Raben betrachtete Görings aufgequollenes Gesicht, bedeckt mit Schweiß. Der Dicke saß an seinem Ministerpräsidentenschreibtisch, telefonierte, schrieb, telefonierte. Offenbar hatte er sich eine Morphiumspritze gegönnt. Auch hier wimmelte es von Uniformen. »Knallen Sie das Schwein ab!«, rief Göring und schlug den Hörer auf die Gabel. Er wischte sich mit einem Tuch übers Gesicht, betrachtete es, steckte es ein. Das Telefon klingelte. Göring hob ab. »Ja? … Dann sucht ihn, verdammt.« Hörer auf die Gabel. Vor ihm lagen Listen. Göring winkte Raben herbei, ohne aufzublicken. »Besorgen Sie … ah, ich hab einen.« Reichte Raben einen Briefumschlag. Raben sah das obere Blatt der Liste. Namen, Namen, Namen. Adressen, Adressen, Adressen. Dazu Bemerkungen. Erschießen, verhaften. Manche Namen waren mit Bleistift durchgestrichen. Andere darübergeschrieben. Raben entdeckte General Schleicher, erledigen. Edgar Jung; Raben hatte Heydrichs Verfluchung noch im Ohr. Jung hatte seinem Chef Papen eine Rede geschrieben, die der an der Marburger Universität vortrug und wegen der es Zoff gegeben hatte. Hitler soll getobt haben. Heydrich hatte nur gesagt: »Das war der Jung, Papen hat nichts im Kopf, was Jung nicht reingeschüttet hätte. Der kommt auf die Liste.« Raben hatte nicht zum ersten Mal von der Liste gehört, auf der Leute standen, welche die Nazioberen als Feinde betrachteten. Auf dem Blatt fanden sich nun auch SA-Führer. Ernst zum Beispiel. Heines. Göring tippte auf die Namen, als könnte er Gedanken lesen. »Die SA-Führer, das Schwulenpack, erledigt der Führer selbst …«
»Und wenn …?«
»Die Reichswehr geht mit uns, alles abgesprochen. Sie haben uns Waffen geliefert, und wenn die SA sich was traut, na, dann Feuer frei.« Er kreischte eher, als dass er lachte. »Während der Führer Röhm und dessen Clique aus ihren Sudelbetten in Bad Wiessee holt und erledigt, müssen wir hier klar Tisch machen. Unsere Feinde müssen weg, jetzt und für alle Zeiten. Ihr Chef lässt schon die Gestapo und den SD auf die Schweine los.«
»Jawohl, Herr Ministerpräsident!«, sagte Raben. In seinem Hirn blitzte etwas. Er hatte das Privileg, Deutschlands Machthaber so zu erleben, wie sie waren. Offenbar wollte Göring Heydrichs Listen eigene Opfer hinzufügen.
»Wo darf ich die Listen hinbringen?«
»Fahren Sie zur Kadettenanstalt, wo die Leibstandarte unseres Führers stationiert ist. Berlin-Lichterfelde. Bringen Sie die Listen dahin. Ich habe schon telefoniert. Die wissen Bescheid.« Er bekritzelte einen Zettel und setzte seine Unterschrift darunter. »Damit kriegen Sie einen Wagen. Heydrich hat mir von Ihnen erzählt. Sie schaffen das. Wenn wir nicht alle Kandidaten von der Liste verhaftet haben, schnappen Sie sich zwei Mann und suchen Sie alle, die fehlen. Das ist doch Ihre Spezialität, nicht wahr, Untersturmführer?« Er griff sich ein weiteres Blatt, schrieb etwas auf, unterschrieb auch das. »Falls jemand zweifelt, dass Sie die Vollmacht haben, Verräter einzukassieren. Und jetzt treten Sie ab!«
Raben riss die Hand hoch. »Heil Hitler!«
Göring war schon wieder am Telefon. Er schrie und fuchtelte.
Raben rannte die Treppe hinunter. Im Erdgeschoss stutzte er, lief in den Flur, öffnete eine Tür. Das Büro war leer und dunkel. Er ließ die Tür offen und setzte sich an den Schreibtisch. Die Tischplatte war bedeckt mit Akten, er schob sie zur Seite, einige fielen auf den Boden. Dann zog er die Listen aus der Aktentasche. Die meisten Namen kannte er nicht. Er fand auf Seite 2 einen Gerhard Deckel und beschloss, ihm das Leben zu retten. Fand einen Bleistift, strich den Namen durch. Und schrieb einen anderen darüber, mit verstellter Handschrift.