8

Die nächste Station war Leopoldplatz. Hier scheuchte Tom Nina und Seifert aus der Bahn und zu einer der Toiletten, die an dieser Station noch nicht hinter einer Bezahlschranke einer internationalen Sanitärfirma lagen, sondern wie in den guten alten Zeiten hinter einer schlichten Metalltür in einem versifften Gang. Zwischen den Türen mit den Symbolen für Männer und Frauen stand ein Campingtisch mit einem Untersetzer für Münzen. Der Stuhl daneben war verwaist, was Toms Vorhaben zugutekam.

Ohne Umschweife begleitete er Nina in die Damentoilette und vergewisserte sich, dass sie leer war. Dann deutete er auf die vordere der Toilettenkabinen. »Gehen Sie da rein«, bat er, baute sich vor dem Eingang auf und blockierte ihn, sodass niemand hereinkommen konnte. »Ziehen Sie sich Stück für Stück aus, und reichen Sie mir die Sachen über die Abtrennung.«

»Alle?« Eine leichte Röte überzog Ninas Gesicht.

Er war nicht sicher, ob es wirklich nötig war, sie bis auf die Unterwäsche zu filzen, aber sie hatten keine Ahnung, was für Mittel ihre Verfolger hatten. Und auf keinen Fall wollte er ein Risiko eingehen und die Russen demnächst wieder am Hals haben. »Die Kerle sind mit modernsten Mitteln ausgestattet, und Sie haben gesehen, wie klein die Wanze war, die man Ihnen in die Tasche geschoben hat! So ein Ding kann man überall verstecken. Auch in der Spitze Ihres BHs.«

»Meine BHs haben keine …« Verlegen schluckte Nina den Rest des Satzes hinunter.

Trotz ihrer verfahrenen Lage musste Tom lächeln. »Machen Sie einfach! Ich verspreche auch, meine Fantasie im Zaum zu halten.«

»Klar.« Sie schnaubte spöttisch, aber dann tat sie, was er verlangte. Sie begann mit ihren Schuhen, braunen Ankle-Boots, die im Gegensatz zu seinen eigenen Dingern neu und vor allem teuer aussahen. Er untersuchte sie sorgfältig und gab sie ihr zurück. Das gleiche Spiel wiederholte sich mit ihrer Jeans, ihrem Shirt, ihrem Top. Obwohl er versprochen hatte, seine Fantasie zu zügeln, war er sich natürlich der Tatsache, dass sie nur noch in BH und Höschen kaum eine Armeslänge von ihm entfernt stand, überaus bewusst. Er fragte sich, was für eine Figur sie wohl hatte. Schlank war sie, aber war sie in Form oder eher mager? Und ob sie irgendwo tätowiert war?

Isabelle hatte einen kleinen Schmetterling am linken Knöchel und den winzigen Schriftzug Sylvie direkt über ihrem Herzen. Es half ein bisschen, sich auf seine Noch-Ehefrau zu konzentrieren, um die Regungen seines Körpers unter Kontrolle zu behalten.

»BH und Höschen?«, fragte er.

Durch die Abtrennung konnte er sie schnaufen hören. »Und wenn die Welt in einer Zombieapokalypse untergeht, ich werde Ihnen nicht meine Unterwäsche zeigen!«

Er unterdrückte ein Schmunzeln. »Ziehen Sie die Sachen aus und tasten Sie sie Zentimeter für Zentimeter ab. Wenn da eine weitere Wanze ist, können Sie sie so fühlen.«

Während sie das tat und er die Vorstellung von ihrem nackten Körper gewaltsam aus seinem Kopf vertrieb, fragte sie: »Woher können Sie solche Sachen? Ich meine, vor bewaffneten Verfolgern flüchten lernt man ja wohl kaum auf der Uni.«

Nein, aber als Jugendlicher im Straßenkampf. Und manchmal auch in den hintersten Winkeln dieser Welt, wenn man wieder mal zu leichtsinnig in das falsche Viertel marschiert ist. »Ich war nie auf einer Uni«, erwiderte er. »Aber dafür bin ich ein bisschen in der Weltgeschichte rumgekommen.«

»Aha. Was machen Sie beruflich?« Es war deutlich, dass sie ihn ablenken wollte.

»Ich bin Foodhunter.«

»Was ist das denn?«

»Ich reise im Auftrag von Restaurants oder Köchen in der Welt rum und suche nach neuen, ungewöhnlichen Lebensmitteln. In Erde fermentierter Seeteufel zum Beispiel oder bisher unbekannte Wildgrasarten aus Südamerika.«

»Klingt spannend«, sagte sie.

»Ist es manchmal. Den Rest der Zeit tue ich etwas Ähnliches wie Sie: Ich schreibe Reiseartikel, allerdings nur selten für Zeitungen und Magazine, eher für einen Blog, den ich führe.«

»Kann man davon leben?«

»Vom Schreiben? Nein. Als Foodhunter? Einigermaßen.«

Sie klopfte leicht gegen die Innenseite der Toilettenwand. »Okay. Die Unterwäsche ist sauber – ich meine: keine Wanzen.«

Er lachte über die Doppeldeutigkeit, und Nina lachte mit.

Unter der Abtrennung hindurch sah er, dass sie anfing, sich wieder anzuziehen. Sie schlüpfte in ihre Unterwäsche, dann in die Jeans. Als Letztes zerrte sie das Shirt vom Rand der Abtrennung, wo er es ihr hingelegt hatte, und zog auch das wieder an. Auf Nylons kam sie aus der Kabine und schlüpfte vor seinen Augen in ihre Stiefel.

»Darf ich?«

Als sie zögerlich bejahte, kontrollierte Tom ihre Tasche und sicherheitshalber auch ihre Lederjacke noch einmal. Keine weiteren Wanzen. Vielleicht hatten sie die Russen überschätzt. »Die haben Sie vermutlich im Vorbeigehen verwanzt«, sagte er und reichte ihr die Tasche zurück.

Erleichtert drückte sie sie an sich. »Wie gesagt: Ein Mann hat mich angerempelt, als ich meinen Koffer vom Transportband am Flieger geholt habe.« Sie schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Mein Koffer!«

»Was ist damit?«

»Er steht noch bei Max im Flur.«

»Den holen wir später«, versprach Tom. »Jetzt müssen wir erstmal zusehen, dass wir abtauchen.«

Nina stellte die Tasche auf das Waschbecken vor sich und warf einen prüfenden Blick in den schmutzigen Spiegel. Mein Gott, sah sie fertig aus! Ihre kurzen blonden Haare standen ihr wirr vom Kopf ab, ihr Gesicht war blass, ihre Augen glitzerten noch von der überstandenen Angst, und ein bisschen von ihrer schwarzen Mascara hatte sich unter ihren Augen verteilt.

»Eine Million für eine Dusche!« Sie drückte auf den Seifenspender und wusch sich gründlich die Hände. Mit nassen Fingern rieb sie erst die schwarzen Schlieren unter den Augen fort und versuchte dann, ihre Haare in eine wenigstens einigermaßen passable Frisur zurückzuverwandeln. Ein paar Strähnen allerdings blieben widerspenstig.

Im Spiegel begegnete sie Toms Blick. Er stand noch immer an der Tür, hatte sich aber mittlerweile mit dem Rücken dagegengelehnt und die Arme vor der Brust verschränkt. Das Deckenlicht brach sich in seinem goldenen Ehering.

Konnte sie ihm trauen? Sie dachte an die Dinge, die er ihr erzählt hatte. Foodhunting. Das hatte sie noch nie gehört, aber nach dem, was er gesagt hatte, war er viel in der Welt herumgekommen. Bestimmt hatte er Länder gesehen, die sie nur vom Namen her kannte. Und möglicherweise war der Job auch nicht ganz ungefährlich. Sie schauderte unwillkürlich, als sie daran dachte, wie schnell er den Peilsender in ihrer Jacke entdeckt hatte. Und dann war da noch diese Sache mit seiner Tochter, stimmte die oder diente die Geschichte nur dazu, sie in eine Falle zu locken?

Sie hielt seinem Blick im Spiegel stand. Sie sah Gespenster, schalt sie sich. Wenn er zu den Russen gehörte, was ihr ziemlich unwahrscheinlich vorkam angesichts der Tatsache, dass einer von denen auf ihn geschossen und ihn sogar verletzt hatte … wenn er also hinter dem Laborjournal und den Phagen her wäre, dann hätte er sie ihr doch längst wegnehmen und damit verschwinden können. Stattdessen war er hier und half ihr, nach Wanzen zu suchen.

Ihr wurde bewusst, dass der Wasserhahn noch lief, und mit einer energischen Bewegung drehte sie ihn zu. »Wie geht es jetzt weiter?«

»Wie gesagt, wir sollten zur Polizei …«

Jemand versuchte, die Tür aufzustoßen, aber sie ging nur wenige Millimeter auf und wurde dann von Toms Stiefelsohle gestoppt. »Was soll das?«, erklang eine weibliche Stimme von draußen.

»Besetzt!«, schnitt Tom ihr das Wort ab, und er warf Nina einen amüsierten Blick zu, als die Frau vor der Tür mit einem empörten »Scheiß Transgendertypen!« abzog.

Nina musste lächeln, und es fühlte sich paradox an, dass sie sich in Toms Gegenwart für einen kurzen Moment völlig sicher fühlte, obwohl sie ihm eben noch misstraut hatte. Sie musterte ihn mit seiner abgenutzten Lederjacke, der Jeans und den ausgetretenen Boots. Es fiel ihr schwer, ihn sich hinter dem Schreibtisch vorzustellen, wo er seine Blogeinträge schrieb. »Danke«, sagte sie.

»Wofür?«

»Dafür, dass Sie Max und mich gerettet haben. Und dafür, dass Sie mir helfen.« Es freute sie, dass er lächeln musste. Es stand ihm gut. Besser jedenfalls als dieser gequälte Ausdruck in seinen Augen, wenn er von seiner Tochter sprach.

Jemand klopfte an die Toilettentür. »Was machen Sie dadrinnen?« Eine andere Stimme als eben. Die Toilettenfrau, vermutete Nina. »Warum ist die Tür blockiert?«

Bevor Tom etwas sagen konnte, griff sie selbst ein. »Ich bin gleich fertig«, rief sie. »Ich musste mich vor dem Spiegel kurz ausziehen, darum habe ich die Tür verkeilt.«

Tom zog bei der Flunkerei leicht die Augenbraue hoch, nickte aber anerkennend.

Die Toilettenfrau murmelte etwas Unverständliches, gab sich vorerst allerdings zufrieden.

»Fertig!«, sagte Nina.

Tom wandte sich um, wollte nach der Türklinke greifen und krümmte sich mit einem Ächzen zusammen.

Sie schaute ihn besorgt an. »Alles okay?«

»Es ist nichts.« Seine Hand lag auf der Seite, wo der Schuss ihn getroffen hatte.

»Sie sind doch schlimmer verletzt, als Sie gesagt haben, oder?«

»Ich …«

»Lassen Sie mich mal sehen!«, forderte Nina ihn auf. Sie streckte die Hand nach ihm aus, versuchte, sein Hemd anzuheben, aber er wehrte ab. »Nicht nötig!«

Sekundenlang starrte sie ihn an. »Wenn Sie jetzt sagen, das ist nur ein Kratzer, dann kriegen Sie meine Faust aufs Auge!«

Er grinste. Zusammen mit dem Schmerz in seinem Blick ließ es ihn verflixt verwegen aussehen.

Wieder klopfte es an der Tür, und jemand versuchte, reinzukommen. Ohne den Blick von Ninas Gesicht zu lassen, hinderte Tom ihn daran, indem er die Tür zuhielt.

Nina wurde unangenehm warm.

»Jetzt machen Se aber endlich mal hin!«, beschwerte sich die Toilettenfrau.

»Sie können mich bald ausgiebig verarzten, versprochen.« Er gab die Tür frei und ließ Nina den Vortritt. Die Gesichtszüge der Toilettenfrau entgleisten, als sie Tom direkt hinter ihr aus der Toilette kommen sah. Man musste nicht besonders viel Fantasie haben, um zu wissen, was sie dachte.

Mit hochrotem Kopf nickte Nina ihr zu, und es ärgerte sie maßlos, dass Tom leise auflachte.

Voss war von ihrem Ausflug in das Altersheim zurück und las sich durch ein paar Informationen zum Thema Bioterror, als es ein wenig schüchtern an ihrer Tür klopfte.

»Herein!«, sagte sie.

Die Tür wurde geöffnet und einer der jungen Polizeikommissaranwärter stand im Rahmen. Es war ein schlaksiger Kerl mit einer halben Tonne dunkelblonder Locken auf dem Kopf und einem Gesicht, in dem noch Idealismus und Eifer glühten.

»Ähm, Frau Voss?« Da er sich in seiner eigenen Behörde befand, hatte er seine Mütze nicht auf, aber er machte auf Voss den Eindruck, dass er sie nervös geknetet hätte, hätte er sie zur Hand gehabt.

»Ja?« Sie machte eine einladende Kopfbewegung. »Kommen Sie ruhig rein. Ich beiße nicht, egal, was die Kollegen Ihnen über mich erzählt haben.« Sie grinste, aber der Scherz perlte an ihm ab wie an einer nagelneuen Teflonbeschichtung.

Er trat einen Schritt näher. »Natürlich. Ich …«

Sie kniff die Augen zusammen, um das Namensschild an seinem Revers entziffern zu können. L. Lau. Stimmt. Lukas, so hieß dieser Grünschnabel. Lukas Lau.

Als Tannhäuser die neuen Anwärter vor ein paar Monaten vorgestellt hatte, hatte sie gedacht, dass sein Name klang, als würde er direkt aus Entenhausen stammen.

Jetzt lächelte sie Lau an. »Was kann ich für Sie tun?«

»Na ja, ich dachte mir … ähm. Die Vorschriften besagen doch, dass Ermittlungen nicht von einem Beamten oder einer Beamtin allein ausgeführt werden dürfen. Mir ist aufgefallen, dass Sie aber die ganze Zeit allein ermitteln.«

Voss lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Und?« Was wurde das hier? Eine Warnung, dass er eine Dienstaufsichtsbeschwerde einreichen wollte? Dann war er bei ihr an der falschen Stelle, denn nicht sie hatte es zu verantworten, dass sie meistens allein ermittelte, sondern Tannhäuser. Mithin die ganzen elenden Sparmaßnahmen in der Hauptstadt.

Ein paar dunkelrote Flecken erschienen in Laus Gesicht. »Ich dachte mir, Sie könnten vielleicht Hilfe gebrauchen, und da habe ich … ähm … Kriminaloberrat Tannhäuser gefragt, ob es … ähm, eventuell möglich ist, Ihnen als Anwärter zugeteilt zu werden.«

»Und was hat Kriminaloberrat Tannhäuser zu Ihrem Vorschlag gesagt?«

»Er meinte, ich soll Sie fragen.«

Kluger Mann!, dachte Voss und unterdrückte ein Grinsen. Tannhäuser und sie kannten sich zu lange, als dass er ihr einfach einen Hosenscheißer wie Lau ungefragt zur Seite gestellt hätte.

»Ich brauche keine Hilfe bei diesem Fall«, sagte sie. »Wir wissen ja noch nicht einmal, ob es überhaupt ein Fall ist.«

»Ich weiß.« Mit diesem Einwand schien er gerechnet zu haben. Er hob den Blick und schaute ihr zum ersten Mal direkt ins Gesicht. »Aber ich dachte mir, es wäre gut, wenn ich mich schon ein bisschen einarbeite – für den Fall, dass dieser Prometheus ernst macht.« Er lächelte verlegen. »Und wir schnell reagieren müssen.« Er hatte hübsche graugrüne Augen mit langen, verblüffend dunklen Wimpern. Wie Bambi, schoss es ihr durch den Kopf.

»Sie sind auf ein bisschen Action aus«, sagte sie ihm auf den Kopf zu.

Seine Wangen glühten noch roter.

»Ich glaube, dass Prometheus dabei ist, seine Messer zu wetzen«, hörte sie sich sagen.

Er nickte. »Das glaube ich auch.«

»Aha. Und wieso?«

»Na ja. Wer macht einen solchen Aufwand? Erst die ganzen Zettel in den Altersheimen. Jetzt diese Flyer …«

»Was für Flyer?«

Er grinste, und sie ahnte, dass er glaubte, sie in der Tasche zu haben. Sie beschloss, ihn ein bisschen zappeln zu lassen. »Was für Flyer?«, wiederholte sie.

»Eben habe ich mit einem … ähm … Kollegen vom Streifendienst telefoniert. Er hat erzählt, dass jemand im Bahnhof Friedrichstraße tonnenweise Flyer verteilt hat, auf denen dieser Kupferstich abgebildet ist.« Er nestelte sein Handy hervor, rief irgendeine App auf und drehte das Ding so, dass sie draufschauen konnte. Das Display zeigte den Kupferstich und denselben Spruch wie in dem Internetvideo.

Ihr werdet lernen, mich zu fürchten.

Allerdings hatten sie es hier nicht mit einem ausgedruckten Blatt zu tun wie bisher, sondern mit einem vermutlich über irgendeinen Onlinedienst gedruckten Pamphlet im Lang-DIN-Format.

Voss starrte es sekundenlang an. Dann reichte sie Lau sein Handy zurück. »Wenn Sie mit mir arbeiten wollen«, sagte sie so kühl wie möglich, »dann lügen Sie mich nie wieder an!«

Er zuckte zusammen, und die Haut rings um die roten Flecken auf seinen Wangen wurde blass. »Ich … ähm … lügen?«

»Sie haben behauptet, ein Kollege hat Ihnen von den Flyern erzählt. Aber Sie haben geschluckt, als Sie das sagten. Und das Foto«, sie wies auf das Handy, »hat Ihnen eine gewisse Mona geschickt. Ist das Ihre Freundin? Ihre Schwester? Auf jeden Fall jemand, der weiß, dass Sie liebend gern in diesem Fall mit mir ermitteln würden. Liege ich richtig?«

Erneut schluckte er, und dann tat er das einzig Richtige. Er nickte. »Ich weiß schon, warum ich unbedingt mit Ihnen arbeiten will.«

Sie konnte ein zufriedenes Lächeln nicht unterdrücken. »Also gut. Wenn Sie in der Lage sind, meine Launen auszuhalten, soll es mir recht sein. Sagen Sie das Tannhäus… ich meine natürlich Kriminaloberrat Tannhäuser.«

»Das … ähm … mache ich.« Ein Strahlen brach durch Laus Maske der bemühten Professionalität, und es kam Voss fast rührend vor.

Bambi, dachte sie erneut. »Aber, Lau«, grummelte sie. »Eine Regel gilt von jetzt an.«

»Natürlich. Welche?«

»Wenn Sie nochmal ähm sagen, trete ich Ihnen in den Arsch!«

»Ä…« Er klappte den Mund gerade noch rechtzeitig zu. »Natürlich, Frau Voss«, murmelte er.

Nach dem peinlichen und seltsam intensiven Intermezzo auf der Toilette fuhren sie alle drei zur Polizeistation in der Oudenarder Straße und erstatteten Anzeige, aber das Ganze erwies sich als verblüffend unbefriedigend. Als Tom zusammen mit Nina und Seifert dem diensthabenden Beamten von dem Überfall auf Seiferts Büro berichtete und davon, dass dieser Überfall vielleicht in Zusammenhang stand mit einem Mordfall in Tiflis, nahm der Mann ihre Anzeige zwar auf und trug auch überaus sorgfältig ihre drei Namen und Kontaktdaten in sein Onlineformular ein. Darüber hinaus allerdings hielt sich sein Arbeitseifer in Grenzen. Abgesehen davon, dass der Beamte ihnen versicherte, dass sich jemand bei ihnen melden und die Polizei der Sache weiter nachgehen würde, passierte nichts.

»Klassisch«, sagte Tom, nachdem sie wieder auf der Straße standen.

»Was meinen Sie?«

»Na, dieses Gefühl von Kontrollverlust. Die dadrinnen haben jetzt unsere Daten in ihrem System, aber wir haben keinen Einfluss mehr darauf, wie es von nun an weitergeht.«

Nina musterte ihn einen Moment lang, bevor sie ihm auf den Kopf zusagte: »Sie haben nicht die besten Erfahrungen mit der Polizei gemacht, oder?«

Er wollte grinsen, aber es misslang. Damit sie ihn nicht für einen Kriminellen hielt, beschloss er, ihr einen eigentlich gut verborgenen Teil seiner Jugendzeit zu enthüllen. »Antifa-Vergangenheit. Ist allerdings schon ’ne ganze Weile her. Mittlerweile bin ich seriös geworden.«

Nina schürzte die Lippen. »Verstehe.« Er hatte Sorge gehabt, dass sie die Antifa-Sache missbilligen würde, aber sie sah eher aus, als zweifele sie seinen Sinneswandel an.

Toms bester Freund hatte sich in all den Jahren, die er schon in Deutschland lebte, noch immer nicht daran gewöhnt, dass man hier erst den Vor- und dann den Nachnamen schrieb. Wang Bo stand mit filigranen Buchstaben in schwarzer Tinte auf dem Türschild, obwohl Wang sein Nach- und Bo der Vorname war. Das Tastenfeld neben dem Schild glänzte silbern und blitzsauber. Tom tippte die sechsstellige Zahlenkombination ein, die Bo ihm vor ein paar Monaten genannt hatte. Für Notfälle, hatte er gesagt. Tom war sich relativ sicher, dass er dabei nicht an Situationen wie diese gedacht hatte. Bo war unfähig, sich vorzustellen, dass ein Mann es mit nur einer Frau aushalten konnte.

Das kleine Lämpchen neben der Tastatur blieb rot. Irritiert gab Tom die Zahlen noch einmal ein. Hatte er sich vertippt?

Hatte er nicht. Offenbar hatte Bo die Kombination geändert und vergessen, es ihm zu sagen. Shit! In der Hoffnung, dass es etwas nützen würde, drückte Tom auf den Klingelknopf.

Die Kamera über der Tür glotzte ihn mit blankem Auge an. Während er wartete, fiel sein Blick auf Seifert, der sein Handy am Ohr hatte und schon wieder telefonierte, diesmal allerdings offenbar nicht mit seiner Assistentin, sondern mit einem Mann, den er überaus höflich, fast unterwürfig ansprach. So genau wie möglich setzte er ihn über die Ereignisse der letzten Stunde in Kenntnis. Tom war sich nicht sicher, ob das eine gute Idee war. Um sich von seinem unguten Gefühl abzulenken, ließ er seinen Blick die ruhige, vorortartige Straße entlangschweifen. Von ihren Verfolgern keine Spur, trotzdem ließ seine Unruhe nicht nach.

Die Russen können nicht wissen, dass du hier bist!, sagte er sich, aber es kostete Energie, es auch zu glauben. Sein Unterbewusstsein war in diesem Alarmmodus, in dem es den Feind dämonisierte.

Ninas und Seiferts Blicke ruhten auf ihm.

Seine Seite schmerzte.

»Tom?«, drang endlich Bos Stimme aus der Gegensprechanlage. Gleichzeitig sprang ein kleiner Monitor neben dem Tastenfeld an, auf dem nun Bos Gesicht erschien. »Hey, Alter! Wie geht’s?«

Tom warf einen letzten Blick in beide Richtungen, dann konzentrierte er sich auf seinen Freund, der sich den Geräuschen nach zu urteilen in einem Zug befand. Bos Stimme war überlagert von dem eintönigen Rattern von Zugrädern, die über unebene Schienen holperten. »Hast du deinen Türcode geändert?«, fragte Tom statt einer Begrüßung.

Bo schaute betreten. »Stimmt. Ja. Hatte neulich ein paar Probleme mit einer allzu anhänglichen Lady, die meinte, in mir den perfekten Ehemann gefunden zu haben. Sorry, hab vergessen, es dir zu sagen.«

Tom unterdrückte das klebrige Gefühl, das ihn so oft überkam, wenn Bo von seinen Frauengeschichten erzählte. »Kein Problem. Lässt du mich trotzdem rein? Ich brauche die Wohnung vermutlich für ein paar Tage als Rückzugsort.«

»Oha. Ärger mit Isabelle?«

Ja, dachte Tom. Aber schon länger. Er beschloss, diese willkommene Erklärung zu nutzen. »Leider.« Er grinste. »Wäre übrigens gut, wenn du den Schlüssel, den ich dir gegeben habe, in der nächsten Zeit nicht benutzt. Ich wohne für ’ne Weile nicht mehr zu Hause.« Er warf einen Seitenblick auf Nina, die mit ausdrucksloser Miene zuhörte.

»Geht klar. Hey, das renkt sich bestimmt wieder ein. Ihr beide seid doch das perfekte Traumpaar.« Bo grinste. »Ich schicke dir gleich den neuen Türcode. Dann bleibst du so lange, wie du musst.«

»Danke.« Hinter Bo fingen mehrere Menschen an, lautstark miteinander zu diskutieren. Tom hatte die Sprache, die sie benutzten, noch nie zuvor gehört. »Wo treibst du dich gerade rum?«

Bo warf einen Blick über die Schulter. Kurz wackelte sein Handy und zeigte einen ziemlich vollen Zug mit altmodischen Sitzpolstern und Menschen, die ostasiatisch aussahen. »Auf dem Weg nach Dschengisch«, erklärte Bo.

»Wo ist das denn?«

»Östlichstes Kasachstan. Ich bin mit einem Kamerateam von National Geographic unterwegs.«

»Cool!«

»Warte einen Augenblick.« Der Bildschirm wurde dunkel, es sah aus, als habe Bo das Handy auf dem Oberschenkel abgelegt. Toms Handy piepste und zeigte an, dass er eine Nachricht erhalten hatte. Gleich darauf war Bo wieder zu sehen. »Das ist der Türcode. Ich fürchte, der Kühlschrank ist leer, weil ich für mehrere Wochen unterwegs bin. Aber im Vorratsschrank dürften ein paar Lebensmittel sein, die ihr nutzen könnt.«

Ihr?, fragte sich Tom. Dann erst wurde ihm bewusst, dass Nina dicht genug hinter ihm stand, sodass Bo sie sehen konnte. »Ich schulde dir was«, sagte er.

»Spinn nicht rum!« Bo grinste breit. »Wechselt einfach die Bettwäsche, wenn ihr abhaut.«

Nina glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen, als sie Zeugin dieses Wortwechsels wurde.

Das war ja wohl das Allerletzte!

Sie funkelte Tom an, aber bevor ihr einfiel, was sie ihm an den Kopf knallen konnte, eskalierte der Streit hinter Bo. Jemand schlug so heftig gegen seine Rückenlehne, dass sein Kopf nach vorne geschleudert wurde. »Ich muss jetzt aufhören. Alles Gute für dich und …« Er verschluckte den Rest.

Tom nickte. »Danke. Bis bald.«

Immerhin war er rot geworden, dachte Nina. Der Anblick versöhnte sie ein wenig. Und als er auflegte und es danach vor Verlegenheit sogar vermied, ihr in die Augen zu sehen, starrte sie auf den Ring an seinem Finger. Er und seine Frau hatten Probleme, hatte er gesagt … Sie hatte den Mund schon auf, um ihm eine spitze Bemerkung um die Ohren zu hauen, aber er kam ihr zuvor.

»Wenn Sie auch nur einen Mucks dazu sagen«, warnte er, »dann erzähle ich Dr. Seifert, wie Sie die Klofrau schockiert haben!«

Zu ihrem eigenen Ärger wurde nun auch sie rot. »Ihr Freund arbeitet für National Geographic?«, fragte sie und hätte sich selbst ohrfeigen können für den unbeholfenen Themenwechsel.

Tom jedoch nickte einfach. Er schien sich jetzt wieder gefangen zu haben. Der Türcode gab die Eingangstür frei, und Tom ließ Nina den Vortritt. »Bo ist freier Journalist, wie Sie.«

Bevor sie eintrat, blickte sie kurz an dem freistehenden Einfamilienhaus in die Höhe, dann in den Eingangsbereich, der mit schwarzem Marmor gefliest war. »Er scheint um einiges besser zu verdienen als ich«, konstatierte sie. Die Einrichtung bestand aus Chrom und Glas, und allein die Wohnzimmergarnitur hatte so viel gekostet, wie Tom in manchem Jahr verdient hatte.

Seifert, der Bos Wohnung als Letzter betrat, pfiff leise durch die Zähne. »Ich glaube, ich habe den falschen Beruf.«

Tom schloss die Haustür und zog seine Lederjacke aus. »Das Haus stammt aus einer glücklichen Scheidung. Bo war ungefähr ein halbes Jahr lang mit einem Model verheiratet, bevor sie ihn mit einem Kollegen betrogen hat.«

»Aha.« Ninas Röntgenblick lag auf ihm, und er hätte gern gewusst, was sie dachte. Sie hatte natürlich mitbekommen, dass Bo von Isabelle geredet hatte. Aber warum kümmerte ihn das eigentlich? Die Umstände hatten ihn und Nina zusammengeführt, und sie war vielleicht der Schlüssel zu Sylvies Rettung. Kein Wunder also, dass sie ihn auf gewisse Weise interessierte.

Er ging voran durch den Wohnbereich in Bos offene Designerküche. Die Arbeitsplatte aus Naturstein war fast leer, nur eine Metallschale mit einem Granatapfel und einem schrumpeligen Stück Ingwer stand darauf – und zwei Flaschen ziemlich teuren Rotweins. Wenn es etwas gab, das sein Freund immer im Haus hatte, dann war es Alkohol. Tom holte tief Luft, als ihm bewusst wurde, dass seine Hand schon wieder schützend auf seiner verletzten Seite lag.

»Wo ist das Badezimmer?«, erkundigte Nina sich.

Er zeigte ihr den Weg in den rückwärtigen Teil des Hauses. Aber statt dorthin zu verschwinden, packte sie ihn am Oberarm, drehte ihn in die entsprechende Richtung und kommandierte: »Los!«

Im ersten Moment wollte er sich wehren, ließ es dann aber bleiben. Gegen Ninas Willen wäre er im Leben nicht angekommen. Er ließ sich von ihr in das ganz in Schwarz gehaltene und extrem protzig aussehende Bad führen.

»Schick!«, kommentierte sie trocken.

»Echt?« Unschlüssig, was nun passieren würde, blieb Tom mitten im Raum stehen. Seine Füße versanken bis zu den Knöcheln in einem schwarzen Badewannenvorleger. Die Luft roch wie in einem teuren Spa nach einer Mischung aus Lilien und Zimt.

»Natürlich nicht«, murmelte Nina und schoss einen Blick auf ihn ab, der ihm beinahe die Augenbrauen versengte. »Wo ist die Hausapotheke?«

»Keine Ahnung. Dadrin vielleicht.« Er deutete auf einen der schmalen Schränke. Nina öffnete ihn und kramte in einer ganzen Batterie von Medikamenten herum, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. Mit einer Flasche Wunddesinfektion und mehreren Päckchen Wundauflagen wandte sie sich zu Tom um. »Ihr Freund ist gut ausgestattet.« Sie legte alles auf die Ablagefläche neben dem Waschbecken.

Tom zuckte die Achsel. »Er ist viel unterwegs, und manchmal geht es da, wo er arbeitet, ziemlich rau zu.«

»Hat man gesehen, ja.« Mit dem Kinn deutete sie auf Toms Körpermitte. »Lassen Sie mich sehen!«, befahl sie.

Er war angespannt genug, um auf ihren forschen Tonfall mit einem blöden Scherz zu reagieren. »Sie gehen ganz schön ran, Frau Doktor.«

Statt darauf etwas zu erwidern, sah sie ihn nur finster an, und schlagartig kam er sich albern vor. Seufzend hob er sein Hemd. »Ist wohl nur gerecht, nachdem Sie sich vorhin vor mir ganz ausgezogen haben.«

Sie schaute mit einem Blick zu ihm auf, in dem mindestens genauso viel Verlegenheit wie Spott lag. »Träumen Sie weiter!« Sie zog sein Hemd hoch und bekam große Augen, als sie das Toilettenpapier sah, das er um seinen Leib gewickelt hatte. »Das ist nicht Ihr Ernst!« Entsetzt starrte sie ihn an. »Sie haben die Wunde nicht mit Toilettenpapier versorgt!«

»Sauberes Verbandsmaterial war gerade nicht im Angebot.«

»Wissen Sie eigentlich, wie viele Keime sich in öffentlichen Toiletten befinden? Ein Spülgang schleudert mal locker 600.000 Bakterien durch die Luft, und die landen auch auf dem Toilettenpapier. Kolibakterien, Salmonellen, Hepatitisviren …« Ruppig riss sie den Toilettenpapierwickel durch. Ein Teil davon klebte an seiner Seite fest, und Tom zog Luft durch die Zähne, als sie es von seiner Haut zupfte.

»Seien Sie doch nicht so rabiat!«

»Und stellen Sie sich nicht an wie ein kleines Mädchen, Sie Held!« Sie nahm eine Pinzette aus dem Schrank und löste auch die letzten Reste des Papiers von seiner Wunde.

»Das ist nur ein Streifschuss«, sagte er.

»Es ist tief genug, um sich zu infizieren.«

Sie roch gut, stellte er fest, und ihm wurde warm, als sie zu dem Desinfektionsmittel in Bos Schrank griff. »Sie hatten großes Glück. Die Kugel hat Sie wirklich nur gestreift. Mit der entsprechenden Versorgung sollte das in ein paar Tagen verheilt sein.«

Tom nickte. Der großzügig bemessene Sprühstoß aus der Desinfektionsmittelflasche, den sie ihm verpasste, jagte glühend heißen Schmerz durch seinen Körper. Ein Teil von ihm war froh darüber. Der Schmerz sorgte wenigstens dafür, dass sich bestimmte Teile von ihm nicht auf überaus peinliche Weise regten.

Nina sah, wie Toms Lippen blass wurden, als sie seine Wunde desinfizierte. Im Großen und Ganzen hielt er sich aber recht tapfer für einen Mann, dachte sie, während sie einen Verband um seinen Bauch wickelte. Um zu verdrängen, wie nah sie ihm dabei kam, zwang sie sich, an die Frauen zu denken, mit denen er offenbar früher schon in diese Wohnung gekommen war.

Ob seine Probleme mit dieser Isabelle daher kamen? Was geht es dich an? Mit einem verlegenen Räuspern verknotete sie die Enden des Verbandes, dann stellte sie die Desinfektionsmittelflasche zurück in den Schrank. »So. Fertig.«

»Danke.« Er ließ sein Hemd wieder über den Gürtel fallen. Die ringförmige Deckenleuchte spiegelte sich in seinen Augen und brachte deren Blau zum Strahlen.

»Kein Thema.« Sie atmete durch. »Wollen wir jetzt …« Ihre Stimme brach, und in der ersten Sekunde begriff sie nicht, was mit ihr geschah. Eine Art Schwindelgefühl erfasste sie, wieder fingen ihre Hände an zu zittern. Rasch wandte sie sich ab, um es vor Tom zu verbergen, doch sie war nicht schnell genug.

»Alles okay?«, fragte er, und als sie nicht antwortete, berührte er sie behutsam an der Schulter. Es war diese zögerliche Empfindung der Wärme seiner Haut, die den Damm brechen ließ. Auf einmal krachte alles, was passiert war, wie eine riesige Ladung eiskaltes Wasser auf sie nieder. Raubte ihr den Atem. Brachte ihr Herz zum Rasen.

Mühsam versuchte sie, Luft zu bekommen. Ein sonderbarer Laut entrang sich ihrer Kehle. Ein Wimmern. Gleichzeitig drohten ihre Beine unter ihr nachzugeben.

Tom fing sie auf. »Ganz ruhig!«, sagte er, während er die Arme um sie schlang und sie an seine Brust zog, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. »Keine Angst, das sind nur die Nachwirkungen Ihres Schocks.« Mit diesen Worten hielt er sie umfangen, sodass sie sich an ihn lehnen und sich ganz darauf konzentrieren konnte, gegen die Enge in ihrer Brust anzuatmen. Schwach ging von ihm noch der Geruch des holzigen Aftershaves aus, das er heute Morgen benutzt hatte, und sie sog ihn ein, so tief sie konnte. »Geht gleich …«

»Lassen Sie sich Zeit«, murmelte er in ihr Haar. Sein Atem strich über ihren Scheitel.

Sie schloss die Augen, überließ sich den Bildern, die durch ihren Geist taumelten … die schwarze Mündung einer Pistole, das laute Krachen des Schusses in Max’ Hausflur, der Anblick und der Geruch von Georgys Blut, die Explosion im Institut … Ein Schluchzen wollte in ihr aufsteigen. Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte sie dagegen an, und Toms Hände strichen ihr dabei über den Rücken. Wieder und wieder. Bis sie sich berappelt hatte und aus seiner Umarmung freimachte. Mit beiden Händen wischte sie sich über ihre Wangen. Wie peinlich! Sie hatte nicht einmal gemerkt, dass sie die ganze Zeit wie ein Schlosshund geheult hatte.

»Ich habe Ihr Hemd ganz nass …« Sie wich seinem Blick aus, war dankbar, als er auflachte.

»Völlig egal!« Er ging leicht in die Knie, um ihr von unten ins Gesicht blicken zu können. »Geht es wieder?«

Plötzlich war ihr seine Nähe unangenehm. Sie straffte die Schultern. »Ja. Danke.« Sie wich zurück. »Entschuldigung. Ich … Ach, verdammt!« Die Scham über ihren Zusammenbruch verwandelte sich in Ärger über sich selbst. Um sich nicht mehr ganz so blöd vorzukommen, trat sie noch einmal vor Bos Medikamentenschrank und kramte eine Packung Ibuprofen daraus hervor. Mit ihr in der Hand drehte sie sich zu Tom um. »Die sollten Sie nehmen«, sagte sie, verzweifelt um einen möglichst sachlichen Tonfall bemüht.

Er schüttelte den Kopf. »Lieber nicht!«

Sie glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. »Wer sind Sie? Superman, oder was? Ihre Verletzung muss doch höllisch weh…«

»Ich bin nicht Superman«, fiel er ihr ins Wort. Sein leicht verlegenes Lächeln erreichte seine ernsten Augen nicht. »Nur allergisch gegen Ibuprofen.«

Max starrte auf die Badezimmertür, die er von seinem Standpunkt in der offenen Küche aus sehen konnte. Was machten die beiden dadrinnen so lange?

Er bezähmte seine Fantasie – diesem Morell traute er einiges zu, undurchsichtig genug dazu war er schließlich. Aber Nina war viel zu rational und spröde, um jetzt schon auf den rauen Charme dieses Typen anzuspringen, oder?

Ihm wurde bewusst, dass ihm immer noch die Hände zitterten. Der Schock saß tief, dachte er. Vermutlich versuchte sein Verstand, ihn deshalb mit Gedanken über die beiden dort im Bad abzulenken. Um nicht allzu sehr in die schmutzigen Untiefen seiner Fantasie abzudriften, nahm er eine der Weinflaschen von diesem Bo und betrachtete sie.

Der Mann hatte einen erlesenen Geschmack. Weine in dieser Preiskategorie bekam er selbst nur zu trinken, wenn er mit den ganz Großen aus Politik und Wirtschaft zu tun hatte – und vor allem, wenn Frederic von Zeven mit von der Partie war.

Er seufzte beim Gedanken an den Großindustriellen und die Gala, die schon in drei Wochen über die Bühne gehen sollte und von der so vieles abhing.

Das Schicksal der gesamten Menschheit …

So hatte es von Zeven einmal in einem seiner seltenen Anfälle von Pathos genannt. Max selbst hatte dem Mann widersprochen, denn im Grund waren sie beide viel zu sachlich und vor allem wissenschaftlich zu erfahren, um ihre Aufgabe mit solch pseudoreligiösen Motiven zu rechtfertigen.

Er stellte die Weinflasche weg und nahm die andere zur Hand.

Es ging nie um die ganze Welt, außer in der Fantasie irgendwelcher zweitklassiger Drehbuch- oder Thrillerschreiber – und eben in den Köpfen der Anführer der Pandemic Fighters, die damit ihrem Kampf eine heroische Note zu geben versuchten. Genauso wahr war aber auch: Es ging um Menschenleben, weltweit gesehen um viele Menschenleben, und wenn er es nicht schaffte, dass diese Gala ein Erfolg wurde …

Er zwang sich, nicht weiter darüber nachzudenken und Hände und Füße stillzuhalten. Heute konnte er sowieso nichts mehr ausrichten. Besser also, er kriegte sich wieder ein.