Als es Mittag wurde, hatten wir Rags noch immer nicht gefunden.
Emma weinte, als sie ins Haus ging, um mit ihrem Großvater zu Mittag zu essen.
Pete und ich hatten ein Picknick von zu Hause mitgebracht und wollten es uns in der Sattelkammer gemütlich machen. Wir teilten gerade die Pasteten, die Äpfel und die Chips, die unsere Mutter so liebevoll eingepackt hatte, als mein Blick auf ein Stück Papier fiel, das unter einem Steigbügel lag.
Pete schaute mir über die Schulter, als ich den Zettel las.
Wer diesen Brief auch immer findet, er soll eines wissen: Wenn Emma ihren Hund wiedersehen will, soll sie den Colonel dazu überreden, Stableways an Mr. Blackmoor zu verkaufen.
„Wer schreibt denn solch einen Blödsinn?“ Ich begriff kein einziges Wort.
„Wer? Der gleiche Spinner, der auch dir den anonymen Brief geschrieben hat. Es war nicht Ernie, sondern Colin. Diesmal hat sich dieser Dummkopf nicht einmal die Mühe gemacht, seine Schrift zu verstellen.“
„Stimmt, Colin ist vor ein paar Tagen aus dem Krankenhaus entlassen worden. Sultans Tritt vor den Kopf hat anscheinend seinen Verstand ein bisschen durcheinander gebracht. Wie kann er denn nur so einen Schwachsinn schreiben? Jetzt hat er sich verraten. Und nun verstehe ich auch die Zusammenhänge. Jedermann weiß, dass sein Vater ganz versessen auf dieses Land ist. Es ist ihm egal, was es kostet. Immerhin sind es hundertzwanzig Hektar Bauland. Es ist das einzige Gelände in der Nähe von Dormhill, das noch nicht zugebaut ist. Für einen geschäftstüchtigen Bauunternehmer ist Stableways ein Vermögen wert.“
„Verflixt!“ Pete hätte sich beinahe an seiner Pastete verschluckt. „Da ist mir gerade etwas eingefallen. Ich würde mich nicht wundern, wenn Colin so gemein wäre und dem kleinen Hund etwas antun würde.“ Er lief auf den Hof hinaus. „Komm schnell, Pippa! Wir dürfen keine Zeit verlieren.“
Ich ließ unser Picknick, wo es war, und folgte Pete.
„Was hast du vor?“
„Ich will mir diesen hinterhältigen Burschen einmal tüchtig vornehmen!“, stieß mein Bruder grimmig hervor.
Zwanzig Minuten später standen wir atemlos vor der Auffahrt, die zu der großen viktorianischen Villa der Blackmoors führte.
„Und nun?“, fragte ich. „Sollen wir einfach hingehen und an der Tür klingeln?“
„Nein, wir sehen uns erst einmal ein bisschen um. Vielleicht finden wir Rags.“ Pete schaute zu den Nebengebäuden hinter einer Rhododendron-Hecke hinüber, die bereits jetzt in Blüte stand. „Wo könnte Colin den kleinen Kerl versteckt haben? Vielleicht in den alten Stallungen oder im Wagenschuppen?“
Niemand im Haus durfte uns entdecken. Geduckt huschten wir an den Goldlackbeeten entlang. Wir atmeten erst wieder auf, als wir uns im Schutz eines Strauchs verstecken konnten. Dann krochen wir weiter zur Rückseite der ehemaligen Stallungen.
„Psst!“ Ich griff nach Petes Arm. „Ich höre einen Hund fiepen.“
Das leise Jaulen kam von einem der Nebengebäude.
Wir vergewisserten uns, dass uns niemand sehen konnte, und auf Zehenspitzen schlichen wir um das alte Stallgebäude und schauten durch das Fenster des Wagenschuppens. Feine Staubteilchen tanzten in einem Sonnenstrahl, der genau auf den geschwungenen Kühler eines alten Bentleys traf. Es war einer dieser wertvollen Autoveteranen. Er schien den ganzen Raum einzunehmen. Die hinteren Ecken des Schuppens lagen im Dunkeln, man konnte kaum etwas erkennen. Doch! Das leise Fiepen setzte wieder ein, und ich war sicher, eine Hundepfote gesehen zu haben, die sich bewegte.
„Rags? Du brauchst keine Angst zu haben. Wir sind es, Pete und ich!“, flüsterte ich durch die Tür.
Leise öffneten wir einen Flügel der schweren Doppeltür. Da kam knurrend ein weiß-brauner Hund auf uns zu. Er war viel größer als Rags, und seine Begrüßung fiel alles andere als freundlich aus. Er zog angriffslustig die Lefzen hoch und war bereit, uns im nächsten Augenblick anzuspringen.
Das war nicht Rags! Trotz des Dämmerlichts konnten wir das sofort erkennen.
Es war eine Spanielhündin, und aus der Ecke hinter ihr hörten wir aufgeregtes Fiepen und Jaulen. Dort lagen in einem Korb ihre Jungen und suchten ängstlich nach der schützenden Wärme der Mutter.
„Ruhig, altes Mädchen! Keiner will dir etwas tun!“
Pete trat vorsorglich einen Schritt zurück, aber die Hündin kam näher. Aus ihrer Kehle löste sich ein drohendes Knurren, sie zeigte die Zähne, gleich würde sie zuschnappen. Rasch wandte ich mich zur Tür.
Da fiel der schwere Flügel mit einem dumpfen Schlag hinter mir zu. Ein Riegel wurde vorgeschoben. Wir hörten, wie ein Vorhängeschloss zuschnappte.
„Diesmal habe ich euch erwischt!“ Das war Colin Blackmoors triumphierende Stimme. „So etwas nennt man Einbruch! Mal sehen, was die Polizei dazu sagt.“
„Du kannst nicht ganz richtig im Kopf sein“, gab Pete zurück und hielt sich die erboste Hündin vom Leib. „Kein Mensch wird dir diese Geschichte abnehmen. Es scheint, dass dir der Schlag gegen die Stirn nicht bekommen ist.“
„Nur ein ausgemachter Schwachkopf konnte so einen dummen Brief schreiben!“, rief ich durch die Tür. „Wen wolltest du eigentlich damit hereinlegen?“
„Euch beide zum Beispiel!“ Wir hörten Colin hämisch lachen. „Ihr seid doch geradewegs in die Falle gelaufen, oder?“
„Jetzt habe ich genug von deinen albernen Spielchen!“ Pete rüttelte an der Tür. „Lass uns hier raus, bevor eure Hündin über uns herfällt!“
„Du machst die Sache nur noch schlimmer für dich. Wo ist Rags?“
„Hier jedenfalls nicht. Aber ihr seid ja ganz besonders gescheit. Also, strengt euren Kopf ein bisschen an und versucht es herauszufinden. Zeit genug habt ihr ja. Ihr bleibt nämlich da drinnen, bis mein Vater zurückkommt. Er ist in die Stadt gefahren, um einen Diebstahl zu melden. Es hat sich jemand an seiner Sammlung alter Autos zu schaffen gemacht und die Radkappen und die Kühlerfiguren gestohlen. Tja, wenn man euch hier bei dem alten Bentley findet … Wie heißt es doch so schön? Auf frischer Tat ertappt! Also, dann bis später!“
Colins Schritte waren kaum verklungen, als die Spanielhündin uns erneut anknurrte. Ihre Zähne blitzten, als sie auf uns zukam, die Augen funkelten noch drohender als zuvor.
„Schnell, Pippa!“ Pete hob mich auf den Kühler des alten Bentleys. „Klettere auf das Dach!“
Ich hatte keine Zeit, mir lange Gedanken um den blitzenden Lack zu machen. Es war uns auch gleichgültig, ob das altmodische Segeltuchverdeck unser Gewicht aushalten würde. Irgendwie mussten wir uns vor den Zähnen dieser aufgebrachten Hündin in Sicherheit bringen.
Als wir Seite an Seite auf dem Autodach knieten, bemerkte ich im Halbdunkel über mir einen schwachen Lichtschimmer.
„Sieh mal, Pete! Da oben muss eine Falltüre sein.“
Anscheinend war die Tür seit Jahren nicht mehr geöffnet worden. Sosehr wir auch dagegendrückten, sie rührte sich nicht vom Fleck. Nachdenklich ließ Pete seine Finger über die Ritzen gleiten.
„Irgendetwas hält die Klappe fest“, stöhnte er.
„Vielleicht ist sie zugenagelt worden.“
„Stimmt! Du hast recht!“ Pete entdeckte den Kopf eines rostigen Nagels, der aus dem Holz herausragte. „Aber wie kriegen wir dieses Ding da heraus? Ich hab’s! Du hast mir doch zu Weihnachten dieses tolle Taschenmesser geschenkt. Damit müsste es eigentlich gehen.“
Mir kam es wie eine Ewigkeit vor, bis Pete den rostigen Nagel endlich aus dem Holz gelöst hatte. „Puh!“, seufzte er. „Das war noch nicht alles. Da stecken noch drei Nägel drin.“
Ich hörte, wie die Turmuhr vier schlug.
Es wurde fünf Uhr, bis wir endlich durch die Falltüre auf den Heuboden über den alten Ställen krabbeln konnten. Hastig eilten wir die Treppe in den Sattelraum hinunter, überquerten den Hof und konnten uns gerade noch hinter den Rhododendron-Büschen verstecken, als Colins Vater in seinem Auto die Auffahrt hinaufkam.
Mister Blackmoor saß am Steuer. Neben ihm entdeckten wir den Polizeiinspektor von Dormhill. Er trug seine Uniform. Offensichtlich war er im Dienst.
„Und jetzt?“ Ich sah Pete ratlos an. „Wenn wir weglaufen, machen wir uns nur verdächtig. Was sollen wir bloß tun?“