Nachdem Sergeant Sam sich vergewissert hatte, dass für Sultan weiter keine Gefahr bestand, rief er uns alle in sein kleines Büro neben der Sattelkammer.

Er schaute jeden einzelnen von uns sehr ernst an.

„Wie konnte diese Glasscherbe in Sultans Futter geraten?“

„Wahrscheinlich war sie in einem der Futtersäcke.“ Der Stallbursche hatte erstaunlich schnell eine Erklärung bei der Hand. „Man weiß doch, wie nachlässig die Händler heutzutage sind.“

Sergeant Sam schloss halb die Augen und schien diese Möglichkeit genau zu überdenken.

„Gut, nehmen wir einmal an, es war so. Warum hast du das Glas dann nicht bemerkt? Du hättest es in der Messkelle sehen müssen.“

Ernie wies mit dem Kinn in meine Richtung.

„Da fragen Sie besser Pippa.“ Seine Augen glitzerten heimtückisch. „Dem gnädigen Fräulein kann es ja keiner recht machen. Sie wollte Sultans Futter unbedingt selbst abmessen. Dabei ist sie die Nachlässigkeit in Person. Was war denn an dem Tag, als Sultan ausgerissen und in den Graben gefallen ist? Sie war es doch, die die Boxentür nicht richtig verriegelt hatte! Und wer musste an dem Abend vor Jennys Unfall das Sattelzeug putzen? Pippa war an der Reihe! Und natürlich hatte sie wieder einmal vergessen, die Riemen für die Steigbügel zu überprüfen.“

„Ernie, was redest du da?“ Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss. „Du weißt ganz genau, dass du selbst Sultans Hafer abgemessen hast, dann hast du deine Hand in den Eimer gesteckt und das Futter noch einmal umgerührt.“

„Pippa sagt die Wahrheit“, bestätigte Ian. „Ich kam gerade über den Hof und sah zufällig, wie Ernie seine Hand in den Eimer steckte. Und ich erinnere mich genau, dass ich das gleich ziemlich seltsam fand.“

„Was soll denn daran seltsam sein?“ Ernie schnaubte verächtlich. „Wenn Sultan sein Futter doch jedes Mal so herunterschlingt? Schließlich ist er das wertvollste Pferd hier auf Stableways. Ich wollte bloß, dass er keine Kolik bekommt. Deshalb habe ich das Futter noch einmal umgerührt.“

„Also Ernie, jetzt redest du wirklich Unsinn!“ Jenny schüttelte entschieden den Kopf. „Sultan hat noch nie in seinem Leben sein Futter heruntergeschlungen. Das tut er nie! Stimmt’s, Großvater?“

„Nein, das ist mir auch noch nie aufgefallen.“ Sergeant Sam sah seinen Stallburschen scharf an. „Aber wenn du das Futter im Eimer noch mit der Hand umgerührt hast, Ernie, warum hast du die Glasscherbe nicht gefühlt? Kannst du mir das erklären?“

„Oh, ich weiß ganz genau, warum!“ Nun konnte ich mich nicht länger beherrschen. „Er konnte das Glas gar nicht bemerken! Weil er es nämlich selbst in den Eimer getan hat! Er hielt es in der Hand versteckt, als er das Futter umrührte. So muss es gewesen sein.“

„Das ist eine glatte Verleumdung, nichts weiter!“ Ernie dachte nicht daran, aufzugeben.

„Ernie, mir gefällt das nicht“, sagte Sergeant Sam. „Ich beobachte dich schon eine ganze Weile. Du bist mir ein bisschen zu schnell, wenn es darum geht, andere zu beschuldigen. Nimm deine Sachen und geh! Für deinen restlichen Lohn schicke ich dir einen Scheck.“

„Das ist eine grundlose Kündigung!“, fuhr Ernie auf. „Ja, genau das ist es. Dafür bringe ich Sie vors Arbeitsgericht. Das wird Sie eine schöne Stange Geld kosten.“

Gerade in diesem Augenblick kam Emma aus dem Haus gelaufen. Sie wollte sehen, ob sie vor dem Schlafengehen noch ein wenig auf ihrem Pony reiten konnte. Rags, der kleine Terrier, war bei ihr. Emma war so verblüfft, uns alle in Sergeant Sams Büro zu sehen, dass sie die Hundeleine fallen ließ.

Rags hatte Ernie sofort wiedererkannt. Das war der Junge, der ihn neulich so geärgert hatte! Er knurrte mit seiner dünnen, hohen Stimme und sprang auf den Stallburschen zu.

„Jetzt wollt ihr wohl auch noch diesen bissigen Köter auf mich hetzen!“ Und er versetzte dem kleinen Kerl einen gezielten Tritt in die Seite.

Im gleichen Augenblick landete Ian einen harten Schlag gegen Ernies Kinn.

„Und das war für dich! Du hast es verdient!“

„Auch noch tätliche Angriffe!“, stieß Ernie durch die Zähne hervor. „Wir sehen uns alle vor Gericht wieder.“

„Und wir melden dich dem Tierschutzverein.“ Pete beugte sich mit Emma über das fiepende Hundebaby. Zum Glück war Rags jedoch nicht verletzt.

„Du bist ein übler Bursche, Ernie Topsall.“ Sergeant Sam richtete sich zu seiner ganzen Größe auf. „Und was die Polizei angeht: Sie wird sich sicher dafür interessieren, was du mit Sultan gemacht hast. Es verstößt gegen das Gesetz, ein Tier mutwillig zu verletzen.“ Er wies mit dem Finger zur Tür. „Mach, dass du verschwindest!“

Ich atmete erleichtert auf.

Doch schon am nächsten Abend verging mir mein Triumphgefühl. Pete und ich waren auf dem Heimweg. Da bemerkte ich am Ende der Straße einen Motorradfahrer. Es war Ernie.

„Ob er auf uns wartet?“

„Beachte ihn gar nicht!“, flüsterte Pete mit belegter Stimme. „Und wenn er etwas sagt, gib ihm einfach keine Antwort.“

Wir waren erst ein paar Meter gegangen, als wir hörten, wie Ernie seine Maschine startete. Er brauste dröhnend an uns vorüber, wendete und drosselte dann das Tempo und fuhr langsam, mit schleifendem Fuß, neben uns her. Er wich nicht mehr von unserer Seite.

„Ich halte das nicht aus“, raunte ich Pete zu. „Was hat er bloß vor?“ Ich schaute zu den Sportplätzen der Gemeinschaftsschule hinüber. „Sollen wir nicht eine Abkürzung über das Schulgelände nehmen?“

„Damit Ernie uns über das freie Feld jagen kann? Nie im Leben! Wir bleiben auf der Hauptstraße. Hier sind zu viele Leute. Er wird es nicht wagen, uns etwas zu tun.“

Als Pete und ich am anderen Morgen aus der Haustür kamen und zum Reitstall gehen wollten, wartete Ernie schon auf uns. Er saß ein Stückchen weiter die Straße hinauf auf seinem Motorrad. Kaum hatten wir das Gartentor hinter uns geschlossen, kam er heran und zockelte wie am Vortag langsam neben uns her. So ging es den ganzen Weg bis zum Reitstall. Mir schlug das Herz bis zum Halse.

Dieser Nervenkrieg dauerte die ganze Woche an. Wir sprachen mit niemandem darüber. Wahrscheinlich hätten unsere Eltern oder Sergeant Sam uns verboten, weiter zum Reitstall zu gehen. Ernie war ein gefährlicher Bursche. Das wussten wir. Und wir hatten beide Angst.

Am Samstag endlich sah es so aus, als ob Ernie aufgegeben hätte. Als wir an diesem Morgen das Haus verließen, konnten wir ihn nirgendwo entdecken. Auch auf der Hauptstraße war von ihm und seinem Motorrad keine Spur zu sehen. Als wir in Stableways ankamen, atmete Pete vor Erleichterung auf.

„Siehst du, Pippa! Er hat eingesehen, dass wir uns keine Angst machen lassen. Jetzt lässt er uns in Ruhe. Nun können wir nur hoffen, dass ihm etwas Besseres einfällt, um sich die Zeit zu vertreiben.“

Sergeant Sam erwartete uns an der Tür zum Sattelraum.

„Ich habe gerade einen Anruf bekommen. Heute Morgen haben sich noch drei zusätzliche Schüler zum Ausritt angesagt. Könnt ihr bitte zur Koppel hinter der Fernstraße gehen und Briony, Galahad und Cinders auf den Hof bringen?“

Emma hatte Sergeant Sams Worte gehört. Sie stand bereits gestiefelt und gespornt in ihrer Reithose und Reitkappe an der Stalltür und konnte es wohl kaum noch erwarten, endlich in den Sattel zu klettern.

„O bitte, kann ich auch mitgehen? Es sind doch drei Ponys.“

„Einverstanden.“ Jennys Großvater nickte. „Du kannst Cinders führen. Sie ist ein sehr kleines Pony. Aber nehmt Zaumzeug mit. Dann habt ihr die Tiere besser unter Kontrolle, wenn ihr sie durch die Unterführung bringt.“

Auf der Koppel angekommen, zäumte Pete den braunen Galahad auf. Ich kümmerte mich um den Blauschimmel Briony, und Emma streifte Cinders das Halfter über.

Kaum einen Meter hoch war die kleine Cinders, ein Pony zum Verlieben. Ihre helle Nase war samtig weich, und auf ihrer braunen Stirn schimmerte eine weiße Blesse. Wohl genährt von saftigem Frühlingsgras stand sie rund und stämmig auf ihren kurzen Beinen, und Emma fuhr ihr zärtlich durch die zottige schwarze Mähne. Sie mochte die kleine Stute auf Anhieb.

Ich warf noch einen prüfenden Blick auf Cinders Zaumzeug, um zu sehen, ob Emma den Kehlriemen nicht zu fest geschnallt hatte. Dann waren wir fertig.

„Bitte, hilf mir auf ihren Rücken!“, bettelte Emma. „Ich möchte Cinders zurück reiten.“

„Nein, das geht nicht. Sergeant Sam hat ausdrücklich gesagt, dass wir die Ponys führen sollen.“

„Das stimmt, Emma“, mischte Pete sich ein. „Außerdem müssen wir an der Fernstraße vorüber. Niemand, der auch nur ein bisschen Verstand hat, reitet da ohne Sattel.“

„Ach was“, maulte Emma. „Was soll denn schon passieren? Wir gehen doch durch die Unterführung.“

„Schon, aber bis wir bei der Unterführung sind, müssen wir ein kurzes Stück an der Fahrbahn entlang, da müssen wir besonders vorsichtig sein.“

Statt einer Antwort kletterte Emma blitzschnell auf Cinders Rücken, drückte die Hacken in ihre rundlichen Flanken und machte sich im Galopp über die Koppel davon.

Nun waren auch Galahad und Briony kaum noch zu halten. Pete und ich hatten unsere liebe Not. Erstens waren die beiden ein gutes Stück größer als Cinders, zudem waren sie frisch und ausgeruht. Sie drehten sich aufgeregt im Kreis. Wir verloren wertvolle Minuten, bis wir sie endlich soweit beruhigt hatten, dass wir auf ihre Rücken klettern konnten.

Emma hatte inzwischen schon das andere Ende der Koppel erreicht.

Sie beugte sich vor und öffnete das Gatter, das auf die Fernstraße führte.

„Warte, Emma! Halt an!“

Die Kleine winkte uns vergnügt zu.

„Wir treffen uns im Reitstall. Das Tor lasse ich offen!“

„Emma!“, schrie ich aus vollem Halse. „Reite nicht auf die Straße! Steig ab!“

Doch das Mädchen war nicht in der Stimmung, auf unsere Warnung zu hören.

Während Pete und ich uns bemühten, sie einzuholen, lenkte sie ihr Pony auf den Grünstreifen, der die belebte Fernstraße von dem Radweg trennte, und hielt in zügigem Tempo auf die Unterführung zu.

Vielleicht wäre alles gut gegangen – doch dann tauchte plötzlich Ernie auf.

Mein Bruder und ich hatten ihn an diesem Morgen nirgendwo entdecken können, aber nun war mir klar, dass er sich doch heimlich in der Nähe des Reitstalls aufgehalten hatte. Er hatte nur auf eine Gelegenheit gewartet, neues Unheil anzurichten.

Ernie war nicht allein. Heute, am Samstag, hatte er ein paar Freunde in Lederjacken mitgebracht. Sie starteten ihre Motorräder und folgten Emma über den Radweg.

Und kaum, dass sie mit dem Mädchen auf gleicher Höhe waren, begannen sie ein Hupkonzert, dass mir die Ohren wehtaten.

Rechts der brausende Straßenverkehr und links die lärmenden Motorräder – das war zu viel für die brave Cinders. Sie wurde nervös und suchte ängstlich nach einem Ausweg.

Doch Ernie hatte noch nicht genug.

Er scherte aus und fuhr mit seinem Motorrad über den Grünstreifen so dicht an die kleine Stute heran, dass er sie beinahe berührte.

Cinders schnaubte. Sie wich der Maschine mit einem entsetzten Satz aus und jagte völlig kopflos mitten in den dichten Verkehr auf der Fernstraße.

Emma klammerte sich verzweifelt an ihrem Hals fest.