„Ich habe Großvater nichts von dem Steigbügelriemen erzählt.“ Jenny war aus dem Krankenhaus zurück. Pete und ich waren am anderen Morgen schon früh im Reitstall, um ihr beim Verteilen des Futters zu helfen. „Er soll selbst sehen, dass das Leder absichtlich zerschnitten wurde. Sonst glaubt er nie, dass irgendjemand auf solch eine gemeine Idee kommt.“ Sie warf uns über die Schulter einen fragenden Blick zu. „Übrigens, wo habt ihr das Leder hingetan?“

Ich zuckte verblüfft mit den Schultern, und auch Pete wusste keine Antwort.

„Wahrscheinlich hat bei der ganzen Aufregung niemand daran gedacht, den Riemen aufzuheben. Aber ich glaube, ich weiß noch, wo er lag.“

Fünf Minuten später kam Pete mit leeren Händen zurück.

„Er ist weg! Ich habe den ganzen Parcours abgesucht, aber der Riemen ist verschwunden.“

„Dann muss ihn jemand anderes aufgehoben haben.“

„Scheint so.“ Jenny stöhnte. Sie hatte immer noch Schmerzen. „Vielleicht war es sogar derjenige, der ihn zerschnitten hat. Er musste das Leder verschwinden lassen, damit man seine Tat nicht durchschaut.“

„Das sind alles nur Vermutungen, Jenny“, wandte Pete ein. „Es kann auch sein, dass dein Großvater oder sogar der Colonel sich die Stelle angesehen haben, wo du gestürzt bist.“

„Ich könnte Großvater oder den Colonel fragen. Aber das will ich nicht. Großvater würde sich nur aufregen, er hat im Augenblick genug Probleme. Ich bin verletzt, und er muss für Sultan einen neuen Reiter finden. Der Hengst ist großartig in Form. Es wäre eine Schande, wenn er nicht an dem Turnier in Boxheath teilnehmen würde.“

„Und wer soll ihn reiten?“, fragte ich.

„Es gibt zwei Möglichkeiten“, erklärte Jenny. „Ian Hamilton und Colin Blackmoor reiten beide nicht schlecht. Wenn Großvater mit ihnen noch ein bisschen trainiert, könnte einer von ihnen es versuchen.“

Ich dachte nach.

„Die Dressur reitet Ian lange nicht so elegant wie Colin. Aber beim Geländeritt müsste er eigentlich besser abschneiden. Da verliert er nicht so schnell die Nerven wie Colin.“

Insgeheim wünschte ich mir, dass die Wahl auf Ian fallen würde. Er hatte Talent, mit Tieren umzugehen.

Colin dagegen war viel temperamentvoller als Ian. Er wirkte forsch und beherzt, aber in Wirklichkeit war er sehr unbeständig. Trotzdem war Colin ein brillanter Dressurreiter – sehr konzentriert und elegant.

„Puh!“, seufzte ich. „Ich möchte nicht in der Haut deines Großvaters stecken. Das wird bestimmt nicht leicht, zwischen Ian und Colin zu entscheiden. Aber er wird sicher die richtige Wahl treffen.“

Jenny nickte.

„Großvater hat die beiden für heute Nachmittag eingeladen. Er will sehen, wie Sultan reagiert …“

Sie verstummte, als schwere Schritte auf dem Hofpflaster erklangen und Ernie Topsall, Sergeant Sams Stallbursche, auftauchte.

„Beeilt euch ein bisschen mit dem Futter!“, rief Ernie meinem Bruder und mir zu. „Um elf kommen die ersten Schüler zum Springunterricht, die Pferde brauchen vorher noch Zeit, ihr Futter zu verdauen. Oder sollen sie sich alle heute Abend mit einer Kolik herumquälen? Also, marsch!“

„Wird gemacht, Ernie!“ Pete grinste den Stalljungen entwaffnend an.

„Macht euch nichts draus!“, meinte Jenny, als Ernie außer Hörweite war. „Dieser Ernie ist manchmal ein bisschen raubeinig.“ Nachdenklich schaute sie hinter dem Jungen her. „Seit einiger Zeit steckt er ständig mit Colin zusammen. Scheint eine richtig dicke Freundschaft zu sein. Deshalb wollte ich auch nicht, dass er mithört, was ich euch eben erzählt habe. Er braucht nicht zu wissen, dass Ian mir als Reiter für Sultan lieber wäre. Es könnte sein, dass er ihm das übelnimmt. Colin ist schließlich sein Freund.“

„Ernie und Colin?“ Ich schüttelte verwundert den Kopf. „Ein seltsames Gespann. Sie passen doch gar nicht zusammen. Sie haben doch überhaupt nichts Gemeinsames.“

„Außer Motorrädern!“ Pete schnaubte verächtlich. „Anscheinend können die ganze Welten überbrücken. Nächste Woche wird Colin siebzehn, und er hat erzählt, dass sein Vater ihm zum Geburtstag ein Motorrad versprochen hat.“

„Mister Blackmoor hat offenbar mehr Geld als Verstand.“ Jenny runzelte verständnislos die Stirn. „Und dann ausgerechnet ein schweres Motorrad! Dafür wäre später immer noch Zeit gewesen.“

„Immerhin hat er schon eine ganze Menge Übung“, wusste Pete zu berichten. „Seit Monaten kurvt er mit Ernies Motorrad auf dem alten Flugplatz herum.“

„Komisch!“ Ich konnte es immer noch nicht begreifen. „Man weiß doch nie, wo man bei den Leuten dran ist. Wer hätte gedacht, dass Colin sich etwas aus Motorrädern macht? Ich habe immer geglaubt, er hätte nur Pferde im Kopf.“

„Auch das wäre ein Grund, warum ich ihm Sultan nicht gerne anvertrauen möchte. Mir wäre es lieber, Großvater würde Ian für das Turnier in Boxheath auswählen.“

Alle waren gespannt, wie der Test, den Sergeant Sam für die beiden Jungens angesetzt hatte, ausfallen würde.

Ein paar der Reitschüler gingen nach ihrem Unterricht nicht gleich nach Hause, sondern blieben bis zum Nachmittag in Stableways. Der Colonel verzichtete auf seinen gewohnten Mittagsschlaf, um dabei zu sein, ja sogar Benny tauchte scheinbar „ganz zufällig“ auf. Jedes Ereignis, das auch nur im weitesten Sinne mit Pferden zu tun hatte, schien ihn wie ein Magnet anzuziehen, und er ließ Ian und Colin nicht aus den Augen, als die beiden die Strecke für den Geländeritt abschritten.

Ian sollte als Erster starten. Doch wie würde sich Sultan verhalten?

Kein Zweifel, Jennys Hengst betrachtete den Jungen als seinen Freund. Als Ian ihm über den Kopf strich und liebevoll mit ihm sprach, spitzte Sultan aufmerksam seine fein geschnittenen Ohren. Es sah ganz so aus, als wollte er dem Jungen zeigen, dass er ihn verstanden hatte. Und als Ian schließlich in den Sattel stieg, reckte der Araber stolz seinen Hals und wölbte seinen Schweif zu einem eleganten Bogen. Ja, Ian war ein Reiter, dem er vertraute und für den er gerne sein Bestes geben wollte.

Wie wir alle erwartet hatten, bereitete der Geländeritt dem Jungen keine großen Schwierigkeiten. Er führte den Hengst mit fester Hand, denn er wusste, dass Sultan jung und unerfahren war. Es war seine Aufgabe, die Entscheidungen zu treffen, das Tempo zu bestimmen, hier und da ein wenig anzufeuern, um dann den richtigen Moment für den Absprung zu finden.

Pete wollte unbedingt sehen, wie die beiden zurechtkamen, denn er rannte die ersten Hindernisse hinter ihnen her.

„Ian ist prima in Form!“, berichtete er strahlend, als er nach dem fünften Hindernis wieder bei uns auftauchte. „Und Sultan folgt ihm aufs Wort. Er geht genauso gut wie mit Jenny.“

„Das muss ich auch sagen.“ Der Colonel beobachtete die beiden durch sein Fernglas. „Jetzt sind sie am Wassergraben. Ja, kein Problem! Fehlerlos übersprungen. Bravo! Ein tüchtiger Junge.“

Atemlos warteten wir, bis Pferd und Reiter wieder in Sicht kamen. Die Hecke lag vor ihnen, eines der letzten Hindernisse vor dem Ziel. Sultan stürmte mit langen Schritten über das Gras. Ian tat nichts, um ihn zu zügeln. Die beiden galoppierten, als ob sie gegen die Uhr reiten müssten. Die Hufe des Hengstes dröhnten dumpf auf dem weichen Boden. Nur noch wenige Schritte bis zum Absprung! Sultan wurde noch schneller. Und dann sprang er. In weitem Bogen flog er über das Buschwerk, kam sicher auf der anderen Seite auf und hielt mit dem typischen übermütigen Schlag seines Schweifs bereits auf die Mauer zu. Das letzte Hindernis!

„Gut gemacht, junger Mann!“ Der Colonel war der Erste, der gratulierte, als Ian nach diesem glänzenden Ritt die Zügel sinken ließ.

„Das wird nicht leicht zu schlagen sein“, hörte ich Ernie raunen, während Colin sich nervös auf die Lippen biss.

Einen Augenblick stand er wortlos da und ließ die Reitgerte gegen seine Stiefel wippen. Das tat er immer, wenn er sich über irgendwas geärgert hatte. Doch dann drückte er sich fest entschlossen die Reitkappe auf sein dunkles, glänzendes Haar und ging zum Sattelplatz hinüber.

„Sollen wir Sultan nicht einen Augenblick verschnaufen lassen?“, sagte er zu Sergeant Sam und schaute unschlüssig zu den ersten Hindernissen hinüber. Hatte ihn nun doch der Mut verlassen? Wollte er Zeit gewinnen?

Doch es half nichts.

„Nein, jetzt aber los!“ Sergeant Sam hatte den Finger am Knopf seiner Stoppuhr. „Reite nicht zu langsam! Es geht zwar nicht um Schnelligkeit, aber ich möchte sehen, wie lange du für die Strecke brauchst.“

Colin schwang sich in Sultans Sattel. Mit angespanntem Gesicht nahm er die Zügel auf – dann ging es los.

Diesmal rannte Pete nicht hinterher. Er blieb bei Jenny und mir und wartete mit unbeweglichem Gesicht.

„Bis jetzt hält er sich ganz gut“, berichtete der Colonel, der alles durch sein Fernglas beobachtete. „Ja, die Kombination hat er fehlerlos geschafft. Aber jetzt ist er am Wall. Das Gatter oben auf der Böschung scheint ihm Probleme zu bereiten. Wahrscheinlich hat er Angst, dass Sultan zu weit springt und die andere Seite des Walls herabstürzt. Tatsächlich, er hat die Latte gerissen. Pech! Nun schlittert er auf der anderen Seite den Hang hinunter. Nein, tut mir leid, Sam, von deinen beiden Musterschülern macht dieser aber keine gute Figur. Was er bis jetzt gezeigt hat, ist wohl kaum dazu angetan, Lorbeeren zu ernten.“

„Das will ich nicht sagen.“ Sergeant Sam wollte mit seinem Urteil noch warten. „Jeder kann mal einen schlechten Tag haben.“

„Gut, das gebe ich zu.“ Der Colonel nickte. „Wollen mal sehen, wie er mit dem Rest der Strecke fertig wird. Und dann kommt auch noch die Dressurprüfung. Sie zählt auch noch. Warten wir den restlichen Nachmittag noch ab. Dann werden wir wissen, welcher von den beiden in allen Disziplinen der Bessere ist.“