Alle starrten wie gebannt auf Sultan und Colin, als sie endlich wieder hinter einem Gebüsch in Sicht kamen.

Colin hatte sich inzwischen offenbar wieder gefangen. Er hielt auf die Hecke zu, und als sie näher kamen, trieb er den Hengst zu größerem Tempo an.

Sultan sah das nahe Ziel. Vielleicht dachte er, dass er es bald geschafft hatte und dass wir ihn loben würden. Vielleicht freute er sich sogar schon auf einen Leckerbissen zur Belohnung.

Jedenfalls hatte er es plötzlich schrecklich eilig, und es passierte das, was einem guten Reiter nie passieren sollte: Das Pferd übernahm die Führung.

Er biss launig auf seine Trense, reckte die Nase weit nach vorn und galoppierte drauflos.

„Er geht das Hindernis viel zu schnell an!“ Der Colonel schüttelte den Kopf.

An meiner Seite pfiff Pete leise durch die Zähne.

„Das sieht nicht gut aus!“, zischte er. „Wenn das nur nicht mit einem Sturz endet.“

Ich glaube, ich war nicht die Einzige, die lieber Ian als Sieger in diesem Wettkampf gesehen hätte, doch nun hatte ich nur noch Angst um Jennys Hengst. Hoffentlich stürzte Sultan nicht!

Er raste viel zu schnell auf die Hecke zu. Atemlos drückte ich die Daumen. Sultans Tempo war geradezu halsbrecherisch. Doch zum Glück hatte er genügend Kraft. Er flog hoch, streckte sich und schaffte es tatsächlich, sicher auf der anderen Seite zu landen.

Doch unsere Spannung war noch nicht vorüber. Sultan schlug in der gewohnten Weise einmal kurz mit dem Schweif, sammelte sich für einen winzigen Augenblick und galoppierte dann auf die Mauer zu.

Doch er war immer noch viel zu schnell!

Wir sahen, wie Colin an den Zügeln riss, um ihn zu stoppen. Das brachte Sultan aus dem Rhythmus. Er musste einen zusätzlichen Schritt einlegen und kam viel zu dicht vor der Mauer ab.

Er hob sich steil in die Höhe und zog alle vier Hufe dicht an den Leib. Doch es fehlte die Weite. Die beiden obersten Reihen der hölzernen Ziegel fielen polternd herunter.

Colin biss sich wütend auf die Lippen. Doch im nächsten Augenblick siegte das Schautalent über seinen Zorn, und er hatte sich wieder gefasst.

„Es scheint, ich habe heute meinen schlechten Tag erwischt.“ Er ließ sich seinen Ärger nicht anmerken, als er mit Sultan vor Sergeant Sam und dem Colonel zum Stehen kam.

„Das war einfach nur Pech, Kumpel!“ Ernie kam herbei und übernahm Sultans Zügel. „Was meinen Sie, Mister Harrington? Colin könnte doch gleich mit der Dressur weitermachen. Dann sehen wir am besten, was er kann.“

Colin wollte schon zu einem Protest ansetzen, doch dann nickte er stumm. Und ich hätte schwören können, dass Ernie ihm vielsagend zugezwinkert hatte.

„Nein!“ Nun mischte Jenny sich ein. „Sultan hat wirklich eine Atempause verdient.“

„Ach was, das ist doch nicht nötig.“ Der Colonel wies mit dem Kinn zum Dressurplatz hinüber. „Die paar Runden dürfen einem Pferd wie Sultan doch nichts ausmachen. Mach nur weiter, Sam! Wenn der Junge Mumm in den Knochen hat, zeigt er uns gleich, was er bei der Dressur auf die Beine stellt.“

„An mir soll’s nicht liegen!“ Colin grinste und beugte sich aus dem Sattel herab, um die Riemen seiner Steigbügel ein paar Löcher länger zu schnallen.

„Der Bursche gefällt mir.“ Der Colonel nickte anerkennend, als Colin mit straffem Rücken und entspannten, gelösten Händen im Sattel saß. Er hielt den Blick streng geradeaus gerichtet. „Sehr schön“, murmelte Colonel Lyall. „Sauberer Stil, ganz wie in der Königlichen Leibgarde. Und eine tadellose Haltung. Ja, der Junge könnte wahrhaftig einer meiner jungen Offiziere sein.“

Pete und ich tauschten einen vielsagenden Blick aus. Ich stöhnte leise. Wenn es nach dem Colonel ging, gab es keinen Zweifel, wer das Turnier in Boxheath bestreiten würde: Colin!

Den Blick unverwandt nach vorne gerichtet, beschrieb Colin mit Sultan einen großen Kreis, versammelte ihn mit fester Hand und betrat den Platz bei dem großen Buchstaben A, den Sergeant Sam an dieser Stelle auf ein Schild aus Karton gemalt hatte.

Er ritt in gerader Linie weiter, bis er mitten auf dem Platz war und sein Blick genau auf Sergeant Sam und den Colonel traf. Einen Augenblick verharrte er dort mit Sultan, ohne sich zu rühren, und verneigte sich dann mit einem leichten Lächeln zu seinen „Richtern“ hinüber. Danach wandte Sultan sich mit hohen, freien Schritten nach rechts. Die Bewegungen des Hengstes waren so anmutig, dass es mir fast den Atem nahm.

Colin trieb ihn nun in den Trab. Sultans Wechsel war fehlerlos. Pete und ich wussten, dass diese Leistung nur der geduldigen Schulung durch Jenny und Sergeant Sam zu verdanken war. Doch der Colonel glaubte natürlich, dass allein Colins Dressurtalent diesen tadellosen Gangartenwechsel zuwege gebracht hatte. Kein Wunder, im Dressursattel gab Ernies Freund wirklich eine brillante Figur ab.

Im verhaltenen Galopp beschrieb er nun einen Kreis, parierte dann Sultan wieder zum Trab. Die Wendungen auf der Vorderhand gelangen ihm ohne den geringsten Schnitzer. Auch beim erneuten Wechsel zum Schritt setzte Sultan flüssig um, verlor nicht einen Augenblick lang den Rhythmus und bewegte sich frei und elegant.

Während der ganzen Zeit saß Colin reglos im Sattel. Ein ungeschultes Auge hätte nicht einmal die Zügelhilfen bemerkt, die er dem Hengst gab. Ja, ich verstand sehr gut, was der Colonel eben gemeint hatte. Wie Colin dort mit gestreckten Beinen auf Sultans Rücken saß, den Oberkörper straff gespannt, wie er keine Miene verzog – ja, da konnte ich ihn mir auch in dem federgeschmückten Helm, der blinkenden Brustplatte und der scharlachroten Uniform der Königlichen Leibgarde vorstellen.

Bei dem Schild mit dem Buchstaben C setzte Colin zum freien Galopp an und parierte genau in dem Augenblick zum Trab durch, als er das Schild das zweite Mal passierte. Nun wäre er eigentlich fertig gewesen. Er brauchte nur noch in die Mitte des Platzes zu reiten und sich mit einer Verbeugung vor den Zuschauern zu verabschieden. Doch das genügte ihm offenbar nicht. Er hängte noch freiwillig eine zusätzliche Figur an und ritt mit Sultan in weichen Schlangenlinien über die Bahn, wendete und kam in den gleichen großen Bogen wieder zurück.

„Bravo!“ Sogar Sergeant Sam war beeindruckt. Er gratulierte dem Jungen, als er Sultan zum Sattelplatz zurückbrachte.

„Jetzt braucht das Pferd aber eine kleine Pause!“ Ernie übernahm die Zügel, als Colin aus dem Sattel glitt.

Da war Benny sofort zur Stelle. Eifrig machte er sich an Sultans Sattel zu schaffen.

„Verschwinde!“ Ernie fuhr den Jungen barsch an und wollte ihn nicht an Sultans Seite lassen.

Doch Benny ließ sich nicht entmutigen. Er griff in seine Tasche und holte ein Pfefferminzbonbon hervor.

„Alle Klassepferde haben eine Schwäche für Pfefferminz“, erklärte er, wich Ernies erbostem Griff geschickt aus und hielt Sultan das Bonbon mit einem vergnügten Lächeln hin. „Sogar die größten Stars sind ganz versessen darauf.“

Zehn Minuten später war es soweit. Nun war Ian an der Reihe. Bevor Ernie sich einmischen konnte, hob er den Sattel auf und ließ ihn vorsichtig auf Sultans Rücken an die richtige Stelle gleiten.

Sultan war unruhig. Er trat rastlos von einem Bein auf das andere, dann bemerkte ich, wie ein Zucken durch sein seidiges Fell lief. Ian hob den Sattel ein wenig an und glättete sorgfältig die Haare auf Sultans Rücken.

Dann stieg er auf. Doch kaum, dass er oben war, begann Sultan zu bocken.

„Oje!“ Pete seufzte. „Ich sehe schwarz für Ians Dressur. Sultan ist zu frisch. Diese zehn Minuten Pause waren anscheinend ein Fehler.“

„Vielleicht legt sich das, wenn Sultan auf dem Platz ist.“ Ich drückte die Daumen, aber Jennys Hengst wollte sich nicht beruhigen. Seltsam, als er mit Colin über den Geländeparcours geritten war, hatte er sich nach den ersten Hindernissen doch auch gefangen.

Aber nun tänzelte er seitwärts in das Dressurfeld, und als Ian ihn vor Sergeant Sam und dem Colonel in Position brachte, wollte er nicht still stehen. Bei der ersten Schrittübung bockte er wieder. Er nickte so heftig mit dem Kopf, dass das Zaumzeug klirrte und er beinahe seine Knie berührte.

„Das ist doch nicht normal!“ Ich kniff die Augen zusammen. „Das sieht beinahe so aus, als ob ihm irgendetwas fehlt.“

„Ach was, das sind nur Launen!“ Ernie hatte meine Bemerkung gehört und zuckte abfällig mit den Schultern. „Ist doch klar, Mister Harrington, Ian hält die Hände nicht ruhig. Und sehen Sie sich seine Beine an. Er stößt den Hengst ununterbrochen in die Seiten. Kein Wunder, dass Sultan nervös wird.“

„Ja, bei der Dressur kann Ian Colin wirklich nicht das Wasser reichen.“ Der Colonel schüttelte missbilligend den Kopf, als Sultan die Wendung auf der Hinterhand verpatzte, Ians Zügelhilfen einfach abschüttelte und widerwillig bockend den zweiten Galopp anging. „Der Junge hat einfach nicht das richtige Gefühl. Beim Geländeritt war er ausgezeichnet, sehr schwungvoll und beherzt. Aber hier? Viel zu schwerfällig bei der Zügelführung. Nein, er hat keinen Stil!“

„Das liegt nicht an Ian“, verteidigte Jenny ihren Schützling. „Irgendetwas stimmt da nicht. Sultan würde sich normalerweise nie so aufführen.“

„Bei Ihnen vielleicht nicht, Jenny.“ Ernie ließ nicht locker. „Aber Sie haben ja auch Hände, so leicht wie eine Feder. Nein, nein, Ian fängt die Sache falsch an. Deshalb ist Sultan so bockig.“

Der Colonel mochte sich diesen Streit nicht länger anhören. Er brummte unwirsch und warf dann einen ungeduldigen Blick auf die Uhr.

„Komm, Sam!“, sagte er zu Jennys Großvater. „Wenn wir uns die Stute noch ansehen wollen, die zum Verkauf angeboten wird, sollten wir uns auf den Weg machen.“

Sergeant Sam und der Colonel waren eben gegangen, als Sultan wieder bockte. Er keilte aus und bäumte sich dann so unvermittelt auf, dass Ian das Gleichgewicht verlor und beinahe die Zügel fallengelassen hätte.

Bevor wir anderen etwas tun konnten, rannte Benny los. Sultan schnaubte aufgebracht und trommelte mit den Vorderhufen in die Luft, doch der Junge packte ihn unerschrocken am Reithalfter.

„Schön ruhig, mein Freund! Was fehlt dir denn?“ Er brachte den Hengst wieder auf den Boden und wollte ihm beruhigend über den Hals streichen.

Doch Sultan schreckte zurück. Das Fell auf seinem Widerrist zuckte.

„Etwas quält ihn.“ Auch Jenny kam nun näher und streckte besorgt die Hand aus.

Sultan wich ihr ängstlich aus.

„Lassen Sie mich machen, Jenny!“ Benny senkte seine Stimme zu einem raunenden Singsang, und wie schon sein Vater es gemacht hatte, flüsterte er dem Hengst beruhigend zu. „Es ist ja gut, mein Freund, wir wollen dir doch helfen. Lass sehen, was dir Kummer macht!“ Vorsichtig ließ er seine Finger über Sultans Rücken gleiten, teilte die einzelnen Haare und untersuchte sorgfältig die Haut. „Da ist etwas“, murmelte er. „Es fühlt sich wie Puder an.“ Nachdenklich roch er an seinem Finger und hielt dann Pete seine Hand hin. „Was meinst du? Wonach riecht das?“

„Juckpulver! So ein gemeiner Trick!“