„Immer mit der Ruhe, Pippa! Wahrscheinlich ist der Polizeiinspektor gar nicht unseretwegen hier. Vielleicht hat Mister Blackmoor ihn hergebracht, damit er sich an Ort und Stelle über den Diebstahl an den alten Autos informiert.“

„Das ist gut möglich. Also, worauf warten wir noch? Wir wollten Rags suchen. Emma wird kein Auge zumachen, wenn ihr Hund nicht bis zum Schlafengehen wieder aufgetaucht ist.“

„Einverstanden.“ Pete zwängte sich durch das Gebüsch, bis wir wieder auf der Landstraße standen. „Colin ist doch gerissener, als ich dachte. Er hat Rags bestimmt nicht bei sich zu Hause versteckt.“

„Aber wo sonst?“ Ich war ratlos.

„Vielleicht hat er ihn zu Ernie gebracht. Komm, wir versuchen es dort.“

Als wir uns dem kleinen Reihenhaus näherten, sahen wir ein Motorrad, das an der Hauswand lehnte.

„Ernie ist zu Hause!“ Mein Bruder biss sich auf die Lippen. „Ich hatte schon gehofft, wir könnten einfach klingeln und Ernies Mutter nach dem kleinen Terrier fragen. Aber das können wir jetzt natürlich nicht riskieren.“

Wir schauten uns ratlos um. Ein Stückchen weiter die Straße hinunter entdeckten wir einen Eingang.

„Los, Pippa, wir schleichen uns von hinten an das Haus heran!“

Lautlos schlüpften wir durch den Hinterhof. Wir duckten uns hinter die Mülltonnen, bis wir die Rückseite des Hauses erreicht hatten.

In der Garage hörten wir einen Hund bellen. Das war Rags! Laut kläffend und jaulend protestierte er gegen seine Gefangenschaft.

Ich musste lachen.

„Eigentlich müsste der kleine Kerl längst heiser sein! Bei dem Lärm, den er veranstaltet. Aber wie holen wir ihn da heraus?“

Pete versuchte, das Garagentor zu öffnen. Aber es ging nicht. Der Riegel klemmte.

„Mit Gewalt hat das auch keinen Zweck.“ Pete behielt einen klaren Kopf. „Ich habe keine Lust, heute noch einmal in eine Falle zu geraten. Dann heißt es wieder, wir hätten versucht einzubrechen. Zumindest haben wir Ernie und den Hund aufgespürt. Wenn wir Sergeant Sam und den Colonel benachrichtigen, haben wir ihn auf frischer Tat ertappt. Dann kann er sich nicht mehr herausreden. Los, Pippa, ich bleibe hier und passe auf, du läufst zur nächsten Telefonzelle!“

Am Ende der Straße hatte ich eine Telefonzelle gesehen. Aber die Scheiben waren eingeschlagen, jemand hatte das Telefonkabel zerschnitten. Die beiden Enden baumelten lose von dem Apparat herunter.

Also weiter!

Ich fragte eine Frau, wo ich die nächste Telefonzelle finden konnte. Sie schickte mich zu einem Postamt ein paar Straßen weiter. Vor dem Eingang sah ich auch gleich zwei Telefonhäuschen stehen, aber das eine war auch zerstört. Bei dem anderen hatte ich endlich Glück. Mit zitternden Fingern wählte ich Sergeant Sams Nummer. Aber niemand meldete sich. Vielleicht war der Anschluss gestört. Mir blieb nichts anderes übrig, als Colonel Lyall anzurufen.

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich ihn endlich davon überzeugt hatte, dass Ernie Emmas Hund in seiner Garage gefangen hielt. Als ich mich endlich völlig außer Atem wieder auf den Rückweg machte, war beinahe eine halbe Stunde vergangen.

Als ich in die Straße einbog, in der Ernie wohnte, fiel mir sofort auf, dass sein Motorrad verschwunden war. Ich rannte durch den Seiteneingang und suchte meinen Bruder.

„Ja, ich habe auch gehört, wie er die Maschine anließ“, bestätigte Pete. „Wahrscheinlich hat Ernie heute Abend noch etwas vor. Aber Rags ist noch da, und Ernies Mutter ist auch im Haus. Vor ein paar Minuten habe ich sie gesehen, wie sie Wäsche im Hof aufhängte.“

„Dann gehe ich zurück auf die Straße und warte, bis Sergeant Sam und der Colonel kommen.“

Ich fühlte mich gar nicht wohl in meiner Haut, als ich dort an der Hauswand lehnte und auf Jennys Großvater wartete. Ich zählte die Minuten, denn es schien unendlich lange zu dauern, bis endlich der Wagen des Colonels am Ende der Straße auftauchte. Als er näher kam, sah ich Emma vorne neben ihrem Großvater sitzen. Auf dem Rücksitz entdeckte ich Sergeant Sam. Aber er war nicht allein. Ein Polizeibeamter saß neben ihm.

Die Männer brauchten nicht lange, bis sie Ernies Mutter, die völlig überrascht war, die ganze Geschichte erklärt hatten und Emma mit ihrem geliebten Rags ein stürmisches Wiedersehen feiern konnte.

„Wo ist Ihr Sohn denn jetzt?“, wollte der Wachtmeister von der verwirrten Frau wissen.

„Ich weiß es nicht genau.“ Ernies Mutter schüttelte hilflos den Kopf. „Er hat mir nur gesagt, dass er zur Fernstraße wollte, um seine Freunde zu treffen. Dieser Junge bringt mich noch ins Grab. Das nimmt kein gutes Ende mit ihm! Seit sein Vater sich mit diesem Barmädchen aus den ,Drei Kronen‘ aus dem Staub gemacht hat, habe ich nichts als Ärger mit ihm. Ich hatte schon gehofft, es würde besser werden, solange er Arbeit in dem Reitstall hatte. Aber seit man ihn entlassen hat, ist alles nur noch schlimmer geworden. Er treibt sich nur noch herum, in den Diskotheken, bei den Hunderennen und in den Kneipen. Abend für Abend!“ Sie seufzte. „Weiß der Himmel, woher er das Geld dafür nimmt.“

Der Polizeibeamte holte sein Sprechfunkgerät aus der Tasche und gab eine Nachricht an seine Einsatzzentrale durch. Alle Streifenwagen sollten nach Ernie und seinem Motorrad Ausschau halten.

Wir waren fest davon überzeugt, dass die Polizei Ernie nun endlich festgenommen hatte.

Welch ein Irrtum!

Als wir am anderen Morgen in den Reitstall kamen, um bei den letzten Vorbereitungen für das Boxheath-Turnier zu helfen, schüttelte Jenny den Kopf. Seit gestern Abend waren Ernie und Colin verschwunden. Die Polizei hatte angerufen, und Sergeant Sam und der Colonel hatten versprochen, sofort eine Nachricht durchzugeben, falls die beiden in der Nähe von Stableways auftauchten.

„Seltsam!“, wunderte ich mich. „Ich verstehe nicht, warum auch Colin verschwunden ist. Ob die beiden sich zusammen aus dem Staub gemacht haben? Aber warum?“

„Lass nur, Pippa! Wir haben uns schon genug den Kopf über dieses üble Gespann zerbrochen. Das ist nur Zeitverschwendung.“ Jenny winkte Ian zu, der gerade auf den Hof kam. „Du kommst wie gerufen, Ian. Jede Hilfe ist willkommen! Es gibt schon wieder Ärger. Ein paar Idioten haben ein Loch in die Hecke zur Fernstraße gerissen. Großvater muss den Schaden beheben, bevor die Ponys hindurchschlüpfen und auf die Fahrbahn geraten. Wir können inzwischen Sultan scheren, damit er morgen bei dem Turnier schön blank aussieht.“

„Gut, wird gemacht.“ Ian nickte. „Wenn du ihn nur am Kopf hältst und dafür sorgst, dass er stillhält. Meinst du, du schaffst das mit einer Hand?“ Er wies fragend auf Jennys Armschlinge.

„Ich versuche es. Normalerweise ist Sultan brav wie ein Lamm, wenn er geschoren wird. Es scheint, dass er das gerne hat.“

„Vielleicht ist er eitel und genießt es, wenn er schön gemacht wird.“ Pete grinste.

„Gut, ihr kümmert euch um Sultans Fell, ich bringe inzwischen das Zaumzeug auf Hochglanz.“ Ich wollte auch meinen Teil beitragen.

„Super! Morgen, bei dem Turnier, muss alles tadellos in Ordnung sein. Wenn Emma kommt, kann sie euch helfen. Von den anderen Schülern haben auch ein paar versprochen, noch vorbeizukommen und mitzumachen. Wir können jede Hilfe gebrauchen, wenn wir morgen in Boxheath gut abschneiden wollen.“

Pete und ich gingen zum Sattelraum und machten uns gleich an die Arbeit. Doch nur wenige Augenblicke später hörten wir aus Sultans Box einen entsetzten Schrei.

„Nein!“ Jennys Stimme überschlug sich beinahe. „Das darf doch nicht wahr sein! Ich kann es nicht glauben. Ian, sag mir, dass es nur ein böser Traum ist!“

Wir ließen unsere Putzlappen und die Sattelseife auf den Tisch fallen und rannten nach draußen. Was war passiert? Gott sei Dank, Sultan stand heil und gesund in seiner Box. Die Decke, mit der er in der Nacht zugedeckt wurde, war zurückgeschlagen. Ian und Jenny standen vor ihm und starrten ihn mit nicht besonders intelligenten Gesichtern an.

Und dann bemerkten wir es auch: Sultan war schon geschoren! Wirre Schlangenlinien zogen sich über sein Fell. Sein heller, fuchsroter Winterpelz hob sich in einem grotesken Zebramuster von seiner dunklen Haut ab.

„Das ist Sabotage!“, stieß Pete wütend hervor. „Ich wette, das war der letzte üble Streich, den Colin und Ernie uns gespielt haben, bevor sie sich aus dem Staub machten.“

„Jetzt wissen wir auch, wo die beiden in der letzten Nacht gesteckt haben“, murmelte ich. „Sollen wir die Polizei anrufen?“

„Das mache ich.“ Pete nickte und sah sich kopfschüttelnd das verworrene Muster auf Sultans Fell an. „So, wie der arme Kerl geschoren ist, wird es nicht leicht sein, ihn festzuhalten. Jenny kann ihre eine Hand immer noch nicht benutzen. Du bleibst besser hier, Pippa, und hilfst ihr.“

Jenny stöhnte.

„Sultan muss schreckliche Angst ausgestanden haben. Wir werden allerhand Mühe haben, wenn wir ihm jetzt schon wieder mit dem elektrischen Rasiermesser ans Fell wollen.“

Es war noch schlimmer, als wir befürchtet hatten. Als Ian den Rasierapparat in Gang setzte, fuhr Sultan auf und keilte mit der Hinterhand aus.

„Ruhig, mein Junge!“

Jenny und ich standen rechts und links neben Sultans Kopf. Wir hielten ihn am Halfter fest und redeten beruhigend auf ihn ein. Ian näherte sich vorsichtig. Doch beim Surren des Rasierapparates wurde der Hengst sofort wieder nervös. Er scharrte mit den Hufen und versuchte mit aller Kraft, sich loszureißen. Kaum, dass er das kühle Metall an seiner Flanke spürte, verlor er völlig den Kopf.

Er schnaubte und trat und krümmte sich nach allen Seiten. Sultan tat alles, um dieser schrecklichen Prozedur zu entgehen.

„Das hat keinen Sinn.“ Jenny gab schließlich auf. „Wir müssen Großvater holen. Am Ende wird noch einer von uns verletzt.“

Selbst als Sergeant Sam in die Box kam und das Scheren selbst übernahm, wollte Sultan sich nicht beruhigen. Es war unmöglich, mit dem Apparat auch nur in seine Nähe zu kommen. Jedes Mal, wenn das Rasiermesser surrend in Gang gesetzt wurde, reagierte Sultan mit panischer Angst. Und es wurde von Mal zu Mal schlimmer.

„Wir lassen ihn besser in Ruhe und versuchen es heute Nachmittag noch einmal.“ Jennys Großvater schüttelte den Kopf.

Gerade in diesem Augenblick kam eine schmale Gestalt in einer viel zu großen Jacke über den Hof: Benny!

Der Junge blieb unschlüssig an der Boxentür stehen und schaute Sergeant Sam bittend an.

„Sie haben gesagt, ich dürfte mich hier eine Woche lang nicht sehen lassen. Die Woche ist um, Mister Harrington. Und ich dachte, Sie könnten vielleicht Hilfe brauchen.“

Sergeant Sam stützte seufzend seinen Kopf in die Hände.

„Benny! Das hat mir gerade noch gefehlt!“

„Sei nicht so streng mit ihm, Großvater!“ Jenny sah den schmächtigen Jungen hoffnungsvoll an. „Warum gibst du ihm keine Chance? Keinem von uns ist es gelungen, Sultan zu beruhigen. Vielleicht kann Benny uns mit seinem geheimnisvollen Flüstern helfen?“

Benny war bereitwillig zur Stelle. Er kümmerte sich nicht darum, dass Jennys Großvater zweifelnd den Kopf schüttelte. Vorsichtig tat er einen Schritt vorwärts und klopfte dem Hengst beruhigend auf den Hals.

Wir hielten den Atem an, als der Araber den Kopf wandte und den Jungen mit einem freundlichen Schnauben begrüßte.

Als Antwort blies Benny ihm sanft in die Nüstern. Der kleine Junge verhielt sich geradeso, als sei er selbst ein Pferd, das seinen Stallgefährten ganz nach Pferdeart willkommen hieß.

„Lassen Sie mich einen Moment mit Sultan allein!“ Benny sah Sergeant Sam mit bittenden Augen an. „Er wird mir nichts tun. Bitte, geben Sie mir eine Chance!“

Wortlos schlichen wir uns aus der Box.

Und dann hörten wir es wieder, dieses tiefe Raunen, diesen geheimnisvollen Singsang, mit dem Benny eine geradezu magische Kraft auf den Hengst ausübte.