7

Nina starrte auf das dunkelgraue und circa zwei Zentimeter dicke Buch, und es fiel ihr schwer zu glauben, dass Georgy es vor Kurzem noch in Händen gehalten hatte.

Georgys Laborbuch – das zentrale Stück seiner Forschungen, ohne das sich keiner seiner Versuche nachvollziehen ließ. Mit den Fingerspitzen strich sie über den Einband wie über einen kostbaren Schatz. Der Inhalt dieses Buches war in der Lage, Tausenden Menschen das Leben zu retten.

Sie wandte den Blick davon ab und dem robusten Plastikkästchen zu, das Max aus seinem Kühlschrank genommen und aufgeklappt vor ihr auf den Couchtisch gestellt hatte. Es enthielt sechs ungefähr daumenlange Glasröhrchen, die mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt und mit einem Metallsiegel verplombt waren. Im Deckel des Kästchens steckte ein Stück Karton, aus dessen Aufdruck in georgischer Schrift hervorging, dass es sich bei den Ampullen um Apothekenphagen handelte.

Sie schaute zu Max auf. »Apothekenphagen?«

»Ja, da habe ich auch eine Weile drüber nachgedacht. Ich glaube, dass Georgy die Ampullen so deklariert hat, um sie einfacher durch den Zoll zu kriegen.«

»Du denkst auch, dass das hier seine Superphagen sind, oder?«

»Du weißt davon?«

»Er hat mir erzählt, dass er für alle zwölf Erreger von der Liste der Dirty Dozen einen Phagenstammcocktail gefunden hat. Kurz danach ist er …« Sie hielt inne. Tiefes, betretenes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Nina nahm eine der Ampullen und betrachtete sie. »Er hat geglaubt, dass sie in Gefahr sind.« Mittlerweile war sie ziemlich sicher, dass genau das der Grund für Georgys Anspannung gewesen war. Warum zur Hölle hatte er das für sich behalten? Bilder taumelten durch ihren Geist. Sie und Maren. Georgy. All das Blut. Dann die Flucht vor der Bombe. Die Explosion, die alles vernichtet hatte, wofür Georgy sein ganzes Leben lang gekämpft hatte. Sie blinzelte gegen die Tränen an und versuchte, die zehnstellige Buchstaben-Nummern-Kombination zu entziffern, die Georgy mit wasserfestem Stift auf die Rückseite der Ampulle geschrieben hatte. Mit der anderen Hand nahm sie ein weiteres Röhrchen aus dem Kästchen. Auch dieses war ähnlich beschriftet.

»Wieso hat er ausgerechnet dir das geschickt?«, flüsterte sie.

Max wirkte ein bisschen gekränkt, aber er zuckte mit den Schultern. »Das habe ich mich auch gefragt. Ich vermute, weil er seine Forschung und die Phagen der gesamten Menschheit zur Verfügung stellen wollte. Er hat oft darüber gesprochen, dass sie perfekt für den Einsatz in Entwicklungsländern sind, in denen das Geld für teurere Antibiotika fehlt.« Er reichte Nina einen Brief, den er die ganze Zeit in der Hand gehabt hatte. »Der lag bei der Sendung dabei.«

Sie steckte die beiden Ampullen zurück, faltete mit einem mulmigen Gefühl den Brief auseinander, und tatsächlich: Beim Anblick von Georgys Schrift fingen ihre Hände an zu zittern. Zweimal musste sie energisch blinzeln, bevor sie die wenigen, in englischer Sprache verfassten Zeilen entziffern konnte:

Lieber Max,

ich habe nicht viel Zeit, dir ausführlich zu schreiben. Beiliegend sende ich dir die eine Hälfte meines wertvollsten Besitzes. Die zweite schicke ich dir zur Sicherheit mit separater Post. Du wirst dich vermutlich fragen, warum ich das tue. Nur so viel: Ich glaube, mein Wissen ist hier nicht mehr sicher. Du bist der Einzige, der in der Lage ist, mein Vermächtnis in meinem Sinne zu verwalten. Ich weiß, es ist nicht nötig, aber trotzdem erinnere ich dich noch einmal daran, was wir besprochen haben: Die zwölf müssen der Menschheit zugutekommen! Ich weiß, dass du alles in deiner Macht Stehende tun wirst, um das zu bewerkstelligen.

Georgy.

Mit schwerem Herzen sah Nina hoch, und es war, als stünde ihr Ziehvater hinter ihr. Für eine Sekunde lang wurde die Trauer zu einem dicken, eisigen Knoten in ihrer Brust. Ihre Augen liefen über, und sie wischte sich über die Wangen. »Ach, Georgy …«, flüsterte sie.

Um ihr einen Moment zu geben, nahm Max seinerseits zwei der Ampullen aus dem Kästchen und tat, als betrachte er sie.

Nina schniefte. Dann lächelte sie verlegen. »Tut mir leid!« Sie nestelte ein Taschentuch aus der Tasche, wischte sich die Augen trocken und putzte sich die Nase.

Tom sah zu, wie die beiden schwarzgekleideten Männer klingelten und dann warteten, bis der Türsummer betätigt wurde. Gleich darauf waren sie im Hausflur verschwunden. Toms Blick zuckte zu dem Transporter. Ein dritter Mann saß auf dem Beifahrersitz. Er hatte eine Glatze und auf den Knien ein Tablet, in dessen Anblick er vertieft war.

Tom kalkulierte seine Optionen.

Die beiden Typen hatten sich bewegt wie Soldaten, das waren erfahrene Kämpfer. Wollten sie zu Seifert?

Tom warf einen letzten Blick auf den Kerl im Transporter, dann fasste er einen Entschluss. Er schlug einen Bogen um den Mülltonnenverschlag des Nachbarhauses. Gleich darauf stand er vor Seiferts Haustür, die kurz zuvor hinter den beiden Kerlen ins Schloss gefallen war. Durch das geriffelte Glas glaubte er zu sehen, wie die beiden drinnen im Flur Masken über ihre Köpfe zogen.

Verdammt, was jetzt? Tom starrte auf das Klingelbrett.

Während Max ins Treppenhaus hinaustrat, um nachzusehen, wem er soeben die Haustür geöffnet hatte, nahm Nina das Laborjournal zur Hand und schlug es auf. Sie hatte gerade die erste Seite überflogen, als Max’ Stimme ertönte.

»Was kann ich für Sie …?« Er verstummte. Eine Sekunde verstrich. Dann ein Scheppern, das Nina einen Schauder den Rücken hinunterjagte. Eine Metallschüssel auf der Garderobe, in der Max seine Schlüssel aufbewahrte, war zu Boden gefallen. Gleichzeitig rief Max empört: »He!«

Erschrocken sprang Nina auf.

Sie hörte, wie Max zu Boden ging, dann erklang ein Geräusch, als würde Glas zertreten. Die Ampullen! Hatte er sie etwa noch in der Hand gehabt?

Sie warf einen Blick in den Flur. Ein hünenhafter, ganz in Schwarz gekleideter und maskierter Mann. War das eine Waffe in seiner Hand? Ninas Verstand weigerte sich, diese Frage zu beantworten. Fassungslos starrte sie in die Mündung, während ein zweiter, kleinerer und ebenfalls maskierter Mann Max grob am Arm packte und wieder auf die Füße zerrte.

»Was soll das …?«, beschwerte er sich.

»Schnauze halten!«, bellte der zweite Maskierte, und Nina brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er es auf Russisch sagte. Max verstand ihn nicht, aber die Geste des Typen war unmissverständlich. Benommen starrte sie auf die Stelle auf dem Parkett, wo die beiden Ampullen gelandet waren. Nichts war davon übrig außer einem feuchten Fleck und einer Menge glitzernder Scherben. Instinktiv drückte Nina das Laborjournal fest vor die Brust. Der kleinere der beiden Maskierten betrat das Büro und richtete die Mündung seiner Waffe auf Ninas Stirn.

Ihre Knie wollten nachgeben, und gleichzeitig kam es ihr vor, als passiere all das jemand anderem, nicht ihr.

»Her mit dem Buch!«, befahl der kleinere Mann. Er sprach Russisch.

Instinktiv presste sie das Buch noch fester an sich. Wich rückwärts, bis sie mit dem Rücken an der Wand stand. Georgy war für dieses Buch gestorben. War dieser Kerl hier etwa dafür verantwortlich? Aus irgendeinem Grund war sie dessen ganz sicher.

»Hören Sie!«, sagte der Mann. »Ich möchte Ihnen nichts tun, aber wenn Sie mir nicht auf der Stelle das Buch und die Ampullen geben …«, er wedelte mit der Pistole kurz zu dem Tisch, auf dem das Ampullarium lag, »… dann werde ich nicht zögern, auf Sie zu schießen.«

Ninas Blick zuckte zu Max. Panik flackerte in seinen Augen, und gleichzeitig war da eine gewisse Ratlosigkeit in seiner Miene. Klar, schoss es Nina durch den Kopf. Er verstand kein Russisch. Sie spürte, wie ein hysterisches Lachen in ihrer Kehle hochstieg.

»Die Phagen …«, setzte sie zu einer Erklärung an, konnte nicht weitersprechen. Räusperte sich. »Sie wollen die Phagen.«

Max glotzte sie noch immer verständnislos an, dann endlich signalisierte sein Blick, dass er verstanden hatte. In dieser Sekunde geschahen mehrere Dinge gleichzeitig.

Die Nachbarin, bei der Tom klingelte, drückte wie erhofft auf den Summer. »Fahrradkurier, Brief für Dr. Seifert«, rief er die Treppe hinauf. Sie schloss einfach ihre Wohnungstür wieder. Er liebte Berlin!

Mit wenigen langen Sätzen überwand er drei Viertel der Treppe, dann blieb er stehen. Seiferts Wohnungstür war nur angelehnt. Ein Mann redete in schnellem, hartem Stakkato auf Russisch auf jemanden ein, dann erklang Ninas gepresste Stimme, ebenfalls auf Russisch. Er konnte hören, wie sehr sie in Panik war.

Er hatte sich also nicht getäuscht. Die Typen in Schwarz waren in Seiferts Wohnung.

Er packte das Treppengeländer, überwand die letzten Stufen und entschied sich für ein Überrumpelungsmanöver. »Ich bin so ein Trottel«, stieß er hervor. »Ich glaube, ich habe meinen Schlüssel vergessen.« Noch während er sprach, drückte er die Tür auf und betrat die ehemalige Wohnung, als sei er in Eile. Und völlig ahnungslos.

Glas knirschte unter seinen Boots.

Die beiden Männer in Schwarz.

Nina.

Und Seifert.

Einer der Typen, der kleinere, schwenkte verblüfft eine Waffe zu Tom herum. In seiner Wahrnehmung verlangsamte sich die ganze Welt.

Reflexartig stieß Tom seine eigene Rechte vor und erwischte den anderen Bewaffneten, den Hünen, der zusammen mit Seifert noch im Flur stand, irgendwo zwischen den Schulterblättern. Der Mann stolperte gegen Seifert, beide schrien auf. Nina reagierte ähnlich reflexartig wie Tom. Sie schwang das dicke graue Buch herum, das sie sich vor die Brust gepresst hatte, und traf den Lauf der Waffe von dem kleineren Mann. Die Hand des Kerls wurde zur Seite geschleudert, im gleichen Moment krachte Tom in ihn.

Der Schuss klang wie ein Husten. Der Monitor auf Seiferts Schreibtisch ging mit einem satten Knall zu Bruch.

»Raus hier!«, schrie Tom. Er packte Seifert und zerrte ihn mit sich.

Nina brauchte seine Unterstützung nicht. Sie hechtete vorwärts, packte sich ein kleines graues Kästchen, das auf dem Couchtisch gestanden hatte, und zu Toms grenzenloser Verblüffung auch noch ihre Tasche. Trotzdem war sie im Treppenhaus, noch bevor die beiden Angreifer ihre Arme und Beine sortiert hatten.

»Laufen Sie!« Tom stieß auch Seifert in Richtung Treppe.

Hinter ihm ertönte ein harscher Fluch, den er nicht verstand. Seifert war auf dem Treppenabsatz, Tom direkt hinter ihm. Ein weiterer Schuss fiel, gefolgt von einem Schlag an Toms Rippen, wiederum gefolgt von einem Aufschrei Seiferts. Tom sah den Mann straucheln und fürchtete einen schrecklichen Sekundenbruchteil lang, dass er getroffen war. Doch Seifert rappelte sich wieder auf. Tom packte ihn, zerrte ihn weiter. Seine eigene Seite fühlte sich taub an. In Erwartung des nächsten Schusses jagte er Seifert die Stufen hinunter.

Doch es fiel kein weiterer Schuss. Stattdessen erklang eine Salve von schnell hervorgestoßenen russischen Worten.

Tom verstand nur eines.

»Pridurok!«

Idiot!

Nina war schon an der Haustür und kurz davor, sie aufzureißen, als Tom der glatzköpfige Kerl einfiel, der noch im Transporter saß. Er wollte einen Besen fressen, wenn der dritte Mann im Bunde nicht auch bewaffnet war.

»Nicht!«, rief er.

Nina erstarrte.

In Toms Seite begann ein dumpfer Schmerz zu pochen. Er stützte den geschockten Seifert, bevor er mit ihm zusammen zu Nina aufschloss.

Die Wohnungstür im Erdgeschoss öffnete sich, und die alte Frau von eben streckte den Kopf heraus.

»Gehen Sie wieder rein!«, herrschte Tom sie an. Sie gehorchte augenblicklich.

Sein Blick huschte die Treppe hinauf. Wo blieben die Mistkerle? Er konnte sie oben in der Wohnung diskutieren hören, und sein mageres Russisch reichte aus, um zu verstehen, dass es darum ging, ob sie sie verfolgen sollten oder nicht. Immerhin, das verschaffte ihnen Zeit.

»Da draußen ist noch einer«, informierte er Nina, dann wandte er sich an Seifert. »Gibt es einen Hinterausgang?«

Seifert verzichtete auf eine Antwort, stattdessen machte er sich von Tom los und lief voraus, die Kellertreppe hinunter. Tom und Nina wechselten einen Blick, dann folgten sie ihm.

»Die sind sich nicht einig, ob sie uns verfolgen sollen«, erklärte Nina Tom im Laufen.

Er verzichtete darauf, ihr zu sagen, dass er Russisch konnte. Dazu war später auch noch Zeit.

Feuchte Kellerluft schlug ihnen entgegen. Absurderweise roch es hier unten nach Ballistol. Eine Waschmaschine rumpelte vor sich hin, hielt dann inne und schaltete gleich darauf in den Schleudergang. Das Geräusch war ziemlich laut, was ihnen gerade recht kam. Nina stürzte an dem schweratmenden Seifert vorbei zu einer Hintertür. Sie zerrte sie auf, und gleich darauf standen sie auf einem Innenhof, der zur Hälfte asphaltiert und zur Hälfte mit gelblichem Rasen bedeckt war. Auf der Rasenfläche stand eine uralte Teppichstange.

»Da lang!«, rief Seifert und deutete auf einen Durchgang. »Direkt auf der anderen Straßenseite ist eine U-Bahn-Haltestelle.«

Victor hatte mit Entsetzen gesehen, wie Misha der Frau und den beiden Typen hinterhergestürzt war. Und als dieser verdammte Idiot dann auch noch auf die drei geschossen hatte, war er selbst zu ihm gestürzt und hätte ihm die Knarre beinahe aus der Hand geschlagen.

»Spinnst du?«, zischte er ihn auf Russisch an. »Das Letzte, was wir gebrauchen können, sind Bullen, die sich an unsere Fersen heften!«

Aber Misha war so im Jagdfieber, dass er Victor anfuhr. »Sie hat das Buch! Wir hatten sie beinahe! Wir müssen hinterher!«

Victor warf einen Blick auf die Glasscherben und den feuchten Fleck im Wohnungsflur.

»Verdammt!«, presste er zwischen den Zähnen hervor. Wenn er sich richtig erinnerte, hatte dieses dämliche Weib das Ampullenkästchen an sich gebracht, bevor die drei entkommen waren. Er zerrte Misha zurück in die Wohnung und schloss die Tür hinter sich.

»Was hast du vor?« Eine Ader an Mishas Hals pulsierte heftig. »Wir müssen das Buch …«

»Das Buch ist bei dieser Frau gut aufgehoben!«, fiel Victor ihm ins Wort. »Und das Medikament auch. Wir finden die Fotze wieder. Jetzt müssen wir aber erstmal sehen, dass wir hier ohne allzu viel Aufsehen verschwinden, bevor nach deiner Rumballerei noch die Bullen auftauchen.« Er öffnete die Tür vorsichtig wieder und spähte im Treppenhaus nach oben und nach unten.

Niemand zu sehen.

Er wusste, dass normale Menschen einen Schuss aus einer Pistole mit Schalldämpfer so gut wie nie als Schuss identifizierten. Für den Fall allerdings, dass ein Nachbar das Husten doch richtig eingeordnet hatte und gerade mit der Polizei telefonierte, mussten sie zusehen, dass sie von hier verschwanden.

Victor schüttelte sich, um das Adrenalin loszuwerden, das durch seine Adern rauschte wie ein Aufputschmittel. Hinter Misha her stapfte er die Treppe hinunter. An der Wand im ersten Stock befanden sich feine rote Spritzer. Dieser Tom Morell war getroffen, und trotzdem war er weitergerannt, als sei überhaupt nichts gewesen. Wie konnte das sein?

Victor biss die Zähne zusammen. Plötzlich hatte er das unangenehme Gefühl, dass dieser Mann sich zu einem Problem entwickeln würde.

Die Angst, dass die beiden bewaffneten Typen ihnen doch noch folgen würden, packte Tom im Genick wie der Griff einer kalten Hand. Ziemlich unsanft bugsierte er Seifert quer über den Bürgersteig und dann über die doppelte Fahrbahn der Müllerstraße, auf deren mittlerem Grünstreifen der Fahrstuhl zur U-Bahn-Station Rehberge nach unten führte. Nina eilte ihnen voraus.

Vor dem Fahrstuhl blieben sie stehen. Nina schlug auf den Rufknopf, und während sie warteten, ließ Tom den Blick zurückschweifen. Von den Männern in Schwarz war keine Spur zu sehen. Als der Fahrstuhl kam, stolperten sie nacheinander hinein. Die gläsernen Türen schlossen sich, und der Fahrstuhl sank in die Tiefe.

Tom atmete auf. »Scheiße«, rutschte es ihm heraus. »Was wollten die von Ihnen?« Die Hand auf seine pochende Seite gepresst, sah er zu, wie Nina ihm das graue Buch präsentierte, das sie im Laufen wie einen Säugling an sich gepresst gehalten hatte.

»Das hier.« Das graue Kästchen hatte sie kurz zuvor an Seifert weitergereicht.

»Und das hier.« Seifert hob das Kästchen in die Höhe.

Was war dadrin? Diamanten? Tom runzelte die Stirn. »Was ist das?«, fragte er, aber keiner der beiden achtete auf ihn, denn nun knallte Nina Seifert das Buch vor die Brust, sodass er es an sich nehmen musste. Dann riss sie ihm das Kästchen förmlich wieder aus der Hand und öffnete es.

Es enthielt keine Diamanten, sondern Glasröhrchen mit einer durchsichtigen Flüssigkeit darin. Medikamente!, schoss es Tom durch den Kopf. Er zählte vier Röhrchen, aber offenbar hatte das Kästchen einmal sechs enthalten. Zwei der Halterungen waren leer.

»Verdammt!«, flüsterte Nina bei dem Anblick. Mit einer verzweifelten Geste rieb sie sich den Nacken und drehte sich mit weiteren atemlosen »Verdammt, verdammt, verdammt!« von Tom weg.

Tom starrte erst Seifert an, dann die vier verbliebenen Röhrchen. Der Fahrstuhl hielt auf der unteren Ebene, sie stiegen aus und blieben in der Mitte des Bahnsteiges stehen. Schweigend. Eine Anzeige kündigte an, dass die nächste Bahn der Linie U6 in einer Minute kommen würde.

Tom deutete auf die Ampullen in dem Kästchen. »Was ist das?«, fragte er. »Und warum sind die Männer dahinterher?«

»Ist doch egal!«, brach es aus Seifert hervor. »Die haben uns überfallen und auf uns geschossen, Herrgott!« Seine Lippen waren weiß, so fest presste er sie aufeinander.

Der Schmerz an Toms Seite hatte sich von einem Pochen in ein Brennen verwandelt. Mit dem Finger ertastete Tom ein Loch im Leder seiner Jacke. »Warum greifen die Typen für dieses Buch zu gewalttätigen Mitteln? Und für diese … Medikamente

Das letzte Wort musste er fast schreien, weil die U-Bahn einfuhr. Bis auf ein paar Frauen mit Einkaufstaschen und einen Teenager mit pechschwarzem Undercut war sie leer. Nachdem sie alle drei eingestiegen waren und die Bahn anfuhr, fühlte Tom sich, als würde jemand alle Energie aus ihm ablassen. Fürs Erste waren sie ihren Verfolgern entkommen. Er blies Luft durch die Lippen. »Also?«, beharrte er.

Nina schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.« Sie warf sich auf einen Sitz in einer leeren Vierergruppe und fuhr sich durch die kurzgeschnittenen Haare. Tom konnte sehen, wie ihre Hände zitterten, und als würde sein eigener Körper erst jetzt begreifen, in welch brenzliger Situation er sich befunden hatte, begann es, in seinen Ohren zu kreischen. Schwindel erfasste ihn, er musste sich selbst setzen.

Die Bahn fuhr ruckelnd in eine Kurve.

Nina saß da und kämpfte mit den Auswirkungen des Schocks. Sie spürte, dass ihre Wangen kalt waren. Ihre Hände fingen wieder an zu zittern, und sie krampfte sie um den Rand ihrer Tasche.

Tom, der selbst gegen den Schrecken zu kämpfen schien, sah sie besorgt an. »Ist alles okay mit Ihnen? Sie werden plötzlich ganz fahl.«

»Mir geht es gut!«, behauptete sie, aber ihre Gedanken kreisten um die zerstörten Phagen-Ampullen. Noch einmal öffnete sie das Ampullarium und starrte auf die beiden leeren Halterungen. Aus dem Brief, den Georgy Max geschrieben hatte, ging hervor, dass es wirklich seine zwölf Superphagencocktails waren. Der Verlust von zweien davon bedeutete nicht weniger als eine Katastrophe.

Tom Morell stützte sich kopfschüttelnd auf den eigenen Knien ab. »Sie haben sich das tatsächlich geschnappt, obwohl die Kerle …« Er schien es nicht fassen zu können und richtete sich wieder auf. Seine Augen funkelten. »Und Ihre Tasche auch noch.« Zum wiederholten Male schüttelte er den Kopf. »Frauen!«

Sie wollte ihn anblaffen, aber in diesem Moment begann ein Handy zu klingeln. Es war das von Max, und zu Ninas Verblüffung ging er ran. »Es ist jetzt wirklich ganz ungünstig …« Er hörte zu. »Ja, ich weiß. Mir ist klar, dass wir uns darum kümmern müssen … nein, ich … Hör doch mal zu: Auf uns ist soeben geschossen worden, verdammt!« Unwillkürlich war Max lauter geworden. Etwas leiser fuhr er fort: »Keine Ahnung, wirklich. Irgendwelche Russen oder so … Ja, ich bin okay. Ich weiß … Die vom Rathaus können auch noch einen Tag warten … Wie gesagt: Ich kümmere mich um alles, versprochen!« Mit einem verlegenen Gesichtsausdruck legte er auf. »Sorry«, meinte er. »Das war meine Assistentin. Aber die wird jetzt für eine Weile Ruhe geben. Hoffe ich wenigstens.« Er grinste schief.

Nina starrte ihn an. Sein Verweis darauf, dass auf sie geschossen worden war, hallte in ihr nach, und ihr wurde schon wieder schwindelig. Toms Blick lag schwer auf ihr.

»Gut«, meinte er. »Also nochmal. Warum sind die Kerle hinter dem Buch und diesen Medikamenten her? Was sind das überhaupt für Medikamente?«

»Phagen«, sagte sie.

»Phagen.« Er sah aus, als habe er das Wort nicht zum ersten Mal gehört, aber trotzdem fragte er: »Was sind Phagen?«

»Good Bugs. Sozusagen.«

»Aha«, machte er.

Sie lächelte. »Hochpotente Viren, die gegen multiresistente Keime wirken, gegen die die gängigen Antibiotika nicht mehr helfen.«

Bei ihren Worten war er zusammengezuckt, auf einmal wirkte er noch aufmerksamer. »Erklären Sie mir das genauer!«, verlangte er.

Sie zögerte. »Sie müssen sich das so vorstellen: Phagen sind winzig klein. Sie haben einen kantigen Kopf, wie eine Art Mondlandekapsel, auf sechs spinnenartigen Beinen. Sie docken an ihr Wirtsbakterium an, spritzen ihre eigene DNA hinein und zwingen es dadurch, viele neue Phagenbausteine herzustellen und zusammenzubauen. Irgendwann ist das Bakterium voll mit Phagen, es platzt auf und schickt eine neue Armee davon los, die sich wiederum auf weitere Bakterien stürzen.«

»Viren«, murmelte Tom. »Okay, verstanden.«

»Phagen sind damit eine grüne Alternative zu Antibiotika, und das Gute an ihnen ist: Sie können keinen Schaden im Körper anrichten, weil sie nur ihre exakt passende Bakterienzelle zerstören und dann verschwinden.« Sie sah, wie diese Informationen Toms Kopf zum Rattern brachten. Sie wollte noch etwas ergänzen, aber für den Moment hatte sie ihm genug zum Verdauen gegeben, darum wandte sie sich wieder an Max.

»Glaubst du, dass das die Kerle waren, die Georgy umgebracht haben?«, flüsterte er.

In ihrem Kopf tanzten die Bilder. Georgy in ihren Armen. Das Blut. Der Schuss vorhin in Max’ Treppenhaus …

»Das war in Tiflis«, sagte sie.

Max zuckte mit den Schultern. »Na und?«

Tom grübelte immer noch über ihre Worte nach. Mit dem Zeigefinger rieb er sich den Nasenrücken, und Nina konnte an seiner Hand den breiten, goldenen Ehering glänzen sehen. Sie starrte darauf, bis Tom endlich meinte: »Okay! Gut. Ich brauche dringend mehr Informationen über diese Phagen!«

»Wieso das?« Schlagartig keimte Misstrauen in ihr auf, und das schien er zu spüren.

Er lächelte ein wissendes Lächeln. »Sie denken, ich gehöre zu denen, oder?« Für einige Sekunden lang begegneten sich ihre Blicke. Schließlich seufzte Tom. »Okay. Vorschlag! Im Bahnhof Friedrichstraße befindet sich eine Station der Bundespolizei. Was halten Sie davon, wenn ich Sie dorthin begleite?«

Sie senkte den Kopf zu einem schwachen Nicken. »Das wäre großartig!«, murmelte sie.

Die U-Bahn hielt auf Gleis 1 und spuckte sie auf den Bahnsteig aus. Sie gingen den engen Treppenaufgang hinauf und dann durch Gänge, deren Wände mit uringelben Fliesen bedeckt waren. Ein FCK-AFD-Aufkleber an einer der Rolltreppen ließ Tom lächeln. Als sie in der weitläufigen und modernen Einkaufspassage angekommen waren, wäre Tom beinahe auf einem Fetzen Papier ausgerutscht. Er machte einen großen Schritt über das Ding hinweg, nur um gleich darauf auf weitere davon zu treten. Offenbar waren es irgendwelche Flyer, die jemand hier in großem Stil verteilt hatte.

Der Weg zur Polizeistation führe sie an einem McCafé vorbei, und hier blieb er abrupt stehen, denn mittlerweile brannte der Schmerz in seiner Seite so heftig, dass er sich besser mal darum kümmerte. Aus seiner aktiven Zeit bei der Antifa wusste er, dass man Verletzungen, die man sich bei Straßenschlachten mit Faschos zugezogen hatte, zunächst kaum oder gar nicht bemerkte. Erst eine ganze Weile später, wenn das Adrenalin im Blut abgebaut war, begannen sie, richtig wehzutun, und offenbar war das bei ihm gerade der Fall.

»Moment«, sagte er. »Warten Sie mal.« Er deutete auf seine Flanke. »Ich fürchte, ich muss das kurz untersuchen.«

Auf Ninas und Max’ Gesicht erschien ein fragender Ausdruck, also zog er den Reißverschluss seiner Jacke ein Stück nach unten, sodass sie einen Blick auf seinen Oberkörper werfen konnten. Wie er bereits vermutet hatte, klebte das Hemd rot an seiner Haut.

Ninas Augen weiteten sich. »Sie sind angeschossen worden?«, wisperte sie.

»Ich weiß nicht. Fühlt sich nicht so an.«

»Aber Sie bluten!«

»Darum verschwinde ich mal kurz.« Er sah sich nach einem Hinweisschild für die öffentlichen Toiletten um. »Ich verspreche, ich bin gleich wieder da.«

»Den sehen wir nicht wieder«, murmelte Seifert, und Tom glaubte Nina erwidern zu hören: »Wieso das? Immerhin hat er sein Leben riskiert, um uns zu helfen.«

Gleich darauf baute er sich vor einem Waschbecken auf und starrte sich selbst in die Augen. Ein befremdliches Flackern stand darin. In seinen Ohren kreischte es noch immer.

Er öffnete den Wasserhahn und gab ordentlich Seife in seine Hände. Jemand hatte einen dieser Flyer aufgehoben und auf dem Waschbeckenrand liegen lassen. Während er sich gründlich die Hände wusch, nahm Tom eher beiläufig wahr, dass es dieser komische Kupferstich war, der in letzter Zeit überall in der Stadt auftauchte. Er trocknete sich die Hände mit einem Papierhandtuch ab, schloss sich in einer der Kabinen ein und streifte seine Lederjacke von den Schultern. Nicht nur das Hemd klebte dunkelrot an seiner rechten Seite, auch der Bund seiner Jeans war rot, allerdings nur ein paar Millimeter breit. Mit zusammengebissenen Zähnen hob Tom den Saum des Hemds an. Dicht unter dem unteren Rippenbogen befand sich eine längliche Wunde, aus der frisches Blut sickerte. Zum Glück war sie nicht besonders tief, die Kugel hatte ihn also nur gestreift. Die Wunde schien nicht schlimmer als so manche Blessur, die er sich früher bei dem ein oder anderen Fight mit den Neonazis seines Viertels zugezogen hatte. Darüber hinaus waren seine Impfungen wegen seiner vielen Reisen in alle Welt immer auf dem aktuellen Stand. Es sprach also nichts dagegen, dass er Nina und Seifert erst zur Polizei begleitete, bevor er mit dieser Verletzung zum Arzt ging. Er rollte mehrere Lagen Toilettenpapier von der Rolle ab und entsorgte sie im Toilettenbecken. In der Hoffnung, dass die Blätter darunter einigermaßen keimfrei waren, riss er sie ab und faltete sie zu einem dicken Polster, das er einen Moment lang in der Hand wog. Dann atmete er einmal tief durch und presste es sich auf die Wunde.

Der Schmerz schoss ihm in jeden Winkel seines Körpers. Tom wickelte einige weitere Lagen Klopapier um seinen Oberkörper, um den Haufen Klopapier zu fixieren. Als alles einigermaßen hielt, ließ er das Hemd wieder über den Gürtel fallen und zog die Jacke an. Die beiden Löcher, die die Kugel darin hinterlassen hatte, waren zum Glück kaum zu sehen.

Er atmete durch. »Also dann«, murmelte er und verließ die Toilettenanlage.

Nina und Seifert hatten sich an einen der Tische des Cafés gesetzt und waren dabei, über das eben Erlebte zu diskutieren. Als Nina Tom kommen sah, schaute sie auf. »Alles okay?« Wirkte sie erstaunt, dass er noch da war? Er wusste es nicht. Ihr besorgter Blick allerdings weckte in ihm das Bedürfnis, einen dummen Scherz zu machen. »Nichts, was man nicht mit ein paar Stichen zusammenflicken kann.«

Sie runzelte die Stirn.

»Okay. Nicht witzig, stimmt. Es ist nur eine Fleischwunde, ich lasse das untersuchen, sobald wir bei der Polizei waren.«

Ihr Blick lag forschend auf ihm. Er hätte gern gewusst, was sie dachte, und für einen Moment befand sich alles auf diese sonderbare Art in der Schwebe, weil keiner von ihnen wusste, was er vom anderen halten sollte.

Tom dachte an die Männer in Seiferts Wohnung. Er dachte an das Laborjournal, das Nina offenbar in ihrer Tasche verstaut hatte und das wertvoll genug war, um ihr bewaffnete Killer auf den Hals zu hetzen.

»Bevor wir mit den Cops reden, sollten wir kurz darüber sprechen, was genau da eben passiert ist«, sagte er und setzte sich zu den beiden. »Dieser Georgy, von dem Sie gesprochen haben und den die Kerle vielleicht getötet haben: Wer ist das?«

Sie zögerte, und er konnte die Gedanken hinter ihrer Stirn wirbeln sehen. Ihre Augen waren riesengroß und voller Intensität. Ihr Blick lag einen Moment forschend auf seinem Gesicht, dann sah sie ihm so tief in die Augen, als wolle sie auf der Innenseite seines Schädels ablesen, ob sie ihm trauen konnte. Endlich seufzte sie. »Sie sind meinetwegen angeschossen worden, ich vermute, Sie haben ein Recht auf ein paar Antworten. Mein … Ziehvater …« Sie bedeckte die Augen eine Sekunde lang mit der flachen Hand. »Georgy. Professor Georgy Anasias. Er hat an diesen Phagen geforscht, als er …« Ihre Stimme kippte übergangslos weg.

Tom wartete, bis sie sich wieder gefangen hatte. »Und Sie glauben, dass der Tod Ihres Ziehvaters und der Überfall eben zusammenhängen?«

Nina kämpfte mit den Tränen, aber sie nickte. Dann schüttelte sie den Kopf. Sie wollte etwas erwidern, als Tom aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm und ihm kalt wurde.

»Fuck!«, stieß er hervor.

Ninas und Seiferts Köpfe ruckten herum.

Direkt vor dem Café, bei einem Fahrstuhl, war einer ihrer Verfolger aufgetaucht. Er trug jetzt keine Maske mehr, aber trotzdem erkannte Tom ihn an seiner Zweimetergestalt sofort. Der Kerl schaute sich aufmerksam um, und Tom musste kein Hellseher sein, um zu wissen, dass er sie suchte.

»Wie haben die uns …« Nina wollte aufspringen, aber Tom packte sie am Arm und zerrte sie zurück auf den Sitz, um die Russen nicht auf sie aufmerksam zu machen. Neben dem Hünen erschien der zweite Mann aus Seiferts Wohnung – und gleich darauf auch noch der dritte, der Glatzkopf, der im Auto gewartet hatte. In der Hand hielt der Kerl schon wieder das Tablet, auf das er konzentriert starrte.

»Los, weg hier!«, sagte Tom. »Aber langsam! Auf keinen Fall rennen!« Er zog Nina auf die Füße und trieb sie und Seifert vor sich her zum Hinterausgang des McCafés. Zwischen seinen Schulterblättern begann es zu prickeln, als ihm klar wurde, dass er sich mitten in der Schusslinie befand, sollten ihre Verfolger sie entdecken.

Doch sie hatten Glück. Sie erreichten den rückwärtigen Ausgang, bevor die Russen den Laden von vorn betraten. Vorbei an ein paar Schließfächern eilten sie zwischen einem Fahrstuhl und einer Rolltreppe hindurch zum Ausgang Richtung Friedrichstraße, wo Tom stehen blieb. Der Schmerz strahlte von seiner Seite bis hinunter in sein Bein, aber er hatte keine Zeit, sich jetzt um seine Verletzung zu kümmern. »Wir müssen in eine U-Bahn«, drängte er. »Und zwar bevor die uns wiederhaben.«

Zwischen Ninas Augenbrauen war eine Falte erschienen. »Woher wussten die überhaupt, dass wir hier sind?«, fragte sie.

Es gab eine sehr plausible Antwort auf Ninas Frage. Tom dachte an das Tablet in der Hand des dritten Russen.

»Erkläre ich Ihnen gleich«, sagte er. »Aber erstmal müssen wir so schnell wie möglich in die nächste U-Bahn und von hier verschwinden!«

Durch einen anderen Eingang führte Tom Nina und Max wieder ins Innere des Bahnhofs und dann eine Treppe hinunter zum Bahnsteig der U6 Richtung Tegel, wo ein Zug abfahrtbereit am Gleis stand.

»Einsteigen!«, befahl Tom, und Nina folgte Max in einen der Waggons. Tom war dicht hinter ihr. Direkt hinter ihm schlossen sich die Türen, und die Bahn fuhr an. Tom ging zu einer der Sitzbänke, ließ sich darauf fallen und krümmte sich.

Nina glitt neben ihm in die Bank. »Wie geht es Ihnen?«

Tom richtete sich wieder auf. Er war ein wenig blass, aber er wirkte nicht, als sei er kurz vor einer Ohnmacht. »Geht schon.«

»Sie glauben, dass die mich verwanzt haben, oder?«

»Oder Ihnen zumindest einen Peilsender verpasst, ja. Das würde erklären, wie sie uns finden konnten.«

Unwillkürlich tastete Nina die Taschen ihrer Jacke ab, aber da war nichts. Oder? Als sie allerdings in die Brusttasche fasste, ertasteten ihre Finger etwas Kleines, Hartes. Sie zog es hervor und hielt es hoch. Es war schwarz und ungefähr so groß wie der Radiergummi an einem Bleistift.

Tom nahm ihr das Ding ab.

»Das … das heißt, die haben uns nicht nur verfolgt, sondern auch …« Sie verstummte, weil Tom warnend den Kopf schüttelte.

»Wo zum Henker sind Sie da reingeraten?«, fragte er.

Sie wusste es nicht. Ihr schwirrte der Kopf. Die hatten sie verwanzt, ohne dass sie es gemerkt hatte? Was waren das denn für Geheimdienstmethoden?

Tom stand auf und ging in den nächsten Waggon. Durch den Glaseinsatz in der Tür konnte Nina sehen, wie er dort den Sender in die Ritze zwischen zwei Sitzen steckte. Als er zurückkam, grinste er, aber das spöttische Funkeln in seinen Augen konnte nicht überdecken, dass er in Alarmbereitschaft war. »Das war eine Wanze«, erläuterte er. Nina blieb die Luft weg.

»Geben Sie mir Ihre Jacke!«, verlangte er.

Sie zog das Ding aus, reichte es ihm und sah zu, wie er mit geschickten Fingern noch einmal jede Tasche und jeden Saum abtastete.

»Wann haben die das gemacht?«, flüsterte sie. Ihre Gedanken ratterten zurück zu Georgys Institut, das in hellen Flammen stand. Da? Unmöglich! Da hatte sie diese Jacke nicht getragen. Der Überfall in Max’ Wohnung? Vorher? Ein Frösteln überfiel sie, als ihr ein Gedanke kam. Einer ihrer Verfolger … er war riesig … Der Zusammenstoß mit diesem großen, gutaussehenden Russen in der Flughafenhalle … War das derselbe Mann gewesen? In Max’ Wohnung hatte er eine Maske aufgehabt, aber eben, als er vor dem McCafé aufgetaucht war … Da hatte sie ihn allerdings nur von hinten gesehen.

Mechanisch nahm sie ihre Jacke zurück, als Tom sie ihr reichte. Er hatte keine weitere Wanze gefunden. Sie zog die Jacke wieder an, aber das Frösteln ließ nicht nach.

Ein paar Teenager mit Basecaps starrten schon seit einer Weile in ihre Richtung, und auch ein altes Ehepaar ein paar Bänke weiter tuschelte über sie.

Tom ignorierte sie alle. »Ihnen ist eingefallen, wann die Sie verwanzt haben, oder?«

Nina starrte auf den Boden vor ihren Füßen und hatte keine Ahnung, was sie fühlte. Erleichterung? Schrecken? Wut? Sie räusperte sich. »Ein Zusammenstoß am Flughafen …« In knappen Worten erzählte sie Tom davon.

»Klingt, als könnte es so gewesen sein. Sie haben vorhin gesagt, dass die Typen vielleicht auch Ihren Ziehvater auf dem Gewissen haben.«

»Ich weiß es nicht.« Sie musste ein paar Sekunden lang gegen den Schmerz anatmen. Dann nahm sie ihr Herz und ihre Trauer in beide Hände und erzählte Tom von Georgy und der Art und Weise, wie er gestorben war. Ihre Augen brannten, aber sie schaffte es, die Tränen zurückzuhalten. »Sie haben ihn gefoltert und dann ermordet. Und anschließend haben sie sein Institut … in die Luft gesprengt.« Die Worte fühlten sich an wie Rasierklingen, die man ihr zum Schlucken gegeben hatte.

Tom rang mit dem Mitgefühl, das Ninas Worte hervorriefen. »Und Sie sind sicher, dass all das mit diesem Buch und diesen Medikamenten zu tun hat?«

»Es sind wichtige Forschungsergebnisse, die einigen viel Geld wert sind.«

»Offenbar«, sagte er. Seit sie ihm von der Wirkungsweise dieser Phagen erzählt hatte, gingen ihm Dr. Heinemanns Worte nicht mehr aus dem Kopf.

Wenn es hart auf hart kommt, dann bleibt Ihnen vielleicht nur, nach Tiflis zu fliegen und die Phagen für Ihre Tochter herzuholen …

Wie sehr er hoffte, dass das gar nicht nötig war!

Max schien seine Gedanken lesen zu können. »Ja«, mischte er sich ein. »Die Dinger könnten Sylvie vielleicht helfen. Sieht ganz so aus, als würde das Universum es gut mit Ihnen meinen, würde ich sagen.«

Nina blickte verständnislos von einem zum anderen. »Sylvie?«

Tom nickte. »Meine Tochter. Sie leidet an einem pan-resistenten Pseudomonas-Keim. Ich war bei Dr. Seifert, weil ich gehofft habe, er könnte mir dabei helfen, alternative …«

Ihm entging nicht, dass sich Ninas Hände fester um die Ränder ihrer Tasche krampften, in der sie nicht nur das Laborjournal, sondern auch das graue Plastikkästchen mit den Ampullen verstaut hatte. »Einer der Phagencocktails meines Ziehvaters wirkt gegen Pseudomonas-Stämme«, sagte sie. Sie war auf der Hut, das sah er deutlich, und er hätte gern irgendwas getan, um ihr zu beweisen, dass sie vor ihm keine Angst haben musste. Seiferts Worte sandten ein Hochenergiekribbeln durch seinen ganzen Körper. Sieht ganz so aus, als würde das Universum es gut mit Ihnen meinen …

»Okay«, murmelte er. »Okay. Aber kümmern wir uns zuerst um diese Mistkerle.«

Der Zug hielt an der Station Wedding. Das alte Ehepaar stand auf und stieg aus. Nina blickte ihnen nach, wie sie Hand in Hand die Treppe hochstiegen. Die Waggontüren schlossen sich, und die Bahn fuhr wieder an. Nina zog die Tasche noch fester an sich. »Was genau schlagen Sie vor?«

»Wir lassen den Sender hier in der Bahn und geben den Typen damit eine nette Nuss zu knacken. Inzwischen informieren wir die Bul… die Polizei, und anschließend gehen wir irgendwohin, wo die Russen uns nicht finden können. Aber vor beidem müssen wir unbedingt erst noch was anderes machen.«