„So, dann sollt ihr zwei Grünschnäbel hier ganz allein nach dem Rechten sehen?“ Der Arzt hatte Jenny zum Röntgen ins Krankenhaus gefahren, und der Colonel musterte uns kritisch. „Wo ist Sergeant Sam?“
„Er ist auf dem Pferdemarkt“, erklärte Pete. „Stableways braucht noch ein zusätzliches Pony für die Springturniere.“
„Und warum hat er sich nicht an mich gewandt?“ Der Colonel schüttelte missbilligend den Kopf. „Er hätte mir Bescheid sagen müssen, damit ich inzwischen hier die Aufsicht übernehme. Dieser sogenannte Stallbursche, den ihr hier habt, ist ja auch viel zu jung, um eine solche Verantwortung zu übernehmen. Übrigens, wo steckt er denn jetzt?“
„Ernie hat Jenny überredet, ihn früher als sonst gehen zu lassen“, sagte ich. „Er wollte mit seinem Motorrad nach Brighton.“
Der Colonel warf einen ungeduldigen Blick auf seine Uhr.
„Um acht Uhr muss ich in der Stadt sein. Heute Abend findet ein Treffen meiner ehemaligen Regimentskameraden statt. Eigentlich wollte ich den Zug um fünf nach sieben nehmen. Aber wie soll ich das schaffen? Ich muss hierbleiben und euch bei der abendlichen Stallarbeit helfen. Also werde ich anrufen und absagen müssen.“
„Aber nein, das ist wirklich nicht nötig“, versicherte ich rasch. „Pete und ich machen das schon.“
Colonel Lyall sah uns zweifelnd an.
„Nun ja“, meinte er schließlich. „Die Pferde sind ja ruhig, ihr beide macht das nicht das erste Mal. Ich denke, ihr beiden werdet auch einmal alleine damit fertig.“
Pete lächelte in entwaffnend an.
„Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen zu machen, Colonel! Gehen Sie ruhig zu diesem Treffen. Wer weiß, wann Sie Ihre alten Freunde sonst noch einmal wiedersehen. Bestimmt, Pippa und ich kommen schon zurecht. Und Sergeant Sam kommt sicher auch bald zurück.“
Der Colonel zögerte noch immer.
„Also gut.“ Er gab endlich nach. „Du hast schon recht. Schließlich kann ich mein altes Regiment nicht enttäuschen.“
„Und wer ist jetzt wieder der Dumme? Natürlich ich!“ Pete maulte verdrossen, als wir frisches Stroh heranschleppten und Sultans Streu für die Nacht aufhäuften. „Ich wollte um sieben Uhr im Sportverein sein. Weiß der Himmel, wie lange ich jetzt hier aufgehalten werde!“
„Natürlich, gegen das Reiten hast du nichts einzuwenden. Das macht dir Spaß. Aber wenn es darum geht, die Ställe auszumisten und das Sattelzeug zu putzen, dann hast du ständig was zu meckern.“ Ich ärgerte mich über meinen Bruder. „Aber bitte, dann geh doch zu deinem kostbaren Sportverein.“ Ich drehte mich um und ging zum Futterraum hinüber.
„Das würde dir ganz recht geschehen.“ Pete grinste. „Aber du weißt genau, dass das nicht geht. Ich habe dem Colonel versprochen, zu bleiben.“
Ich weiß nicht, wie lange wir uns noch gezankt hätten, aber dann klapperten plötzlich Hufe über das Hofpflaster, und ein Pferd galoppierte an uns vorüber. Es war Sultan, der zielbewusst auf das offene Gatter zuhielt, das auf die Koppel hinausführte.
„Du hast ihn nicht richtig angebunden, Pippa!“
„Habe ich wohl!“, verteidigte ich mich. Doch dann kam mir ein Gedanke. Sultan hatte die Angewohnheit, mit seinen Zähnen an dem Strick zu zerren und zu zupfen, wenn er irgendwo angebunden wurde. Ich hatte das schon oft beobachtet. Araber sind eben kluge Tiere. Wahrscheinlich hatte der Hengst so lange an dem Riemen gezogen, bis es ihm gelungen war, den lockeren Knoten zu lösen.
„Was soll’s?“ Ich stöhnte. Es hatte wenig Sinn, länger mit Pete zu streiten. „Jetzt ist er jedenfalls ausgerissen. Es ist immer wieder ein Kapitel für sich, ihn einzufangen. Warte hier! Ich hole ein paar Ponynüsse.“
Wenn Pete gewartet hätte, wäre wahrscheinlich alles gutgegangen.
Aber er war viel zu sehr ein Junge der Tat, als dass er sich die Streiche eines eigenwilligen Pferdes tatenlos ansah.
Als ich mit den Ponynüssen zurückkam, konnte ich gerade noch beobachten, wie Sultan aus der Ecke ausbrach, in die Pete ihn getrieben hatte. Der Hengst richtete sich drohend auf der Hinterhand auf, Pete trat ängstlich einen Schritt zurück, stolperte und landete rückwärts mitten in einem Feld Butterblumen. Sultan schlug triumphierend mit dem Schweif und setzte in einem eleganten Satz über den Zaun in das nächste Feld hinüber.
Der massive Holzzaun bedeutete keine Schwierigkeit für den Hengst. Doch auf der anderen Seite verlief ein Bewässerungsgraben, in dem das Wasser nach dem schlechten Wetter der letzten Tage höher stand als sonst. Auch der Boden war nass und schlüpfrig, und als Sultan hinter dem Zaun aufkam, landete er mit einem Fuß in einer schlammigen Pfütze.
Er strauchelte, verlor den Halt und stürzte auf die Böschung des Bewässerungskanals.
Sultan versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Doch seine Hufe fanden auf dem nassen Hang keinen Halt. Der morastige Untergrund brach unter ihm weg. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis der Hengst von panischer Angst ergriffen wurde. Verzweifelt schlug er mit den Hufen um sich.
„Ruhig, Sultan, ganz ruhig!“ Mir klopfte das Herz bis zum Hals, als ich mit Pete über den Zaun kletterte. Wir mussten den Hengst vor allen Dingen erst einmal beruhigen. Doch das war gar nicht so einfach.
Schwere Erdbrocken lösten sich unter Sultans stampfenden Hufen, rutschten die Böschung hinab und verwandelten das Wasser im Kanal in eine schlammige Brühe. Jeder vergebliche Versuch, sich zu befreien, machte sein Entsetzen nur noch größer. Er war so aufgebracht, dass es eigentlich viel zu gefährlich war, jetzt in seine Nähe zu kommen.
Aber irgendwie mussten wir ihm doch helfen!
„Ruhig, Sultan!“ Pete redete beschwörend auf den Hengst ein. Er versuchte, nach seinem Halfter zu greifen, aber Sultan warf verschreckt den Kopf hoch. Mit einer letzten verzweifelten Anstrengung versuchte er, sich aufzurichten. Schräg an den Hang gelehnt hob er sich auf der Hinterhand hoch und setzte einen Schritt zurück. Da verlor er das Gleichgewicht! Er taumelte, stürzte und rollte seitwärts in den Graben.
Mir stockte der Atem. Nun war er in Gefahr, zu ertrinken.
„Wir müssen seinen Kopf hoch halten!“ Pete sprang mit einem Satz neben den Hengst ins Wasser. „Schnell, Pippa! Du musst Hilfe holen!“
In diesem Augenblick klang ein Ruf zu uns herüber. Hinten, am Ende der Koppel, zwängte sich ein Junge durch die Dornenhecke und rannte mit langen Schritten durch das Gras. Er sah wie ein Zigeuner aus.
„Vorsicht!“, rief er meinem Bruder zu. „Geh zur Seite! Das Pferd kann auf dich rollen! Lass mich das machen!“
Das Wasser spritzte hoch auf, als der Junge zwischen Sultan und Pete in den Graben sprang.
„So, mein Freund, hab keine Angst! Wir helfen dir.“ In einem seltsam singenden Tonfall sprach der Junge auf den Hengst ein. Mit leiser Stimme raunte er ihm beruhigende Worte ins Ohr und blies immer wieder besänftigend in die bebenden Nüstern.
Ich kannte den Jungen vom Sehen. Er hieß Benny, und er lebte mit seiner Mutter und seinem Stiefvater in einem Wohnwagen am Stadtrand. Manchmal sahen wir ihn, wie er mit sehnsüchtigen Blicken bei den Ställen herumlungerte. Doch Sergeant Sam hatte ihn jedes Mal fortgejagt. Benny hatte einmal Schwierigkeiten mit der Polizei gehabt, weil er für seine Hündin in einem Supermarkt Futter gestohlen hatte.
Bennys richtiger Vater war beim Lachsfischen ertrunken. Er war Roma, und alle, die mit Pferden zu tun hatten, erinnerten sich noch an ihn – an Rutland Reuben, den berühmten Pferdetrainer, der so vertraut mit seinen Tieren war, dass man glaubte, er spräche ihre Sprache.
Man erzählte sich, dass er die besondere Gabe besessen hätte, mit Raunen und Flüstern bei einem Pferd alles zu erreichen, was er wollte. Und es schien, als habe Benny diese geheimnisvolle Gabe von seinem Vater geerbt.
Sultan wurde ohne Zweifel ruhiger. Er hörte auf, mit den Hufen zu schlagen, und lauschte offenbar dem eigentümlichen Singsang dieser Jungenstimme.
„Gut so!“ raunte Benny. „Und nun komm hoch! Schön langsam, mein Freund. Bring deine Hufe unter deinen Leib!“
Pete und ich sahen verblüfft zu, wie Sultan gehorchte.
Er fand mit allen vier Hufen Halt auf dem Grund des Grabens und richtete sich langsam aus dem Wasser auf. Er zitterte, und seine Flanken bebten, aber er schien keine Angst zu haben.
„Hilf mir auf seinen Rücken!“, bat Benny meinen Bruder. „Ich reite ihn bis zum Abfluss. Dort ist fester Boden an der Uferböschung. Wenn er mit der Vorderhand Halt findet, müsste er eigentlich allein aus dem Graben klettern können.“
Beim Abfluss des Kanals sprang Benny auf die Böschung. Er fasste den Hengst beim Backenstück seines Halfters, während ich mich an den Nackenriemen klammerte.
„Komm, Sultan, klettere die Böschung hoch!“ Wir zogen mit aller Kraft an den Riemen und redeten dem Fuchs gut zu. Pete versuchte, das Pferd von hinten anzuschieben.
Es klappte nicht auf Anhieb. Sultan rutschte immer wieder von der steilen Böschung ab.
„Gib nicht auf, mein Junge! Noch ein Versuch!“
Schlamm spritzte Pete in Gesicht und Haare, und dann hatten wir es geschafft! Sultan stand glücklich auf festem Boden! Seine Beine zitterten.
„Bravo, du bist ein tüchtiger Kerl!“ Benny legte seine Arme um den Hals des Hengstes und flüsterte ihm lobende Worte zu.
Voller Zutrauen senkte Sultan seinen Kopf zu ihm herab, und Benny fing an, in sanften Aufwärtsbewegungen seine Ohren zu massieren.
„Das wärmt ihn wieder auf“, erklärte er uns. „Jetzt können wir ihn zurück in seinen Stall bringen. Darf ich ihn trocken reiben?“
Es war schon halb neun, als endlich Sergeant Sam zurückkehrte. Pete und ich hatten die Ponys, die in der Nacht draußen auf der Koppel blieben, gefüttert und getränkt, aber Benny hatte Sultan nicht einen Moment allein gelassen. Er bürstete ihn, bis sein Fell wie Seide glänzte. Wir schauten zu, reichten ihm ab und zu frisches Stroh und warteten, bis wir dem Araber die Decke für die Nacht auflegen konnten.
„Ist hier niemand?“ Die Wagentür schlug zu, und Sergeant Sams Stimme klang zu uns herüber. Dann steckte er seinen Kopf durch die Boxentür.
„Ihr beide?“ Er runzelte überrascht die Stirn, als er Pete und mich bemerkte. „Was soll denn das bedeuten?“
„Jenny ist aus Sultans Sattel gestürzt.“ Ich versuchte, ihm die schlechten Neuigkeiten so schonend wie möglich beizubringen.
Sergeant Sam nickte knapp.
„Das weiß ich bereits. Ich war gerade auf dem Heimweg, als sie mir im Wagen des Doktors begegnete. Also habe ich gewendet und bin gleich mit ihr ins Krankenhaus gefahren. Der Unfallarzt kümmert sich um sie.“ Er streifte Benny mit einem missbilligenden Blick. „Und was macht der hier?“
Benny trat verlegen von einem Fuß auf den anderen.
„Ich weiß, Sie haben mir verboten, herzukommen. Aber …“ Er legte liebevoll seine Hand auf Sultans Rücken. „Der Bursche hier steckte in Schwierigkeiten, da musste ich doch helfen.“
„Das stimmt, Mister Harrington.“ Pete erzählte, was geschehen war. „Sultan wäre vielleicht ertrunken, wenn Benny nicht gewesen wäre.“
„Hmm …“ Jennys Großvater musterte den Jungen einen Augenblick schweigend. Doch dann schmunzelte er. „Dieser Bengel!“, meinte er kopfschüttelnd. „Scheint, du riechst es meilenweit gegen den Wind, wenn ein Pferd in Not ist! Genau wie dein Vater … Vielleicht habe ich mich in dir getäuscht.“ Er sah Benny ernst an. „Wie ich sehe, schaffst du es ja doch nicht, dich von den Ställen fernzuhalten. Also, von mir aus kannst du hin und wieder herkommen und uns zur Hand gehen. Jetzt, nachdem Jenny verletzt ist, können wir zusätzliche Hilfe ganz gut gebrauchen.“
„Danke!“ Bennys Augen strahlten.
„Aber hör mir gut zu, Freundchen!“ Der Sergeant beugte sich zu Benny herab, und seine Stimme wurde streng. „Du hast die gleiche Gabe wie dein Vater. Ihr Roma flüstert den Pferden geheimnisvolle Dinge ins Ohr, dann tun sie alles, was ihr wollt. Es heißt, dass auf diese Weise auch schon manches Pferd spurlos verschwunden ist. Das wird hier nicht passieren! Weder mit meinen Pferden noch mit anderen Sachen, die dir nicht gehören. Wenn du dich ordentlich benimmst, bist du willkommen. Aber sonst … Es liegt also an dir. Ist das klar?“ Er seufzte. Dabei schaute er Pete und mich an. „Vielleicht werde ich das eines Tages bereuen. Und weiß der Himmel, was der Colonel dazu sagt. Er sieht es bestimmt nicht gerne, dass ich Benny erlaube, in Stableways ein- und auszugehen. Aber ich denke, ich bin es Benny schuldig. Er hat immerhin Sultan gerettet.“
„Sie werden es bestimmt nicht bereuen, Mister Harrington.“ Ich wollte ein gutes Wort für den Zigeunerjungen einlegen.
Ohne dass Sergeant Sam es sehen konnte, zwinkerte Benny mir zu. Es schien, als wollte er sich dafür bedanken, dass ich ihm zu Hilfe gekommen war.
Oje! Ich dachte an Bennys Ruf. Konnten wir ihm wirklich vertrauen?