr erinnern konnte. Das Licht war schummrig wie in einer Spelunke am Schlesischen Bahnhof. Überm Tresen pries eine Schiefertafel schon seit mindestens einem Jahrhundert Soleier oder Teller mit Bock-, Blut- oder Bratwurst an. Weinbrandverschnitt kostete 25 Pfennig, richtiger Weinbrand das Doppelte, der Cognac wartete im Adlon.

An der Wand saßen Männer um einen Tisch und teilten sich ein Bierglas. Esser nickte ihnen zu.

»Haben die dich nass gemacht, Kurt?«, fragte der Mann am Kopfende.

Esser lachte. »Nur der Regen.«

Der Wirt kam und stellte eine Molle auf den Tisch in der Ecke, von der aus man den Raum im Blick hatte, vor allem die Tür. Franz Puth entfernte das Schild Reserviert. »Hunger?«

»’ne Käsestulle tät’s«, sagte Kurt.

»Bring ich dir. Die Braunen haben so richtig auf die Fresse gekriegt«, sagte Franz. »Den Führer kannst du in der Pfeife rauchen. Seit dem Sechsten könnte ich mich nur noch besaufen. Aber wenn ich das täte, könnte ich mich nicht mehr freuen … So richtig auf die Fresse gekriegt. Aber dafür habt ihr den BVG-Streik vermasselt. Mannomann.«

Die Rote Fahne titelte:

SPD für Maßregelung von 2500 Verkehrsarbeitern

Darunter:

Verraten, aber nicht geschlagen

„Das, ja, das haben die Nazis versaut. Alles Streikbrecher. Wollen sich bei den Proleten einschmeicheln. Scheißkerle«, sagte Kurt.

»Schnauze«, zischte der Lange. »Wir ziehen das jetzt durch. Jammern kannste bei Mutti.« Sie waren sieben, drückten sich an eine Hauswand. Einer hinter dem anderen. Der Regen hatte sie durchnässt. »Wenn wir weiter herumlungern, löse ich mich auf, und die Brühe schwemmt mich den Rinnstein runter, oder jemand ruft die Bullen. Los, Kameraden. Befehl ist Befehl.« Der Lange fror, griff in die Tasche, spürte den Pistolengriff. Luger 08, aus dem Krieg. In Deutschland mangelte es an vielem, außer für die Reichen. Aber nicht an Waffen. Sie hatten der Kommune Schlachten geliefert, und sie hatten geschossen. Sie hatten Verräter ausgeschaltet. Es war Blut geflossen. Viel Blut. Ein Bürgerkrieg wurde ausgefochten, meist verborgen unter dem Schein der Gaslampen und Neonröhren. Die Republik ging zugrunde, aber was kratzte es den Millionär, was den Arbeitslosen, was den Dieb, was den Räuber?

Der Lange blickte sich um. Sein Magen rumorte, im Darm kniff es. Er hatte am Abend kaum was runtergekriegt. Sie näherten sich dem Schild. Gegen das Laternenlicht sahen sie die Regenschnüre, die aufs Pflaster platterten. Das Schild Goldener Anker war kaum zu entziffern. Es hing an einer Stange und quietschte, wenn die Böen es hin und her rissen.

Der Lange wollte es nicht einmal sich selbst eingestehen, doch er hatte ein schlechtes Gefühl bei dieser Sache. Aber sie mussten sich wehren. Bei der letzten Reichstagswahl am 6. November 1932 hatten sie verloren. Und die Kommune hatte gewonnen. Stärkste Partei in Berlin. Seine Partei, die NSDAP, war pleite. Der Führer zögerte und zögerte. Also, jetzt erst recht. Jetzt die harte Tour. Endlich. Im schlimmsten Fall musste der Führer sie raushauen. Hitler stand hinter seinen Leuten. Am liebsten, wenn sie Kommunisten und Juden in die Hölle schickten.

Der Lange blickte sich immer wieder um. Aber die Straße war leer. Bei diesem Sauwetter traute sich keiner vor die Tür. Es sei denn, er hatte einen Mordauftrag. Eine NSU-Autodroschke der Kraftag schlingerte vorbei. Nicht der einzige besoffene Taxifahrer unterwegs. Das Knattern verlor sich. Es blieb das Prasseln des Regens.

Sie beeilten sich. Der Lange hielt an, hob die Hand. »Alle bereit?«

Er hörte ein zitterndes Ja und ein Husten hinter sich.

Er zog die Luger aus der Tasche. Die anderen griffen ebenfalls nach ihren Waffen. Der Lange öffnete die Tür. Er schob den Filzvorhang zur Seite. Eine Wärmewolke schlug ihm entgegen, der Gestank einer alten Bierkneipe. Der Wirt in seiner Lederschürze lehnte auf dem Tresen und öffnete den Mund. Aber er brachte kein Wort raus. Schnappte wie ein Fisch.

Kurt Esser hörte die Tür, die Schritte und wusste gleich, was ihn erwartete. Er zog seinen Revolver, den er im Krieg einem toten Kanadier abgenommen hatte. Als er den Hahn spannte, trafen ihn schon die Kugeln. Die Männer standen vor dem Tisch und leerten die Trommeln und Magazine. Dann ein Pfiff, und sie verschwanden. Es hatte nur ein paar Sekunden gedauert. Franz hatte alles gesehen. Starr vor Angst. Als die Mörder geflohen waren, eilte er zum Tisch, auf dem die Rote Fahne lag. Kurt war vom Stuhl gefallen. Franz spürte, wie sein Magen sich verkrampfte. Er schaffte es nicht bis zur Tür und übergab sich. Er holte ein Geschirrtuch hinterm Tresen und wischte sich den Mund ab. Er ging zurück zum Tisch. Kurt hatte kein Gesicht mehr. Nur noch einen blutigen Klumpen. Blut und Hirnmasse bedeckten die Holzdielen. Grau und Rot.

Die Männer am Tisch glotzten ihn an. »Ruf die Polente«, rief ein Dicker im Blaumann.