Nicholas sattelte Trombone, seine graue Stute. Er war am Tag zuvor aus dem Internat zurückgekommen und hatte das Gefühl, als ob er das alte, viktorianische Haus, in dem er mit seinen Eltern lebte, zum ersten Mal sehen würde. So erging es ihm immer. Nach jeden Ferien erschien ihm das Haus ein wenig kleiner. Dabei war es ein großes Haus mit vielen Zimmern, und er konnte sich noch gut an die Zeit erinnern, als es ihm wie ein Palast vorgekommen war.
Trombone hatte sich gefreut, als er in ihren Stall gekommen war. Und Watchman, der Boxer, hatte ihn mit einem fröhlichen Bellen begrüßt. Seine Mutter hatte seinen Lieblingskuchen gebacken, und zum Abendessen wurde der Tisch im Speisezimmer gedeckt, und es gab frischen Lachs.
Auf dem kleinen Schreibtisch in seinem Zimmer lag die Post des Pony-Clubs. Nicholas hatte Pläne für die Ferien gemacht. Diesmal wollte er seine Stute richtig trainieren und bei den großen Turnieren in der Umgebung starten. Doch er machte oft große Pläne, und nicht selten verliefen sie im Sande.
„Ich nehme an, du gehst zuerst einmal in die Reitschule“, hatte seine Mutter beim Frühstück gesagt. Und er hatte genickt und sich gefragt, ob er die alten Freunde vom vergangenen Sommer wieder treffen würde. Bromwyn hatte ihm von Zeit zu Zeit geschrieben, und er war neugierig, ob sie immer noch die gleichen alten Kleider trug. ,Vielleicht ist Mr. Fisher ja auch über Nacht ein berühmter Maler geworden, und seine Tochter kann sich endlich etwas Nettes zum Anziehen kaufen‘, dachte er.
Nicholas winkte seiner Mutter noch einmal zu, als er auf die Straße ritt. Es war sehr früh am Morgen. Ein kleiner Junge lieferte die Zeitungen aus, und der Briefträger brachte die Post zu dem neuen Hotel, das auf einem Hügel am Rande des Dorfes lag. Das Hotel war groß und modern, mit hohen, blitzenden Fensterscheiben. Nicholas mochte es nicht. Er nahm die Abkürzung zur Reitschule und ritt durch brachliegende Felder, die die Gemeinde kürzlich zu Bauland erklärt hatte. ,Im nächsten Sommer ist hier alles zugebaut‘, dachte er, und der Gedanke gefiel ihm gar nicht.
Er trieb Trombone zum Galopp an und konnte schon bald das Meer sehen. Die See war ruhig, und graue Wellen brachen sich träge an einem verlassenen Strand. Der Wind trug den fast schon vergessenen und doch so vertrauten Geruch von Tang und Salz zu ihm herüber. Dann hatte er die Reitschule erreicht und trabte durch das offene Hoftor.
„Hallo!“, rief er. „Hallo!“
Er bekam keine Antwort. Nicht einmal Audreys Hunde waren da, um ihn zu begrüßen.
„Verstehst du das, Trombone?“ Er stieg aus dem Sattel. „Wo sind die denn alle? Nicht einmal Audrey ist da.“
Nicholas war groß und breitschultrig, mit blondem Haar. Er war sehr selbstbewusst, und man sah ihm an, dass er wusste, was er wollte, als er jetzt über den Hof ging und in die verlassenen Boxen schaute.
„Seltsam!“, sagte er zu seiner Stute. „Anscheinend sind alle ausgeflogen.“
Da klingelte das Telefon in der Sattelkammer. Nicholas nahm eilig den Hörer ab, aber es war nur die Mutter einer Schülerin, die sich vergewissern wollte, ob der Reitunterricht wie geplant stattfand. Audreys Stundenplan lag auf dem Tisch, und er überflog rasch die Namen der eingetragenen Schüler. „Ja, es ist alles in Ordnung“, sagte er. „Ihre Tochter ist für zehn Uhr vorgemerkt.“
Er hatte gerade wieder aufgelegt, als Audrey, Maria und Stella mit Frosty und Turpin durch das Hoftor kamen.
„Ist etwas passiert?“ Nicholas bemerkte sofort, wie niedergeschlagen die kleine Prozession aussah.
Stella und Maria erzählten ihm, was geschehen war, während Audrey ratlos auf dem Hof auf und ab ging.
„Das Gatter war also offen und die Absperrkette verschwunden?“ Er runzelte die Stirn. „Ich finde, das ist ein Fall für die Polizei.“
„James hat sie schon benachrichtigt“, seufzte Stella. „Jedenfalls ist er ins Dorf gegangen.“
„Ich reite mit Trombone das Gelände ab. Die Ponys können nicht weit sein. Trotzdem ist es seltsam, dass sie nicht nach Hause in ihren Stall gekommen sind.“
„Das haben sie sonst immer getan.“ Audrey strich sich das Haar aus der Stirn. „Jeden Augenblick können die ersten Schüler eintreffen. Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll. Frosty und Turpin fallen beide aus. Und die meisten Schüler, die für heute gebucht haben, sind Feriengäste. Sie kennen mich nicht und kommen bestimmt nicht wieder, wenn der Reitunterricht gleich mit einem Missgeschick beginnt.“
„Aber das ist doch nicht deine Schuld!“, entrüstete sich Maria. Ihre Stimme zitterte, und Nicholas erinnerte sich, dass Maria immer schon bei der kleinsten Gelegenheit aus der Fassung geriet.
„Immer mit der Ruhe!“, sagte er und stieg in den Sattel. „Wir finden die Ponys schon. Los, Trombone, auf geht’s!“ Und er ritt auf die Straße hinaus.
„Können wir dir inzwischen irgendwie helfen, Audrey?“ Maria strich sich ihr langes, dunkles Haar aus dem Gesicht.
„Du kannst Rocket striegeln, wenn du willst. Die anderen habe ich alle schon versorgt.“ Audrey knetete hilflos ihre Hände, und Maria bemerkte, wie abgearbeitet und voller Schwielen sie waren.
„Es wird alles in Ordnung kommen“, sagte sie aufmunternd. „Ich bin sicher, die anderen werden die Ponys bald finden.“
Audrey holte Jod und wusch die Wunde an Frostys Bein aus. „Ich rufe besser den Tierarzt an. Er braucht eine Anti-Tetanus-Spritze.“
,Auch das noch!‘, dachte Maria, und während sie Rockets dunkelbraunes Fell bürstete, überlegte sie, wie viel der Tierarzt für diese Behandlung berechnen würde.
Stella hatte Northwind, einen großen, grauen Wallach, auf den Hof gebracht. Sie säuberte seine Hufe und arbeitete still und wortlos, wie es ihre Art war. Sie war viel allein zu Hause, und wozu sollte man reden, wenn man doch keine Antwort bekam?
,Nicholas hat uns nicht einmal richtig begrüßt‘, dachte sie. ,Er ist noch größer geworden, fast schon erwachsen …‘
Dann hielt ein Bentley vor dem Hoftor, und zwei Mädchen stiegen aus. Sie trugen elegante, helle Reithosen, karierte Tweedjacken und hielten eine Reitgerte in der Hand.
,Wie zwei Schaufensterpuppen‘, dachte Stella und rümpfte die Nase.
„Hallo!“, riefen die Mädchen. „Wo sind unsere Ponys? Im letzten Jahr haben wir Frosty und Dawn geritten.“
Aus der Sattelkammer klang Audreys Stimme zu ihnen herüber. Sie telefonierte mit dem Tierarzt.
„Ja, es sieht aus, als ob er sich an einem Draht geschnitten hat. Die Wunde ist tief und klafft auseinander. Doch, genau die Art von Verletzung, bei der man mit Tetanus rechnen muss.“
Als sie aufgelegt hatte und wieder auf den Hof hinauskam, schien sie die Neuankömmlinge gar nicht zu bemerken.
„Guten Tag, Miss Lewis! Können Sie sich nicht mehr an uns erinnern? Wir sind Diana und Stephanie Thompson. Im letzten Sommer haben wir Frosty und Dawn geritten. Können wir die beiden jetzt wieder reiten? Oder sind wir zu groß geworden?“
Doch Audrey gab ihnen keine Antwort.
„Was kann ich für euch tun?“ Constable Wilson musterte die Kinder erstaunt.
„Wir kommen wegen der Ponys aus der Reitschule“, sagte James.
„Irgendjemand hat das Gatter von der Weide offen gelassen“, fügte Bromwyn hinzu. „Wir dachten, Sie hätten vielleicht etwas gehört.“
Eine Katze strich schnurrend um Constable Wilsons Beine.
„Nein, ich habe keine Meldung erhalten. Wie viele Ponys werden denn vermisst? Und auf welcher Weide waren sie?“
James und Bromwyn berichteten, was sie wussten. Leider war es nicht besonders viel.
„Vielleicht haben die Kollegen auf dem Revier in der Stadt etwas gehört.“ Der Wachtmeister strich sich bedächtig über das Kinn. „Ich rufe am besten dort einmal an.“ Er öffnete die Tür zum Wohnzimmer. „Setzt euch inzwischen.“
„Lieber Himmel, hat der eine lange Leitung!“ James ließ sich ungeduldig in einen Sessel fallen. „Bis der fertig ist, ist es Mittag.“
Eine Katze sprang auf Bromwyns Schoß und rollte sich zutraulich zusammen. „Ich mag die kurzhaarigen Katzen am liebsten“, murmelte das Mädchen und schaute abwesend zum Fenster hinaus. Sie hatte sich von Anfang an nicht viel von dem Besuch bei der Polizei versprochen.
„Tut mir leid, Kinder.“ Constable Wilson stand in der Tür und schüttelte den Kopf. „Die Kollegen in der Stadt wissen auch nichts. Aber sie wollen den Streifenwagen benachrichtigen, und sobald es Neuigkeiten gibt, rufen wir Miss Lewis an.“
„Und die Motorräder?“ James wollte sich nicht zufrieden geben. „Das muss eine ganze Bande gewesen sein!“
„Schon möglich, aber das bedeutet noch gar nichts.“ Der Wachtmeister war nicht aus der Ruhe zu bringen. „Man soll keine voreiligen Schlüsse ziehen. Nun macht euch keine Sorgen! Wir kümmern uns schon um die Ponys.“
„Und die beiden Ponys, die noch auf der Weide waren? Schließlich waren sie verletzt und noch dazu völlig verstört.“
„Ja, so etwas kann schon einmal vorkommen. Vielleicht haben sie sich in der Dunkelheit verlaufen und sind in einen Draht geraten. Pferde werden schnell nervös, weißt du.“
„Ach ja?“ James verdrehte die Augen. „Das ist mir aber ganz neu.“
„Was nun?“, fragte Bromwyn, als sie wieder draußen vor dem Gartentor standen. „Den Weg hätten wir uns sparen können. Constable Wilson scheint nicht gerade der Hellste zu sein.“
„Wir gehen am besten zurück zur Reitschule.“ James vergrub enttäuscht die Hände in den Taschen. „Vielleicht hat irgendjemand angerufen, oder Ivor und Jocelyn hatten mehr Glück als wir.“
„Ich frage mich, ob Nicholas schon wieder aus dem Internat zurück ist“, sagte Bromwyn nachdenklich, und James erinnerte sich, dass sie schon im letzten Sommer für den großen, blonden Jungen geschwärmt hatte.
„Audrey wird eine Menge Geld verlieren, wenn wir die Ponys nicht finden.“ Statt einer Antwort fing James an zu rechnen. „Eine Reitstunde kostet bei ihr acht Schilling und sechs Pence. Wie viel macht das – bei sieben Ponys und drei Reitstunden am Tag?“
„Du erwartest doch nicht, dass ich am frühen Morgen schon Rechenaufgaben löse!“ Bromwyn schaute ihn entgeistert an.
„Das sind sechsundfünfzig Schilling mal drei, von den Pfennigen mal abgesehen. Zusammen macht das zwei Pfund, neunzehn Schillinge und sechs Pence, multipliziert mit drei … Also, genau acht Pfund, achtzehn Schillinge und sechs Pence.“ James blieb beeindruckt stehen. „Stell dir vor, fast neun Pfund! Also, ich wäre ganz schön wütend, wenn ich Audrey wäre.“
„Du bist es aber nicht. Ihr geht es bestimmt nicht um das Geld. Sie macht sich Sorgen um die Ponys.“
„Hoffentlich sind nicht alle verletzt.“
„Vielleicht sind sie schon tot. Es gibt so viele schreckliche Dinge! Pferdediebe zum Beispiel, die nachts die Tiere von der Weide stehlen und an irgendeinen Abdecker verkaufen. Komm, James, wir müssen uns beeilen! Wir müssen Audrey helfen.“
„Aber das tun wir doch …“
Und beide fingen zu laufen an.
„Auf dem Bahndamm sind sie nicht.“ Jocelyn blieb erleichtert stehen. Sie rang nach Luft. „Der Maschendraht ist nirgendwo beschädigt. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass ein Pony diesen Abhang hinunterklettern kann.“
Der Güterzug war in der Ferne verschwunden, doch nun sah Ivor einen Personenzug kommen, der die nächsten Feriengäste in den kleinen Badeort an der Küste brachte. Viele standen am offenen Fenster und ließen sich die frische Seeluft um die Nase wehen.
„Wir kehren besser wieder um“, meinte er, und man sah ihm an, wie erleichtert er war.
„Ich kann mir einfach nicht erklären, was mit den Ponys geschehen ist.“ Jocelyn zuckte die Achseln. „Mir ist das alles ein Rätsel.“
Ivor dachte an die Motorradspuren im Gras und schwieg. Wie oft hatte er die jungen Burschen aus der Nachbarschaft auf ihren Maschinen durch die Straßen brausen sehen. Jede Katze nahm vor ihnen Reißaus, wenn sie vor den bescheidenen Reihenhäusern ihre Runden drehten.
„Das müsste verboten werden!“, hatte seine Mutter oft genug gesagt. „Demnächst überfahren sie noch eins von den Kindern, oder sie brechen sich selbst den Hals.“
Und eines Tages war tatsächlich einer der Jungen mit seiner Maschine gestürzt, und man hatte ihn in einem Krankenwagen fortgebracht. Seine Freunde hatten stumm zugeschaut, aber am Wochenende waren sie wiedergekommen, hatten die Maschinen aufheulen lassen und gelacht, als ob nichts geschehen wäre.
„Du denkst an die Motorradfahrer, nicht wahr?“, fragte Jocelyn leise.
Ivor nickte und ballte die Fäuste in den Taschen. Selbst wenn die anderen die Ponys inzwischen gefunden hatten – wer weiß, wie die Tiere zugerichtet waren. Piebald, die kleine, gescheckte Stute, war Ivor besonders an Herz gewachsen. Wenn ihr etwas zugestoßen war!
„Das kannst du mir glauben“, zischte er durch die Zähne. „Wenn ich diese Typen zu fassen kriege, dann schüttele ich ihnen die Knochen aus dem Leib.“
C. Pullein-Thompson
Keine Ferien ohne Pferde
ISBN (eBook): 978-3-89835-529-2