Voss lehnte sich auf ihrem Schreibtischstuhl zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Ihr Schädel dröhnte von der Routinearbeit, die Tannhäuser ihr und Lukas aufgebrummt hatte, solange sie auf die Laborergebnisse dieser Quarkspeise aus dem Altersheim warteten: die Sichtung von Zeugenaussagen in einem gerade noch verhinderten Amoklauf in einem Einkaufszentrum. Die meisten Zeugen hatten so gut wie nichts gesehen. Genervt stoppte Voss die Aufnahme, die sie gerade anschauten, und ging stattdessen ins digitale Aktenarchiv, um zu checken, ob es im Fall Prometheus irgendwelche neuen Entwicklungen gab.
Die gab es tatsächlich. Zwei Kollegen von der Streife hatten einen Bericht online gestellt. »Offenbar wurden nicht nur am Bahnhof Friedrichstraße diese Flyer verteilt«, informierte sie Lukas, »sondern auch am Bahnhof Zoo und im Hauptbahnhof.« Sie ließ ihren Blick über die Meldung wandern. »Und zwar offenbar zeitgleich.«
»Das bedeutet?«
Sie verglich die in den Berichten angegebenen Zeiten. Sie stimmten so weit überein, dass es unmöglich nur ein Einzelner gewesen sein konnte, der die Flyer an allen drei Stellen ausgekippt hatte. »Das bedeutet zumindest, dass Prometheus nicht allein arbeitet. Es sei denn, er beherrscht die Kunst der Teleportation.«
»Oder die der mythischen Bilokation.«
Voss starrte Lukas kurz verständnislos an, bis er verlegen den Blick senkte und »Sorry«, murmelte. Sie verspürte einen Anflug von Enttäuschung, weil er so schnell klein beigab. Na ja. Das würde schon noch werden.
»Sehr witzig«, brummelte sie und machte sich im Kopf eine Notiz, dass hinter Prometheus kein Einzeltäter, sondern eine Gruppe stecken könnte. Dann klickte sie die Berichte zu. Sie beendete ihre fruchtlose Arbeit an den Zeugenaussagen, schrieb eine Mail an die Kollegen, die den Fall bearbeiteten, und griff zum Telefonhörer, um Dr. Jesper anzurufen, den Hausarzt, der die Heimbewohner von St. Anton betreute. Als sie ihn am Apparat hatte, fragte sie ihn, ob er schon wusste, was die Symptome der Altenheimbewohner hervorgerufen hatte.
»Bisher noch nicht. Es könnte alles Mögliche sein. Salmonellen wäre meine erste Vermutung. Oder Listerien. Das sind die beiden häufigsten Keime, die diese Form von Durchfall und Erbrechen verursachen.«
»Wie können solche Erreger in einer Quarkspeise landen?«, fragte sie.
»Na ja, bei Salmonellen braucht es nicht viel. Ein bisschen Unaufmerksamkeit und schlechte Hygiene in der Küche. Und Listerien entwickeln sich gerne in alten, länger nicht benutzten Wasserleitungen, aber das dürfte auf St. Anton kaum zutreffen. Das Heim ist vor wenigen Monaten erst eröffnet worden.«
»Könnten die Keime absichtlich dem Quark beigemengt worden sein?«
»Sie meinen als terroristischer Akt?«
»Könnten sie oder könnten sie nicht?«
»Hm. Möglich ist alles.«
Voss bedankte sich bei dem Arzt und legte auf. Danach klopfte sie eine Weile nachdenklich mit einem Kugelschreiber gegen ihr Kinn und ging die Infos über Bioterror durch, die sie sich angelesen hatte. All diese fiesen Stoffe, mit denen man Menschen in Angst und Schrecken versetzen konnte …
»Was denken Sie?«, fragte Lukas.
»Keine Ahnung. Die Tatsache, dass der Name dieses Altenheimes in diesem Video aufgetaucht ist, und zwar Stunden, bevor es in dem Heim den ersten Krankheitsfall gegeben hat, beunruhigt mich. Aber Salmonellen oder Listerien? Man sollte denken, dass Terroristen einen Anschlag mit etwas Größerem durchführen würden. Ebola oder Pest oder so. Oder Milzbrand zum Beispiel.«
»Anthrax?« Lukas schüttelte sich unwillkürlich.
»Genau. Und dann gibt es da auch noch die sogenannten Toxine. Rizin zum Beispiel. Eingeatmet löst es Husten und Lungenödeme aus, und wenn man es isst, innere Blutungen.«
»Gruselig«, murmelte Lukas.
Worauf du Gift nehmen kannst, dachte Voss und warf den Kugelschreiber auf ihren Schreibtisch.
Als Tom und Nina aus dem Badezimmer zurück in die Küche kamen, stand seine gesamte Seite in Flammen, aber er hatte schon genug Blessuren überstanden, um zu wissen, dass diese hier keine größeren Probleme bereiten würde. Seifert lehnte an der Arbeitsplatte und hielt eine von Bos Weinflaschen in der Hand. »Ihr Freund hat einen ziemlich guten Geschmack«, sagte er. »Meinen Sie, er hat was dagegen, wenn wir die köpfen?«
Tom schüttelte den Kopf. Er konnte selbst einen Tropfen gebrauchen. »Gläser sind in dem Schrank neben der Abzugshaube.«
Während Seifert die Gläser hervorholte und begann, in den Küchenschubladen nach einem Korkenzieher zu kramen, wandte sich Nina an Tom. »Jetzt sind Sie dran. Erzählen Sie mir mehr von Ihrer Tochter!«
Er konnte spüren, wie peinlich ihr ihr Zusammenbruch im Bad gewesen war, darum tat er ihr den Gefallen und reagierte, als habe es den kurzen Moment der körperlichen Nähe nicht gegeben. Er setzte sich auf einen der Hocker am Küchentresen. Statt Nina einen langen Vortrag über Sylvie zu halten, nahm er sein Handy heraus und rief den Vlog seiner Tochter auf. Erst wollte er Nina den gleichen Beitrag zeigen, den er auch Seifert gezeigt hatte, aber dann entschied er sich für einen anderen.
»Hallo, Leute«, ertönte die Stimme seiner Tochter. Die Worte zu hören zog ihm wie immer den Boden unter den Füßen weg. Er stützte die Ellenbogen auf den Tresen und verbarg das Gesicht in den Händen. Seifert hörte auf, in den Schubladen zu kramen, während sie alle drei Sylvies flacher Stimme lauschten. »Wie ihr ja wisst, liege ich seit einiger Zeit mit einer Lungenentzündung in der Klinik. Ich meine zusätzlich zu dieser blöden Mukoviszidose. Tja. Leider hat sich rausgestellt, dass es sich dabei um einen ziemlich fiesen Keim handelt, Pseudomonas. Ihr kennt das vielleicht unter dem Namen Krankenhauskeim. Sieht so aus, als würde der meine Lunge angreifen, darum bin ich in der letzten Zeit auch immer so schlapp und brauch schon zusätzlich Sauerstoff.« Sie deutete auf die Nasensonde. »Na ja. Sie testen jetzt, welches Mittel dagegen hilft, und ich denke mir einfach, es ist eben nur ein weiterer kleiner Tritt von diesem Arschloch, das das Schicksal manchmal ist. Ich halte euch auf dem Laufenden darüber, wie es weitergeht, okay? Bleibt zuver…«
Nina stoppte die Aufnahme mitten im Wort. »Ihre Tochter leidet unter Mukoviszidose?«
»Seit ihrer Geburt, ja.« Er deutete auf das Handy. »Wenn Sie mehr wissen wollen, müssen Sie die nächsten Einträge abspielen.«
Sie tippte ein paarmal auf den Pfeil, der sie zu dem jeweils folgenden Video führte, und entschied sich dann für eines davon. Wieder begann Sylvie mit »Hallo, Leute!«. Tom glaubte, ein leises Zittern in ihrer Stimme zu hören. Allein an der Art, wie Sylvie atmete, erkannte er, welchen Eintrag Nina ausgewählt hatte.
»Sie haben mir heute die Ergebnisse dieser DNA-Analyse gesagt. Ihr erinnert euch noch, oder? Sie haben Proben von meiner Spucke und meinem Blut genommen, um rauszufinden, unter welchem Stamm des Keims ich leide. Man macht das, um die Therapie besser abstimmen zu können. Na ja. Und wie es aussieht, hat sich das Mistding, das da in meinem Körper wütet, zu einem der widerstandsfähigsten Scheißkerle entwickelt, die es auf der Welt gibt. Es ist fast unangreifbar. So richtig viele Antibiotika wirken offenbar nicht mehr dagegen, aber wisst ihr, was noch viel schlimmer ist?« An dieser Stelle hatte Sylvie eine lange Pause gemacht. Obwohl Tom nicht auf das Handy sah, wusste er, dass sie die Kamera kurz von sich weggedreht hatte. Das Bild zeigte einen Ausschnitt des Krankenzimmers, genau achteinhalb Sekunden lang. Man sah einen Stuhl, ein Stück der hellgelb gestrichenen Wand und einen Kunstdruck mit Lilien darauf. Tom krampfte die Finger um seinen Schädel, während diese achteinhalb Sekunden verstrichen. Dann sprach Sylvie weiter: »Sie sind jetzt sicher, dass mein Vater mir dieses Mist-Resistenz-Gen samt Keim irgendwie aus Indien mitgebracht hat.« Sie seufzte schwer. »Ich kann mir kaum vorstellen, was das mit ihm gemacht hat, als Dr. Heinemann ihm das gesagt hat, Leute. Ich …«
Erneut stoppte Nina das Video. Ihr Blick lag schwer auf Tom.
Nina bedauerte Tom. Es passierte immer häufiger, dass aus Indien resistente Keime nach Deutschland kamen. Keime, die sogar gegen die hier noch zurückgehaltenen Reserveantibiotika unempfindlich waren. In Gedanken ging sie durch, was sie genau zu diesem Thema kürzlich für einen Artikel recherchiert hatte.
In den Gewässern rund um die Pharmafabriken im indischen Hyderabad existierten Bakterien, die sich mit einer Vielzahl von Antibiotika nicht mehr töten ließen. Auf den Wiesen neben diesen Gewässern weideten die Inder ihre Schafherden, wodurch die Bakterien auch in die Nahrungskette gelangten. Mehr als siebzig Prozent der Touristen brachten mittlerweile resistente Erreger aus Indien mit. Sie erkrankten daran nicht, trugen die gefährlichen Keime aber im Körper und gaben sie weiter. Welch ein unglücklicher Zufall, dass Tom ausgerechnet seine immungeschwächte Tochter mit so einem resistenten Keim angesteckt hatte.
Nina fröstelte. Toms Augen waren plötzlich rot, und der ernste Ausdruck in ihnen trieb ihr einen schmerzhaften Dorn ins Herz. Es war wirklich kaum vorstellbar, wie er sich fühlen musste.
»Gott, das tut mir so schrecklich leid!«, sagte sie und warf einen Blick in Max’ Richtung, der ähnlich betroffen wirkte wie sie.
Tom jedoch wehrte ihr Mitgefühl ab. »Lassen Sie uns einfach sehen, ob Sie ihr helfen können.«
Sie verstand, wieso er auf Distanz ging. Solange man die Dinge nicht zu dicht an sich ranließ, kam man einigermaßen klar. Aber in dem Moment, in dem jemand einem sein Bedauern zeigte, brach man schneller auseinander, als man es für möglich halten würde. Sie hatte es ja selbst vorhin im Badezimmer bewiesen.
»Natürlich. Wissen Sie, womit man Sylvie derzeit genau behandelt?«
Er zückte sein Handy und öffnete die Notizen-App, in der er sich die Namen notiert hatte. »Eine Kombination von Tobramycin und Ceftazidim oder Meropenem intravenös.«
Sie biss die Zähne zusammen, weil sie genug Artikel über das Thema Antibiotikaresistenzen geschrieben hatte, um die extremen Nebenwirkungen dieser Therapie zu kennen. »Okay. Moment.« Sie holte ihre Tasche, legte das Laborjournal auf den Tresen und das Ampullarium daneben. Behutsam klappte sie es auf, und ganz kurz schoss ihr ein beängstigender Gedanke durch den Kopf. Was, wenn dieser Russe unter seinem Stiefel ausgerechnet den Phagencocktail zermalmt hatte, der Sylvie retten konnte?
Sie zog eines der intakten Röhrchen aus der Halterung und starrte auf den zehnstelligen Code, den Georgy mit der Hand auf die Rückseite des Röhrchens geschrieben hatte. Es war einer seiner persönlichen Codes, das erkannte sie, aber sie wusste nicht, wie sie ihn entschlüsseln sollte. Sie biss sich auf die Unterlippe, steckte die Ampulle wieder weg und zog das Laborjournal heran.
Tom beobachtete sie dabei, wie sie es aufschlug und sich durch all die kaum leserlichen Aufzeichnungen blätterte, bis sie zu einer Seite ziemlich weit hinten kam. Dort hatte Georgy eine Liste mit einem Dutzend Zahlen notiert, deren Endziffern von 1 bis 12 durchnummeriert waren. Und tatsächlich: Die letzte der zwölf Kombinationen gehörte tatsächlich zu Pseudomonas aeruginosa! Georgys Phagencocktail Nummer 12 konnte Sylvie eventuell helfen. Ninas Herzschlag beschleunigte sich. Rasch verglich sie die einzelnen Einträge der Liste mit den Zahlen auf den vier verbliebenen Ampullen.
Keine davon trug die Nummer, die Georgy dem zwölften Cocktail in seiner Liste zugeordnet hatte, doch ihr Ziehvater hatte ja die Phagen in zwei verschiedenen Sendungen an Max geschickt. »Wo ist Georgys zweites Paket, Max?«
Max hatte mittlerweile den Korkenzieher gefunden und die Flasche geöffnet, den Wein aber noch nicht eingegossen, weil er schon wieder Nachrichten auf seinem Handy tippte. Er blickte nur kurz davon auf. »Bisher nicht angekommen.«
Tom, der sich während der vergangenen Minuten etwas aufgerichtet hatte, schien wieder in sich zusammenzusinken.
»Aber das kann durchaus sein«, fügte Max hinzu und legte das Handy weg. »Die Sendungen mussten beide durch den Zoll. Die erste musste ich da selbst abholen, weil sie bioaktive Substanzen enthalten hat.« Er grinste schmal. »Als ich den Typen beim Zoll erklärt habe, dass es sich um ›Apothekenphagen‹ handelt, haben sie mich wahrscheinlich für einen Esotrottel gehalten, der mit harmlosem Zeugs dealt. Aber vielleicht kommt uns das zugute. Ich habe nämlich beim Zoll angerufen, als ich Georgys Brief gelesen hatte, und die zweite Sendung angekündigt. Man hat mir versichert, dass man sie an die Post übergibt, ohne dass ich da eigens nochmal antanzen muss.«
Tom wandte sich an Max. »Aber wo ist diese zweite Sendung dann? Wissen Sie das?«
Max goss den Wein in die Gläser. »Wenn sie schon in der Post ist, kann sie eigentlich nur in meinem Postfach in den Schönhauser Allee Arcaden sein.«
Victor saß auf dem Hotelbett, hatte den Kopf gegen die Wand gelehnt und ein Knie angewinkelt. Auf seinem Oberschenkel ruhte ein einzelnes Blatt Papier. Er hatte es in Seiferts Wohnung aufgehoben, kurz bevor er und Misha sie wieder verlassen hatten. Jetzt glitt sein Blick noch einmal über die für ihn unleserlichen lateinischen Buchstaben. Jegor hatte ihm gesagt, dass es ein Brief von diesem Anasias an Seifert war. Er war in Englisch geschrieben und besagte unter anderem, dass Anasias die Phagensammlung zur Sicherheit in zwei verschiedenen Päckchen von Tiflis nach Berlin gesandt hatte.
Victor schloss die Augen und seufzte. Er konnte nur hoffen, dass ihnen diese Information irgendwie dabei weiterhelfen würde, diese Nina Falkenberg wiederzufinden. Zu blöd auch, dass diese kleine Schlampe den Sender entdeckt, ihn in dem U-Bahn-Waggon versteckt und sie damit gehörig an der Nase herumgeführt hatte. Sie hatten eine ganze Weile gebraucht, um zu kapieren, dass das Miststück ihnen entkommen war.
Jetzt waren sie gezwungen zu improvisieren, und er hasste Improvisation.
Das Hotel, in dem sie sich eingemietet hatten, lag nur fünf Gehminuten vom Bahnhof Friedrichstraße entfernt. Es war ein anonymes Kettenhotel, eins von dieser Sorte, bei der man per Handy einchecken konnte, ohne sich an der Rezeption melden zu müssen. Wenn ein Auftrag ihn in eine fremde Stadt führte, bevorzugte Victor diese Art Absteigen, weil sie nicht viel teurer waren als die meisten Pensionen, in denen er sich vorkam wie ein zweitklassiger Auftragskiller. Hier, in dem seelenlosen, aber modernen Ambiente mit hellem Holz, dunkelblauem Teppichboden und Kopfkissen, in die das Hotellogo gestickt war, konnte er sich einreden, ein ganz normaler Geschäftsreisender zu sein.
Er öffnete die Augen wieder und sah Jegor zu, der an dem winzigen Schreibtisch saß, sein Tablet vor sich aufgebaut hatte und in einer Tour darauf herumtippte und -wischte. Misha war unterwegs, um für sie alle etwas zum Abendessen zu besorgen, und Jegor hatte versprochen, die Schlampe und die Phagen wiederzufinden. Victor hatte keine Ahnung, wie er das anstellen wollte, aber er hatte nicht danach gefragt. Jegor hatte ihm nicht zum Vorwurf gemacht, dass die Fotze ihnen entkommen war, und darüber war er immer noch froh. Der Typ war ihm irgendwie unheimlich.
Und er war immerhin sein Auftraggeber.
Da Jegor sich seit über einer Stunde kaum gerührt hatte, wandte Victor den Blick von ihm ab und blickte aus dem Fenster, von dem aus man auf eine winzige Parkanlage schauen konnte, kaum mehr als eine Rasenfläche mit ein paar Bäumen und Büschen ringsherum. Zwei Kinder – kleine Jungs ungefähr in dem Alter, in dem Juri jetzt auch gewesen wäre – spielten Fußball, während ihre Mutter auf einer Bank saß und auf ihr Handy starrte. Darja hatte Juri nie aus den Augen gelassen.
Ja, aber am Ende hat auch sie nichts gegen den Krebs tun können …
Der Gedanke kam unvermittelt und so schmerzhaft, dass Victor Luft durch die Zähne zog.
Jegor blickte kurz auf, kümmerte sich dann aber um seinen eigenen Kram.
Victor verlegte sich wieder darauf, die beiden Jungs zu beobachten.
Eine Weile später stieß Jegor ein leises »Na also!« aus. Er tippte irgendeinen Link an und drehte das Gerät so, dass Victor einen Blick auf eine lange Liste mit Namen und Adressen werfen konnte.
Victor runzelte die Stirn. »Was ist das?«
»Eine Kundenliste.«
»Und? Wie hilft uns die weiter?«
Jegor lächelte, aber das Lächeln erreichte seine Augen nicht. »Das ist eine Kundenliste von der Deutschen Post«, sagte er. »Genauer gesagt, eine von ihren Postfachkunden.«
Victor wartete.
Auf Jegors Gesicht zeigte sich sein kaltes Lächeln. »Wir haben in Seiferts Büro alles durchsucht. Die zweite Phagensendung war nirgends. Was, wenn sie sich noch in seinem Postfach befindet?«
Es versetzte Tom in unerträgliche Rastlosigkeit, dass das Postamt bereits geschlossen hatte. Wie nur sollte er es schaffen, bis zum nächsten Morgen zu warten, bevor er erfuhr, ob sich die Medikamente, die seiner Tochter das Leben retten konnten, wirklich in Seiferts Postfach befanden? Aber es gab eine Menge zu besprechen, bevor sie die Phagen überhaupt brauchten, also fasste er sich mühsam in Geduld und hörte zu, wie Seifert und Nina über die medizinischen Aspekte von Sylvies Therapie diskutierten. Er verstand kaum ein Wort, was er aber sehr wohl spürte, war Seiferts Anspannung: Der Medizinlobbyist war von einer ähnlichen Unruhe gepackt wie er selbst. Seit einer Weile schon lief er ruhelos an der Küchenzeile auf und ab.
»Wenn eine Phagentherapie bei Sylvie tatsächlich anschlägt, wäre das eine Sensation! Wir könnten sie vielleicht auf der Gala nicht nur als Case study präsentieren, sondern sogar als Beweis für die Wirksamkeit von Phagen! Das würde die Zauderer unter den Abgeordneten mächtig zum Nachdenken bringen.«
Es ärgerte Tom, dass Seifert mehr an seinen eigenen Nutzen in dieser Sache dachte als an Sylvie. Bevor er ihn allerdings unterbrechen konnte, kam Nina ihm zuvor. »Stopp!«, sagte sie. »Nicht so schnell! Bevor wir überhaupt mit den ersten Tests anfangen können, brauchen wir nicht nur die Phagen aus der zweiten Sendung, sondern auch ein Labor, das uns hilft. Wir müssen Sylvies Arzt …«
»Ein Labor ist gar kein Problem!« Seifert strahlte regelrecht. »Ich kenne eins, das sich eignen würde. Es gehört Ethan Myers, er sympathisiert mit den Pandemic Fighters. Frederic von Zeven hat einiges Geld in seine Firma gepumpt, und ich bin sicher, wenn er hört, dass Sylvie unsere Sache unterstützt, wird Ethan uns sofort helfen. Wenn ihr wollt, kann ich ihn gleich anrufen.«
Es störte Tom, mit welcher Selbstverständlichkeit er davon ausging, dass Sylvie sich als das Gesicht seiner Bewegung zur Verfügung stellen würde, aber er beschloss, diesen Gedanken für sich zu behalten. Solange Seifert mit seinem Netzwerk dazu beitragen würde, Sylvie das Leben zu retten, sollte es ihm recht sein. Nach ihrer Genesung das ein oder andere Interview zu geben war schließlich ein geringer Preis. Oder?
»Die ganzen Tests und die Vermehrung und Aufbereitung von Klinikphagen sind extrem aufwändig«, sagte Nina.
Seifert winkte ab. »Egal! Wenn ich von Zeven bitte, ein gutes Wort für uns einzulegen, stellt uns Ethan auf jeden Fall zur Verfügung, was wir brauchen. Ich rufe ihn gleich mal an!«
Nina jedoch bremste ihn erneut. »Erstmal müssen wir wissen, wie wir vorgehen müssen.« Sie griff zum Telefon und wählte eine Nummer. Seifert hatte ihr mittlerweile ein Glas Wein auf den Küchentresen gestellt, aber sie hatte es noch nicht angerührt. Mit den Fingerspitzen drehte sie es im Kreis, während sie darauf wartete, dass die Verbindung zustande kam.
»Maren«, sagte sie, als am anderen Ende der Leitung jemand ranging. »Ich bin’s. Wie geht es dir?«
Die Antwort konnte Tom nur als unverständliches Murmeln verstehen.
»Da bin ich erleichtert«, erwiderte Nina, dann hörte sie einen Moment nur zu. »Ja. Ich habe es hier vor mir liegen.« Sie berührte das Journal. »Georgy hat es tatsächlich in Sicherheit gebracht, Maren! Und die Phagen auch. Wie wir vermutet haben, hat er alles an Max geschickt. Und ich sitze hier gerade mit ihm zusammen. Warte mal, ich stelle dich laut.« Sie schaltete die Lautsprecherfunktion an und legte das Handy auf den Tresen.
»Hallo, Max«, sagte eine rauchige Frauenstimme.
»Hallo, Maren«, grüßte Max zurück. »Schön zu hören, dass du wieder wohlauf bist.«
»Danke. Warum ist Max bei dir, Nina? Sag nicht, du vergräbst dich schon wieder in deine Arbeit!«
Nina trank einen Schluck Wein. »Nein oder vielleicht doch. Georgy wollte die Phagen wirklich der Allgemeinheit zur Verfügung stellen, Maren. Ich glaube, dass die Kerle, die ihn umgebracht haben, das verhindern wollten. Es kann sein, dass sie auch hinter mir her sind.«
»Wie bitte?« Maren klang alarmiert.
»Sie sind bei Max aufgetaucht und haben mich bedroht.«
»Um Gottes willen! Und das sagst du jetzt erst? Bist du in Ordnung?«
»Ja. Ja, mir fehlt nichts und Max auch nicht. Wir hatten Hilfe.« Sie tauschte einen längeren Blick mit Tom, und er glaubte, so was wie Dankbarkeit in ihren Augen zu sehen. »Aber darum rufe ich im Moment nicht an, Maren. Der Mann, der uns geholfen hat, ist nämlich gerade hier bei uns. Sein Name ist Tom Morell, und es kann sein, dass er im Gegenzug jetzt deine Hilfe braucht.«
»Meine Hilfe? Klar. Hallo, Herr Morell.«
»Hallo, Frau …«
»Conrad. Ermitteln Sie in dieser Sache?«
Sie hielt ihn für einen Polizisten. Klar. Das lag wohl nahe. »Nein«, sagte er.
»Tom ist kein Polizist«, erklärte Nina. »Er ist der Vater von … einem Mädchen, dem wir mit den Phagen vielleicht helfen können.«
Es ging Tom nahe, dass sie wir sagte. Er suchte ihren Blick, aber sie war zu sehr auf das Gespräch fokussiert, also betrachtete er ihre schlanken Finger und das Glas darin. Die Farbe des Weines war verblüffend hell dafür, dass er intensiv nach Pflaume und fast ein bisschen erdig roch.
»Wie das?«, fragte Maren.
Nina wandte sich an Tom. »Maren ist … war Georgys wissenschaftliche Kooperationspartnerin, und gleichzeitig ist sie eine gute Freundin von mir. Sie war dabei, als Georgy … starb.« Es schmerzte sie sichtbar, den Namen ihres Ziehvaters laut auszusprechen. »Maren wurde bei der Explosion ziemlich schwer verletzt, aber es geht ihr schon wieder besser.«
»Wenn man davon absieht, dass ich diesen elenden Krankenhausfraß satthabe«, scherzte Maren. »Aber morgen komme ich raus. Also raus mit der Sprache: Womit kann ich euch helfen, Nina?«
»Sylvie, das ist Toms Tochter, leidet an einem pan-resistenten Pseudomonas und ist leider so gut wie austherapiert. Ich habe gesehen, dass einer von Georgys Cocktails gegen Pseudomonas-Stämme wirkt. Glaubst du, dass er dem Mädchen helfen könnte?«
»Um das sicher zu prüfen, bräuchte man das aktuelle klinische Isolat des Stammes. Und gut wäre auch die Gen-Sequenzierung des Erregers. Ich würde aber denken, die Chancen sind groß, ja. Pseudomonas ist einer von den Dirty Dozen, und Georgy hatte aktive lytische Phagen für alle zwölf zusammengestellt.«
Die Chancen sind groß … Die Worte fluteten Tom mit einer Zuversicht, die er sofort wieder einzufangen versuchte. Er durfte nicht zu optimistisch sein, ermahnte er sich selbst. »Was sind die Dirty Dozen?«, fragte er.
»Man spricht bei den zwölf am weitesten verbreiteten multiresistenten Erregern von den sogenannten Dirty Dozen«, erklärte Nina. »Das sind die Erreger, gegen die am dringendsten neue Antibiotika entwickelt werden müssten. Die WHO hat 2017 definiert, welche zwölf Bakteriengruppen dazugehören. Pseudomonas aeruginosa ist eine von ihnen.« Ein trauriges Lächeln hob ihre Mundwinkel um einen Millimeter, und sie tippte auf das Ampullarium. »Georgy hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, gegen jeden dieser Keime die wirksamsten Phagen zu finden und zu einem potenten Cocktail zu kombinieren.«
So langsam bekam Tom einen Eindruck davon, warum die Russen hinter diesen Phagen her waren. Wenn es stimmte – wenn die unscheinbare Flüssigkeit in diesen Ampullen wirklich gegen die zwölf weltweit häufigsten multiresistenten Keime wirkten –, dann hielten sie hier einen wahren Schatz in Händen. Eine Art Fieber erfasste ihn, das er ganz ähnlich auf seinen Reisen verspürte.
»Was brauchen wir, wenn wir die Phagen haben?«, wandte sich Nina wieder an ihre Freundin.
Maren zögerte. »Hä? Hast du nicht eben gesagt, du hättest sie vor dir liegen?«
»Die Hälfte ja, aber Georgy hat sie in zwei Paketen verschickt. Die zweite Hälfte holen wir morgen früh.«
»Ihr wisst, wo sie sind …« Maren klang erleichtert. Sie schwieg eine Weile, und Tom stellte sich vor, wie sie über Ninas Frage nachdachte. »Okay. Wie gesagt, ihr braucht aktuelle Proben vom Pathogen des Mädchens und den Gen-Code des klinischen Isolates des Keims. Und dann braucht ihr jemanden, der sich mit der Phagenvermehrung in einem Fermenter oder im Hochdurchsatz auf Mikrotiterplatten auskennt. Ganz wichtig ist, dass ihr aktive lytische Phagen habt und keine temperenten.«
Tom verstand nur die Hälfte von dem ganzen Kram. Er umklammerte sein Glas, das er bisher kaum angerührt hatte.
»Eine Firma, die uns einen Fermenter zur Verfügung stellt, haben wir«, warf Max ein.
»Es könnte sein, dass wir auch noch ein paar passende Phagen zusätzlich isolieren müssen«, sagte Maren. Und bevor sich Tom darüber wundern konnte, dass auch sie plötzlich von wir sprach, fügte sie hinzu: »Du weißt, wie das geht, Nina. Klinikabwässer sind die besten Orte dafür. Ihr müsst … Wisst ihr was? Mein Forschungsvisum für Deutschland ist noch ein paar Monate gültig. Am besten komme ich nach Berlin und helfe euch!«
»Das können wir nicht …«
»Red keinen Unsinn! Jetzt, wo das Institut in die Luft geflogen ist, hält mich nichts mehr hier in Tiflis, und sobald ich aus diesem Drecksspital raus bin, könnte ich den nächsten Flieger nehmen und zu euch kommen, was meinst du?«
In Ninas Augen glitzerte es. »Das würde Georgy gefallen«, flüsterte sie.
Seifert hingegen war jetzt regelrecht Feuer und Flamme. »Du könntest den ganzen Prozess begleiten, Nina! Eine Reportage darüber schreiben. Ich könnte mir vorstellen, dass die großen Zeitungen sich darum reißen werden, wenn wir erst …« Wieder merkte er zu spät, wie sehr er voranpreschte. Seine Wangen glühten.
Tom brauchte einen Moment, bis er kapierte, in welcher Weise ihm hier gerade Hilfe angeboten wurde. »Ich bezahle Ihnen natürlich den Flug«, sagte er zu Maren, aber die lachte nur.
»Glauben Sie mir, Tom: Wenn wir mit Georgys Phagen tatsächlich das Leben Ihrer Tochter retten können, dann wäre das genau das, was Georgy gewollt hätte.«
Nina schloss bei diesen Worten die Augen. Tom hätte sie am liebsten an sich gezogen und festgehalten.