„Hoffentlich ist es kein Schädelbruch“, meinte der Arzt besorgt. „Er muss sofort ins Krankenhaus und geröntgt werden.“
Pete öffnete das Gatter, damit die Sanitäter mit der Krankentrage hindurchkonnten. Colonel Lyall ging inzwischen ins Haus ans Telefon, um Colins Vater die schlimme Nachricht mitzuteilen.
In diesem Augenblick bog ein Wagen in den Hof ein. Ich kannte den Mann, der am Steuer saß. Es war Major Rotherham, eine bekannte Persönlichkeit des Pferdesports. Früher war er Mitglied der englischen Nationalmannschaft gewesen und hatte an vielen internationalen Springturnieren teilgenommen. Heute leitete er die Aufsichtskommission des Ponyklubs, war Vorsitzender des Reiterverbands und einer der Präsidenten des Boxheath-Turniers.
Der Major stieg aus dem Wagen und hatte nach einem kurzen Blick die Situation auch schon durchschaut. „Ein Unfall, nicht wahr?“, sagte er und nickte Sergeant Sam und dem Arzt knapp zu. „Kann ich irgendwie behilflich sein?“
„Nein, danke.“ Jennys Großvater schüttelte den Kopf. „Wir haben bereits alles Nötige veranlasst. Einen Augenblick bitte. Ich will nur schnell den Krankenwagen vom Hof dirigieren, dann bin ich sofort zurück.“
Der Arzt setzte sich in sein Auto und folgte dem Krankenwagen. Da standen wir nun und schauten uns mit betretenen Gesichtern an. Was nun? Keiner sagte etwas. Auch Major Rotherham blieb stumm. Er zog nur einen kleinen Block und einen Kugelschreiber aus seiner Tasche und fing zu unserer Überraschung an, sich Notizen zu machen.
„Ah, da sind Sie ja, Mister Harrington!“ Er schaute auf, als Jennys Großvater zurückkehrte. „Ich belästige Sie wirklich nur ungern. Ausgerechnet jetzt, wo Sie ja sicher schon genügend andere Probleme haben. Aber die örtlichen Behörden haben mich beauftragt, mich hier umzusehen.“
„Tatsächlich?“, gab Sergeant Sam steif zur Antwort.
„Ja, leider, Mister Harrington. Es sind Klagen eingegangen. Es heißt, die Sicherheitsvorkehrungen würden auf Stableways in geradezu sträflicher Weise vernachlässigt. Und ich habe nun die Aufgabe, diesen Vorwürfen nachzugehen.“
Major Rotherhams Worte trafen Jennys Großvater wie ein Schlag. Einen Augenblick lang sagte er gar nichts, doch sein Gesicht verwandelte sich in eine starre Maske. Auch wir anderen schauten uns betroffen an.
„Also gut“, sagte Sergeant Sam schließlich. „Ich nehme an, Sie wollen zunächst einmal wissen, wie dieser Unfall passieren konnte.“ Und er erklärte kurz, wie Colin sein Gleichgewicht verloren hatte und aus dem Sattel gestürzt war.
„Es war nicht Sultans Schuld!“ Jenny war eilig bemüht, ihren Hengst zu verteidigen. „So, wie Colin ihn geritten hat, konnte er gar nicht anders.“
Major Rotherham hörte mit unbeweglichem Gesicht zu.
„Nun, ich denke, ich schaue mir den Hengst einmal an.“
Wir alle hielten den Atem an. Der Major sprach ein paar freundliche Worte mit dem Araber, untersuchte sein Maul und ließ dann behutsam seine Hände an Sultans Beinen herabgleiten. Mit einem prüfenden Blick musterte er die Unterseite seiner Hufe.
Auch den Zaum sah er sich genau an.
„Würden Sie bitte den Sattel abnehmen?“
Sergeant Sam bückte sich, und während Benny den Hengst am Kopf hielt, hob er das eine Sattelblatt an und löste den Sattelgurt.
„War es denn das Sattelzeug, das beanstandet wurde, Major Rotherham?“, wollte Jennys Großvater wissen.
Der Major kontrollierte zunächst einmal sorgfältig den Sattelgurt und die Steigbügel. Dann schüttelte er den Kopf.
„Nein, es wurden keine konkreten Beispiele genannt. Es war eigentlich eine ganz allgemeine Beschwerde. Angeblich soll nicht ausreichend für die Sicherheit ihrer Schüler gesorgt sein. Das sagte ich ja schon. Und dann war da noch die Rede von Ihren Mitarbeitern. Sie sollen viel zu jung und unerfahren sein.“
Ich biss mir auf die Lippen.
Nun sollten wir also die Sündenböcke sein! Nein, das war wirklich nicht gerecht. Wir hatten uns immer bemüht, unser Bestes zu geben. Außerdem hatten Jenny und ihr Großvater alle unsere Arbeiten in den Ställen beaufsichtigt und stets genau kontrolliert, ob wir auch alles richtig gemacht hatten. Die beiden durften diesen Vorwurf nicht auf sich sitzen lassen.
Nein, es war ein anderer, der die Schuld für all das Missgeschick auf Stableways trug und jetzt eigentlich Rede und Antwort stehen müsste: Ernie Topsall!
Aber ich wusste genau, wenn ich jetzt seinen Namen nannte, würde ich alles nur noch schlimmer machen.
Wahrscheinlich hatte Sergeant Sam genau das Gleiche gedacht wie ich. Er streifte uns mit einem warnenden Blick, und wir sahen ein, dass es besser war, zu schweigen.
„Vor ein paar Tagen musste ich meinen Stallburschen entlassen“, erklärte er Major Rotherham. „Aber obwohl uns jetzt ein Mann fehlt, reitet keiner meiner Schüler ohne Begleitung aus, alles wird nach wie vor ordnungsgemäß überwacht. Das kann ich Ihnen versichern.“
Ian nickte. Er war der Älteste von uns. Sicher konnte es nicht schaden, wenn er Sergeant Sam in diesem Punkt unterstützte.
„Wenn es um Sicherheit geht, gibt es bei Mister Harrington keine Ausnahme. Das ist sein Steckenpferd.“
„Trotzdem hatten Sie in den letzten zwei Wochen zwei schwere Unfälle.“ Major Rotherham wies unmissverständlich zu Jennys Armschlinge hinüber. „Die junge Dame dort ist auch verletzt. Wie erklären Sie sich das alles?“
„Jenny ist aus dem Sattel gestürzt, weil jemand den Riemen ihres Steigbügels zerschnitten hatte“, sagte Pete.
Der Major hob verblüfft die Augenbrauen.
„Tatsächlich?“ Er musterte meinen Zwillingsbruder ungläubig. „Bist du sicher, dass das Leder absichtlich zerschnitten wurde? Es könnte doch ebenso gut alt und brüchig gewesen sein? Leder verschleißt sehr schnell, wenn es nicht sorgfältig gepflegt wird.“
Sergeant Sam schüttelte entschieden den Kopf.
„Meine Helfer überprüfen ihr Sattelzeug jeden Abend. Das ganze Leder wird geputzt und blank gerieben, bevor wir es wegräumen. Zweimal in der Woche werden alle Sättel und das komplette Zaumzeug von Grund auf gereinigt, und ich kontrolliere jedes einzelne Stück.“
„Wenn das so ist, haben Sie sicher nichts dagegen, wenn ich mich selbst einmal in Ihrer Sattelkammer umsehe.“
Ian, Pete und ich nahmen die Zäume von ihren Haken. Major Rotherham schaute sich jeden einzelnen genau an. Er musterte die Riemen und Trensen und schien zufrieden zu sein. Nun kamen wir zu Clouds Zaum, den ich am Abend zuvor noch selbst sauber gemacht hatte.
Ich wusste genau, dass ich jeden Riemen und jede Schnalle noch einmal sorgfältig überprüft hatte, bevor ich den Zaum aufgehängt hatte. Doch nun sah ich, wie der Major stutzte. Nachdenklich ließ er seine Finger über das Backenstück gleiten und zerrte ein wenig an der Schlaufe, in die das Gebiss eingehängt wird. Dann kratzte er mit den Fingernägeln über die Naht, die das Leder zusammenhielt. Ich riss entsetzt die Augen auf. Die Schlaufe löste sich.
„Der Zwirn ist ganz durchgescheuert“, murmelte er kopfschüttelnd. „Das sind die Dinge, die nachher einen Unfall verursachen. Die Schlaufe löst sich, das Gebiss rutscht aus dem Maul des Ponys, und der Reiter verliert die Kontrolle über sein Tier. Wie oft bringen Sie das Zaumzeug zum Sattler?“
„Dieser Zaum ist erst vor drei Monaten genäht worden.“ Sergeant Sam beugte sich ungläubig über das Leder. Dann schaute er mich vorwurfsvoll an. „Das hätte dir doch auffallen müssen, Pippa! Warum hast du den Zaum einfach weggehängt und nichts gesagt?“
„Gestern Abend war doch noch alles in Ordnung!“ Unglücklich schaute ich zu dem Major auf. „Sind Sie ganz sicher, dass die Naht nicht mit einer Schere aufgetrennt wurde?“
„Das werden wir wohl nie mit Sicherheit herausfinden.“ Major Rotherham zuckte mit den Schultern. „Früher wurde eben überall mit mehr Sorgfalt gearbeitet. Aber heute? Die Leute sind nachlässig und gleichgültig geworden. Es ist gut möglich, dass der Sattler alten Zwirn verwendet hat. Aber auch mit dieser Möglichkeit muss ein gewissenhafter Pferdebesitzer rechnen.“
Er drehte sich ohne ein weiteres Wort um und ging zu den Sätteln.
Er untersuchte jeden einzelnen mit strengem Blick, sah sich die Steigbügel und Sattelgurte an und drehte jeden Sattel auch noch um, um die Unterseite zu kontrollieren.
Mir klopfte das Herz bis zum Hals, als er an Clouds Sattel kam. Ich wusste ganz genau, dass der Zaum der grauen Stute tadellos in Ordnung gewesen war, als ich ihn gestern Abend an seinen Haken gehängt hatte. Ein Unbekannter hatte die Naht voller Absicht mit der Schere aufgetrennt. Davon ließ ich mich nicht abbringen. Wer auch immer diesen bösen Streich gespielt hatte – er hatte genau gewusst, dass heute auf Stableways eine Kontrolle stattfinden würde.
Welche Gemeinheit hatte er sich für Clouds Sattel ausgedacht?
Major Rotherham drehte den Sattel herum. Die Unterseite war schmierig und voller Pferdehaare.
Das Leder sah aus, als wäre es mindestens seit einem Monat nicht mehr geputzt worden! Dabei hatte ich den ganzen Sattel gründlich abgebürstet, bevor ich ihn auf seinen Bock gelegt hatte. Genau wie immer!
„Ich glaube das einfach nicht!“ Meine Wangen glühten. „Dieser Sattel war tadellos sauber, als ich ihn gestern Abend weggeräumt habe.“
Ich hatte das Gefühl, als ob mich alle ungläubig ansahen. Es war schrecklich. Sogar in Petes Augen konnte ich Zweifel entdecken.