In den nächsten Tagen trainierten Pete und ich hart an den Hindernissen.

Am Anfang legte Jenny nur Stangen auf den Boden, damit wir den richtigen Schrittrhythmus üben konnten. Dann versuchten wir es mit Cavalettis, diesen niedrigen Bodenricks, die man auch in der Höhe verstellen kann.

Wenn ich allein unterwegs war, hatte ich immer noch große Schwierigkeiten. Doch Seite an Seite mit Pete fiel es mir leichter. Pete fand immer die richtige Schrittfolge und hatte ein untrügliches Gespür für den passenden Moment beim Absprung. Wenn ich neben ihm über den Parcours trabte, brauchte ich nur darauf zu achten, dass Cloud mit Cavalier im Gleichschritt ging. Alles andere klappte dann wie von selbst.

„Ihr beide macht gute Fortschritte!“, lobte Jenny nach der ersten Trainingswoche. „Wenn ihr so weitermacht, werdet ihr uns in Boxheath bestimmt nicht blamieren.“

Immer, wenn Pete und ich trainierten, tauchte auch Emma auf. Sie hielt Rags, ihren kleinen Terrier, an der Leine und schaute uns sehnsüchtig zu.

Sergeant Sam hatte für Emma eines dieser kurzbeinigen Exmoor-Ponys ausgesucht. Pixie war eine liebe kleine Stute mit einer hellen Nase, die aussah, als wäre sie in Mehl getaucht. Sie hatte die ungestümen Tage der Fohlenzeit hinter sich und sich zu einem geduldigen, braven Pony entwickelt. Genau das richtige Reittier für ein kleines Mädchen. Sergeant Sam wäre mit der Enkelin des Colonels nie ein Risiko eingegangen.

„Wisst ihr eigentlich, dass ich auch schon ganz gut springe?“, plapperte Emma, als sie uns zum Trainingsplatz folgte. „In der Schule sind wir sogar schon über kleine Zäune gesprungen. Warum lässt Jenny mich nicht mitmachen? Ich finde das gemein!“

„Du, Emma, ich habe das ganz genau gehört!“ Jenny lachte. „Also, wenn du unbedingt willst, kannst du gehen und Pixie satteln. Aber vorher musst du Rags ins Haus bringen.“

„Darf ich wirklich springen?“ Emma strahlte über das ganze Gesicht.

„Nun ja, mal sehen, wie du dich anstellst. Für den Anfang legen wir nur Stangen auf den Boden, und du trabst mit Pixie darüber.“

Emma schob schmollend die Unterlippe vor.

„Das ist doch langweilig, Jenny! Nein, das mag ich nicht!“

„Hör zu, Emma, entweder so oder gar nicht!“ Jenny ließ sich nicht umstimmen.

„Nun mach kein Gesicht!“, tröstete ich. „Für den Anfang ist das doch gar nicht schlecht.“

„Jeder muss mal klein anfangen.“ Mein Bruder zupfte sie liebevoll an ihrem blonden Pferdeschwanz. „Sogar die berühmten Springreiter im Fernsehen haben ihre ersten Versuche mit Stangen auf dem Boden gemacht.“

„Wenn ihr meint.“ Emma war schließlich einverstanden.

Pete und ich mussten unser Training an diesem Nachmittag ein paar Mal unterbrechen, denn Emma rief immer wieder nach uns und wollte uns unbedingt zeigen, wie gut sie mit Pixie über die Stangen trabte.

Jenny erlaubte ihr schließlich, die Strecke auch einmal im Galopp abzureiten. Dann band sie einen zusätzlichen Riemen um Pixies Hals, und wir hoben jede Stange auf Knöchelhöhe an.

„So, nun zeig mal, was du kannst!“ Jenny nickte der Kleinen aufmunternd zu. „Du sitzt gut im Sattel. Auch die Zügelführung ist nicht schlecht. Du hast bei eurem Reitlehrer in der Schule eine gute Grundlage bekommen. Nimm die Zusatzleine zusammen mit den Zügeln. Dann kannst du besser das Gleichgewicht halten. Außerdem spürt Pixie den Aufsprung nicht so hart in ihrem Maul.“

Wir schauten gespannt zu, wie Emmas Pony die erste Stange fehlerlos übersprang und zu der nächsten galoppierte. Keiner von uns hörte, wie hinter uns der Colonel über das Feld kam, und als er uns ansprach, fuhren wir überrascht herum.

„So, meine Enkelin nimmt ihren ersten Unterricht im Springen. Sehr fachmännisch!“, lobte er Jenny und klopfte ihr anerkennend auf die unverletzte Schulter. „Das freut mich. Wenn Emma die nächste Runde dreht, nehmt die Steigbügel hoch und verknotet sie vor ihrem Sattel. Dann lernt sie, sich mit den Knien zu halten.“

Für den Rest des Nachmittags wartete noch eine Menge Arbeit auf uns. Sergeant Sam war mit einer Gruppe von sieben Reitern in die Heide ausgeritten. Als sie um fünf Uhr zurückkamen, mussten wir die Ponys absatteln und das Sattelzeug abreiben und aufräumen. Dann ging es mit der täglichen Stallarbeit weiter. Füttern, Tränken, die Heunetze füllen und …

„Pippa, bist du so lieb und versorgst Sultan?“, rief Jenny mir aus der Scheune zu, wo sie das Austeilen des Heus beaufsichtigte. „Schau, wo du Ernie findest. Er soll dir das Futter abmessen.“

In der Futterkammer verteilte der Stallbursche gerade Kleie, Mischfutter und Ponynüsse an Ian und Pete, die heute Abend das Füttern der Pferde übernommen hatten. Ich fühlte mich gar nicht wohl in meiner Haut, als Ian und mein Bruder gegangen waren und ich mit Ernie allein war. Wortlos hielt ich ihm meinen Eimer hin. Seit ich diesen schrecklichen anonymen Brief bekommen hatte, war ich bei Ernie auf der Hut.

„Für Sultan, oder? Mal sehen, ob wir noch ein bisschen Hafer für den Burschen haben.“ Ernie tauchte den Scheffel in die Haferkiste und fügte noch Kleie und klein geschnittenes Heu hinzu. „Jetzt noch ein paar Ponynüsse. Augenblick, ich muss nur einen frischen Sack aufmachen.“

Mit seinem Taschenmesser trennte er die Naht an dem neuen Sack auf, ließ die Nüsse durch seine Finger kullern und füllte die passende Menge in meinen Eimer.

Welch ein Wunder, dachte ich. Ernie gab sich tatsächlich Mühe, freundlich zu sein. Aber ich traute dem Frieden nicht. Im Gegenteil, gerade seine Freundlichkeit kam mir besonders verdächtig vor. Ich wollte so schnell wie möglich fort. Rasch nahm ich meinen Eimer und wandte mich zur Tür.

„Warte einen Moment!“ Er griff nach dem Eimer, steckte die Hand hinein und rührte das Futter kräftig um. „Das muss alles gut vermischt werden, weißt du. Sonst bekommt Sultan vielleicht eine Kolik. Und das wollen wir doch nicht, oder?“

Ich spürte, wie mir plötzlich ein Schauer den Rücken entlangkroch. Ernies hämisches Lächeln machte mir Angst. Nicht eine Minute länger wollte ich mit ihm allein sein!

Ich eilte hinaus und war froh, als ich in Sultans Box stand.

„So, mein Freund.“ Liebevoll legte ich meine Hand auf seine Kruppe. „Du wartest bestimmt schon auf dein Abendessen, nicht wahr?“

Als ich die Futtermischung in den Trog schüttete, schnaubte Sultan mich sanft an, tauchte seine Nase in das Futter und ließ es sich schmecken.

Ich schaute ihm zu und tätschelte seinen Hals. Je länger ich den Augenblick hinauszögern konnte, in dem ich mit meinem leeren Eimer wieder zu Ernie in die Futterkammer musste, desto lieber war es mir.

Sultan wühlte in dem Hafer- und Kleiegemisch und suchte nach seinen bevorzugten Leckerbissen, den Ponynüssen.

Doch dann schnaubte er plötzlich und warf erschrocken den Kopf hoch.

Verblüfft schaute ich in den Trog. Was war das? Das Futter war voller roter Flecke!

„O nein!“ Mir stockte der Atem, als ich zwischen Hafer und Kleie einen Glassplitter glitzern sah. Hatte Jennys Hengst auf die Scherben gebissen? Mit weichen Knien griff ich nach Sultans Kopf.

Von seinem Maul tropfte Blut.

„Hilfe!“ Mir standen die Tränen in den Augen. „Kommt schnell! Sultan hat auf Glas gebissen!“

Jemand lief mit langen Schritten über das Hofpflaster. Dann erschien Ian in der Boxentür. Doch so schnell er auch war, Benny schlüpfte an ihm vorüber und war als Erster bei dem Hengst.

„Was ist, mein Junge? Lass mich nachsehen!“ Er griff in Sultans Mähne und zog seinen Kopf zu sich herab.

Ich starrte verzweifelt auf das Blut, das immer noch aus seinem Maul tropfte.

Während Benny sanft auf den Hengst einredete, zog Ian seine Lippen hoch und versuchte, ihm ins Maul zu schauen.

„Er darf nicht schlucken, Ian!“ Meine Stimme zitterte.

Die beiden Jungens schafften es schließlich, dass Sultan sein Maul öffnete.

„Alles in Ordnung!“ Ian seufzte erleichtert. „Ich kann kein Glas entdecken. Er blutet zwar stark, aber das ist nicht so schlimm. Nur ein Schnitt in der Zunge. Das hat er bald wieder vergessen.“

Er gab dem Araber einen aufmunternden Klaps auf die Kruppe und schaute mich dann fragend an.

„Wie ist das denn passiert, Pippa?“

Statt einer Antwort fischte ich die Glasscherbe aus dem Trog.

„Hier, das war in seinem Futter.“

Ian sah mich ungläubig an.

„Und wie ist sie da hineingekommen?“

Ich hatte nur ein Bild vor Augen: Ernie, der mich nicht gehen lassen wollte, bevor er nicht mit seiner Hand noch einmal das Futter im Eimer umgerührt hatte.

Hatte er das Glas ins Futter getan? Schreckte er in seiner Boshaftigkeit denn vor nichts zurück?

„Hol sofort Sergeant Sam!“, sagte ich leise zu Ian. „Er muss erfahren, was hier vorgeht.“