Es war weit nach Mitternacht, als Tom den Versuch zu schlafen aufgab, sich seine Jeans überstreifte und sich eins von Bos langärmligen T-Shirts borgte, weil sein eigenes Hemd mit Blut getränkt war. Er schnappte sich Feuerzeug und Zigaretten und ging raus auf die Terrasse vor Bos Wohnzimmer, um eine zu rauchen. Die Nacht war mild, es roch intensiv nach den riesigen trompetenförmigen Blüten einer Kübelpflanze, deren Namen Tom nicht kannte.
Er setzte sich auf einen der Gartenstühle, deren gebürstetes Aluminium sich kühl anfühlte, schüttelte eine Zigarette aus der Schachtel, steckte sie zwischen die Lippen und zündete sie an.
»Nettes Feuerzeug«, ertönte Max’ Stimme hinter ihm.
Tom ließ das Feuerzeug sinken und betrachtete das Einhorn darauf. Der kleine Strassstein glitzerte im schwachen Licht, das durch die Terrassentür nach draußen fiel und offenbar aus Bos Schlafzimmer kam. Tom selbst hatte kein Licht gemacht. »Hat meine Tochter mir geschenkt«, sagte er.
»Dachte ich mir irgendwie.« Max trat ein Stück vor. Auch er hatte sich Hose und Hemd übergezogen, aber genau wie Tom auf Schuhe verzichtet. »Irgendwie bin ich ja ein bisschen neidisch auf Sie.«
»Das können Sie nicht ernst meinen«, erwiderte Tom.
»Du«, sagte Seifert spontan, und er wiederholte es, als Tom nicht gleich reagierte. »Du. Leute, die sich zwischen mich und eine Kugel geworfen haben, dürfen mich Max nennen.«
»Gut. Tom.« Tom nickte Max zu. »Also: Das kannst du nicht ernst meinen.« Mit halb zusammengekniffenen Augen wartete er auf eine Erwiderung.
»Doch.« Max deutete auf das Feuerzeug. »Du gehörst zu der Sorte Mann, die sogar so ein Ding benutzen können und immer noch cool wirken.«
»Echt?« Tom legte das Feuerzeug zu den Zigaretten auf den Tisch. Er fühlte sich alles andere als cool. »Liegt vermutlich daran, dass mir egal ist, was die Leute von mir denken.«
»Kann sein.«
Tom hielt seine Kippe in die Höhe. »Willst du auch eine?«
Max schüttelte den Kopf. »Danke.« Er nahm sich einen der anderen Stühle und setzte sich. »Du kannst auch nicht schlafen, oder?«
»Nein.«
»Muss heftig sein. Das mit deiner Tochter, meine ich.«
Tom bewegte die Schultern, die sich irgendwie plötzlich verkrampft hatten. »Hmhm«, machte er nur.
»Nina und Maren werden ihr helfen, da bin ich ganz sicher. Und wie gesagt, ich stelle dir mein ganzes Netzwerk zur Verfügung! Alles, was ich tun kann.«
»Danke«, murmelte Tom.
»Sylvie ist …«
»Lass uns bitte im Moment nicht über Sylvie reden«, fiel Tom ihm ins Wort.
»Ich … oh. Na klar. Was immer du willst.«
Die Stille zwischen ihnen war erfüllt vom Duft der Blüten und von Beklommenheit. Tom wünschte sich, Max würde wieder reingehen.
Was Nina wohl gerade machte? Er und Max hatten sich für Gästezimmer und Wohnzimmercouch entschieden und Nina das Schlafzimmer überlassen. Hoffentlich konnte wenigstens sie schlafen, dachte er. Die Ereignisse des Tages hatten sie ausgelaugt, das hatte er ihr deutlich angesehen. Und trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – hatte sie sich wie eine Besessene in die Rettung von Sylvie gekniet. Sein Herz zog sich zusammen.
Ihm wurde bewusst, dass er schon eine ganze Weile an seinem Ehering herumdrehte. Da Max keine Anstalten machte, wieder reinzugehen, und das Schweigen langsam unangenehm wurde, sagte Tom: »Als ich bei dir war, hast du gesagt, dass du die Fighters in ihrem Kampf gegen Antibiotikaresistenzen unterstützt. Du hast deine Hände bei diesem Gesetz im Spiel, oder?«
»Das ARBG? Ja.«
Tom hatte in den vergangenen Wochen nicht mit dem Kopf im Sand gesteckt. Natürlich hatte er die Berichterstattung über das Antibiotikaresistenzbekämpfungsgesetz mitbekommen, und soweit er es verstanden hatte, ging es darum, dass die Bundesregierung mit diesem Gesetz die rechtlichen Voraussetzungen für den Kampf gegen Antibiotikaresistenzen schaffen wollte. Was genau beschlossen werden sollte, hatte er allerdings nicht in Ansätzen verstanden.
»Worum geht es dabei?«, fragte er.
»Sagt dir die DART 2021 was?«
»Nie gehört.«
»Im Grunde ist das eine dieser wachsweichen Absichtserklärungen der Bundesregierung. Mehrere tausend Wörter aneinandergereiht, die zusammengefasst nur eins aussagen: Man müsste etwas tun.« Max rümpfte die Nase, als könne er riechen, wie faul solche Papiere waren. »Die ursprüngliche Strategie wurde 2015 vom Bundeskabinett verabschiedet und beinhaltet sechs Punkte. Einer davon lautete, alle entsprechenden Forschungsbereiche in der Human- und Veterinärmedizin zu stärken. Nach einem spektakulären Therapieerfolg von 2019, bei dem in Großbritannien ein lungenkrankes Mädchen durch Phagen geheilt wurde, ist es uns gelungen, die Förderung der Phagentherapie als zusätzlich angestrebtes Mittel in diesen Punkt mit aufzunehmen. An der Harmlosigkeit des ganzen Papiers hat das natürlich nichts geändert. Aber dann kam Corona. Dadurch ist die Gefahr der Antibiotikaresistenzen stärker ins Bewusstsein der Menschen geraten.«
»Wieso das?«
»Erinnerst du dich an diese unsägliche Debatte, ob Menschen mit oder an Corona sterben?«
»Klar.«
»Dahinter steckt genau unser Problem. 91 Prozent der Intensivpatienten damals mussten mit Antibiotika gegen bakterielle Sekundärinfektionen behandelt werden. Und die verlaufen natürlich umso dramatischer, wenn die verabreichten Antibiotika nicht mehr wirken. Corona hat unseren Blick sozusagen wie durch ein Brennglas auf die Antibiotikaresistenzen gerichtet. Und diese Entwicklung verschärft sich gerade sogar noch. Wenn wir jetzt nichts tun, und es kommt eine neue Pandemie, wirken Antibiotika vielleicht überhaupt nicht mehr.«
Tom schloss die Augen. Das war ein wirklich beängstigender Gedanke.
»Sorry«, murmelte Max und sprach eilig weiter. »Wie dem auch sei. Corona hat zur Bildung einer neuen Kleinpartei geführt, der GPD, der Gesundheitspartei Deutschlands, die es auf Anhieb geschafft hat, in den Bundestag einzuziehen, wenn auch nur mit extrem knapper Mehrheit.«
All das wusste Tom natürlich auch. Die GPD rund um ihren Frontmann Volker Ahrens war auf der Bildfläche erschienen, noch während in Deutschland die ersten Impfzentren gegen Corona errichtet worden waren. Durch geschicktes Agieren und mit der ein oder anderen – natürlich ordnungsgemäß angemeldeten – Finanzspritze von Frederic von Zeven war es ihr nicht nur auf Anhieb gelungen, in den Bundestag einzuziehen. Sie hatte sich dort auch innerhalb weniger Wochen als Königsmacher entpuppt, indem sie einer schwarz-grünen Koalition die zur Regierungsmehrheit fehlenden Prozentpunkte geliefert hatte. Ein in der Geschichte der Bundesrepublik einmaliger Vorgang, der für reichlich Wirbel im politischen Berlin gesorgt hatte. Kurzzeitig hatte es Befürchtungen gegeben, dass mit der GPD eine neue antidemokratische Partei entstanden war, doch diesen Verdacht hatten Volker Ahrens und seine Truppe durch Worte und Taten direkt nach der Wahl geschickt ausgeräumt.
»Der Druck von der Straße, den die Fighters ausüben«, erklärte Max weiter, »hat dazu geführt, dass die großen Parteien den Kampf gegen Antibiotikaresistenzen auf ihre Agenda gesetzt haben. Zusammen mit der GPD wurde ein Gesetz ausgearbeitet, das Punkt sechs der DART in anwendbares Recht umwandeln soll. Mit anderen Worten: Wenn das ARBG durchkommt, ist die Bundesregierung in Zukunft verpflichtet, Mittel in ihrem Haushalt zur Verfügung zu stellen, und zwar von der Grundlagenforschung über klinische Forschung und Forschung zu Public-Health-Fragen bis hin zur Forschung in Zusammenarbeit mit Land- und Lebensmittelwirtschaft. Und noch eines muss dann endlich angegangen werden: die massenhafte Verfütterung von Antibiotika in der industriellen Tiermast.«
Darüber hatte Tom sogar selbst schon einmal in einem Artikel seines Foodblogs geschrieben. In der Massentierhaltung weltweit wurden mehr Antibiotika eingesetzt als für Heilungszwecke bei Menschen, und was noch viel schlimmer war: In der Geflügelmast griff man immer noch zu sogenannten Reserveantibiotika, Medikamenten also, die eigentlich nur in äußersten Notfällen beim Menschen eingesetzt werden sollten – wenn kein anderes Mittel mehr wirkte. Profitstreben und Gier, dachte Tom. Eigentlich lief es immer wieder auf das Gleiche hinaus.
»Wie dem auch sei«, fuhr Max fort. »Wir haben da bereits eine Menge investiert. Durch den Druck, den die Fighters auf die Straße getragen haben, hat sich die Bundesregierung genötigt gesehen, die Abstimmung über das Gesetz zur Gewissensfrage zu erklären, was uns zugutekam.« Max seufzte. »Allerdings sieht es aktuell trotzdem so aus, als würde dieses Gesetz scheitern.«
»Warum?«
»Das liegt an unserem föderalen System. Der Entwurf ist glatt durch die erste Lesung gekommen. Blöderweise hat der Bundesrat ihm dann aber die Zustimmung verweigert.« Max setzte zu einer längeren Erklärung an, in der die Worte Einspruchsgesetz, Vermittlungsverfahren und Einfluss der FDP in Länderparlamenten vorkamen und auf die Tom sich nicht so recht konzentrieren konnte. »Blöderweise fallen uns jetzt zwei Sachen auf die Füße: das mit den Phagen und die Aufhebung der Fraktionsdisziplin bei den Grünen. Eben weil wir die DART um Phagen ergänzt haben, passt sie plötzlich ein paar Abgeordneten der Grünen nicht mehr in den Kram. Da geht es um die Befindlichkeiten der grünen Basis.«
Tom dachte daran, was Nina heute in der U-Bahn gesagt hatte. »Wieso nicht? Wenn Phagen die grüne Alternative zu Antibiotika sind, müssten gerade die das doch toll finden.«
»So einfach ist es leider nicht. Du hast gehört, was Nina erklärt hat: Phagen sind Viren, und da liegt das Problem. Es geht um Ressentiments gegen virengestützte Therapien, Medikamentensicherheit, Gentechnik und so. Lauter komplizierter Kram, der am Ende darauf hinausläuft, dass wir jetzt zusehen müssen, wo wir die Mehrheit für die Überstimmung des Bundesrates herbekommen.«
»Wenn es nicht gelingt, dass der Bundestag den Einspruch des Bundesrates überstimmt, ist das Gesetz vom Tisch, oder?«
»Genau, obwohl das Verfahren sehr kompliziert ist. Kurz gesagt: Ein Einspruch des Bundesrates kann vom Bundestag überstimmt werden, aber dazu braucht es dann die gleichen Mehrheiten. Beschließt der Bundesrat den Einspruch mit absoluter Mehrheit zum Beispiel, kann der Bundestag ihn nur mit absoluter Mehrheit überstimmen. Legt der Bundesrat den Einspruch mit einer Zweidrittelmehrheit ein, braucht es, vereinfacht gesagt, im Bundestag eben zwei Drittel der abgegebenen Stimmen. Zum Glück ist das in unserer Sache nicht der Fall.«
»Du brauchst eine absolute Mehrheit, um das Gesetz durchzukriegen«, sagte Tom.
»Genau. Kommt die nicht zusammen, weist der Bundestag also den Einspruch nicht zurück, ist das Gesetz gescheitert, und das würde bedeuten: alles auf Anfang. Erneutes, zähes Ringen um einen neuen Gesetzestext. Endlose Monate, vielleicht sogar Jahre, die verschwendet werden und die die Bevölkerung angesichts der Bedrohung vielleicht nicht mehr hat.« Max sah ein bisschen verzweifelt aus. »Aus diesem Grund hat von Zeven mich engagiert, darauf hinzuwirken, dass entweder die Leute von den Grünen ihre Sorge vor Phagen verlieren – oder die FDP rund um Sandro Griese der Gesundheit der Bevölkerung den Vorrang gibt vor ihrer Sorge um den freien Markt.«
»Klingt wie der Kampf gegen Windmühlen«, sagte Tom. »Ein bisschen so wie bei Naturschutz und Klimawandel.«
»Tatsächlich ist das Problem ähnlich groß und überlebenswichtig wie der Klimawandel. Und beides hängt sogar eng zusammen. Guck dir nur Corona an. Da ist ein Virus vom Tier auf den Menschen übergesprungen, und das kann jederzeit wieder passieren. Vielleicht aber wird die nächste Pandemie auch von einem multiresistenten Bakterium verursacht – zum Beispiel von einem, das jetzt schon in den oberen Schichten des auftauenden Permafrostbodens auf uns lauert.«
Tom fröstelte. »Klingt alles nicht sehr optimistisch.«
»Genau deswegen kam von Zeven auf die Idee, mich diese Gala organisieren zu lassen, zu der wir Berlins versammelte Prominenz eingeladen haben. Wir hoffen, dass durch deren Agieren in den sozialen Medien genug Aufmerksamkeit für das Thema erzeugt wird, sodass die nötigen Abgeordneten die in unseren Augen richtige Entscheidung treffen.«
»Und an dieser Stelle kommt meine Tochter ins Spiel.«
»Genau.«
Hinter ihnen in der Wohnung knackte es, aber es war offenbar nur ein Deckenbalken. Der Garten lag dunkel und duftend vor ihnen.
»Eins kapiere ich nicht«, hörte Tom sich sagen. »Wenn die Gefahr durch Antibiotikaresistenzen so groß ist und sich darüber alle einig sind, warum tut dann niemand etwas dagegen?«
»Ganz einfach. Weil Antibiotikaforschung kein gutes Geschäftsmodell ist. Du forschst ewig, bis du einen Durchbruch erzielst und einen wirksamen Kandidaten findest. Du stellst die klinischen Studien an, die nötig sind für die Zulassung des Stoffes als Medikament. Das kostet Unsummen, und damit hört es ja noch lange nicht auf. Sind die klinischen Studien erfolgreich, brauchst du nochmal viel Geld, um die Produktions- und Vertriebsmaschine anzuwerfen. Und dann kannst du dein Produkt am Ende eventuell nicht einmal verkaufen, weil es als Reserveantibiotikum eingestuft wird und für schlimme Zeiten in den Giftschrank wandert.«
»Ich verstehe«, sagte Tom. Profitstreben und Gier. »Kein wirtschaftlich denkendes Unternehmen geht so hohe Risiken ein, wenn die Gefahr besteht, dass sie sich nicht auszahlen.«
»Genau. Wenn wir also wollen, dass neue Antibiotika entwickelt werden – oder meinetwegen auch alternative Heilmethoden gefördert –, kann das nur über staatliche Steuerung und Förderungen gehen. Über eine Refinanzierung der Pharmafirmen durch die öffentliche Hand. Zum Mäusemelken ist ja, dass die Verantwortlichen damals, unter Corona, auch handeln mussten und plötzlich vieles möglich war, was vorher völlig undenkbar erschien.« Max’ Gesicht lag fast vollständig im Schatten. »Ich hege ja irgendwie den Verdacht, dass das auch daran lag, dass die da oben immer dann am schnellsten etwas entscheiden, wenn sie von den Auswirkungen selbst betroffen sind. Hat man ja auch damals bei dem Mord an Walter Lübcke gesehen. Da haben die Politiker dann auch endlich mal kapiert, wie es sich anfühlt, wenn Rechtsradikale das eigene Leben bedrohen. Vorher haben das ja nur unwichtige Ausländer und Migranten zu spüren bekommen, und …«
»Was macht ihr, wenn ihr scheitert?«, unterbrach Tom ihn, weil das ein Thema war, über das er sich stundenlang den Kopf heißdiskutieren konnte.
Max schnaufte. »Tja. Gute Frage. Vielleicht überlege ich mir dann, einen multiresistenten Superkeim freizusetzen und eine neue Pandemie zu verursachen, damit die Verantwortlichen endlich aufwachen.« Er grinste düster, und Tom glaubte, neben Sarkasmus auch eine Spur Entschlossenheit aus seinen Worten herauszuhören. »Wäre natürlich Terrorismus, aber es würde vermutlich helfen.« Max überlegte. »Vielleicht würde es aber auch reichen, nur den Bundestag zu verseuchen. Wenn die Typen mal sehen, wie es sich anfühlt, selbst in Gefahr zu sein, schaffen sie es vielleicht, die richtigen Entscheidungen zu treffen.«
Tom nahm einen so tiefen Zug an seiner Zigarette, dass sich die Wunde an seinem Rippenbogen meldete. »Klingt ziemlich unangebracht.«
Max schnaufte. »Stimmt. Sorry.«
»Ich denke, der Weg, den du beschritten hast, ist der bessere.« Tom meinte wirklich, was er sagte, auch wenn er eigentlich sonst wenig von diesem ganzen Lobbyismus-Zeug hielt. »Und all das, von dem du eben gesprochen hast, also deine ganze Arbeit, finanziert dieser von Zeven?«
»Yep.«
»Was treibt ihn an? Ich meine, das muss doch Millionen kosten. Ich vermute mal, du bist mit deiner kleinen Firma nicht der einzige Lobbyist, der für ihn arbeitet.«
»Stimmt. Frederic von Zeven hat ein Kind verloren, und zwar an MRSA. Das ist übrigens auch einer von den Dirty Dozen, von denen Nina und Maren vorhin gesprochen haben. Seitdem stellt von Zeven sein gesamtes Vermögen und einen Großteil seiner Manpower in den Dienst unseres Kampfes.«
»Ein Kind verloren …« Tom lehnte den Kopf gegen die obere Kante der Rückenlehne. Ein leichter Windstoß wehte den Geruch der Blüten in seine Richtung und vertrieb kurz den Zigarettenrauch. Er schloss die Augen. Das Nikotin hatte ihn wenigstens ein bisschen entspannt. Vielleicht sollte er wieder schlafen gehen.
Er spielte ein paar Sekunden lang mit diesem Gedanken, und dann fragte er sich, warum er schon wieder an Nina denken musste.
Nina war in einen unruhigen Schlaf gefallen, kaum dass ihr Kopf das Kissen berührt hatte, aber dann hatte sie einen wirren Albtraum, in dem Georgys blutüberströmte Leiche, explodierende Bomben und eine Menge auf sie gerichtete Waffenmündungen vorkamen. Im Traum hatte sie die ganze Zeit den Eindruck, dass jemand hinter ihr stand, der ihr helfen wollte, aber jedes Mal, wenn sie sich umdrehte, war niemand zu sehen. Mit einem Knoten aus Trauer und Verzweiflung in der Brust schreckte sie hoch und fühlte sich unfassbar einsam.
Wenn Maren doch schon hier wäre! Dann hätten sie über alles reden – und vielleicht auch gemeinsam um Georgy weinen können. Georgy. Neunundneunzig Prozent von dem, wofür er gelebt hatte, waren unwiederbringlich zerstört. Tausende von wertvollen Therapiephagen, die zu finden und deren Wirkung zu untersuchen Dutzende von Wissenschaftlern mehr als hundert Jahre gebraucht hatten, waren bei der Explosion des Instituts in Flammen aufgegangen. Allein der Gedanke drehte Nina den Magen um.
»Ach, Georgy«, flüsterte sie und konnte die Trauer, die wie eine Scherbe in ihrem Herzen steckte, kaum ertragen.
Immerhin: Der größte Teil seines wichtigsten Schatzes war gerettet. Zehn von zwölf Superphagencocktails existierten noch. War das ein Trost? Irgendwie schon.
Toms Gesicht erschien vor Ninas geistigem Auge. Nach ihrem Gespräch heute Abend am Küchentresen war sie sich ziemlich sicher, dass sie ihm trauen konnte. Sie dachte an den Ring an seinem Finger und daran, was dieser Bo zu ihm gesagt hatte.
Es gab Probleme mit seiner Frau …
Sie nahm ihr Handy, öffnete den Browser und googelte Tom Morell. Sein Blog war gespickt mit Fotos exotischer Schauplätze, und auf einigen davon war er selbst zu sehen, stets in Jeans und diesen ausgelatschten Boots. An einem der Bilder blieb ihr Blick hängen. Tom hielt darauf einen ziemlich hässlichen Fisch in die Kamera, und sein Gesicht verschwand fast hinter der warzigen, rötlichen Haut des Tieres. Aber seine Hand mit dem Ring war im Vordergrund deutlich zu erkennen.
Seufzend klickte sie weiter, und bei einem Videointerview, das er vor ein paar Jahren gegeben und online gestellt hatte, blieb sie erneut hängen. »Ihre ganzen Reisen«, hörte Nina die Stimme einer Reporterin aus dem Off. »Sie sind doch bestimmt gefährlich, oder?«
Toms Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, und weil sich damals dieser ernste Ausdruck noch nicht in seinen Augen befunden hatte, wirkte es verblüffend jungenhaft. »Für manche Menschen ist Gefahr nichts weiter als ein Mittel, sich lebendig zu fühlen.«
Der Spruch rührte Nina völlig unerwartet an, und sie konnte sich nicht so recht erklären, warum. Eigentlich stand sie nicht auf solches Machogehabe. Bevor sie sich klar wurde, was sie tat, rief sie einen Messenger auf und schrieb eine Nachricht an Maren: Sieht irgendwie so aus, als stehe ich auf den Kerl.
Trotz der späten Stunde kam Marens Antwort prompt: Was für ein Kerl?
Tom.
Diesmal ließ Maren sich Zeit mit dem Schreiben. Ooookay, textete sie dann und setzte einen Zwinkersmiley dahinter.
Ach! Quatsch!, schrieb Nina. Ist vermutlich nichts weiter als ein stressbedingter Hormonstau …
Wieder dauerte es etwas, bis Maren zurückschrieb. Du meinst: Beziehungen, die aus extremen Erfahrungen hervorgehen, sind nicht von Dauer? Es war ein Scherz, den sie früher ab und zu gemacht hatten, nachdem sie beide in einem Biologieseminar über das Thema Hormone und zwischenmenschliche Beziehungen gesessen hatten. Möchtest du telefonieren?, fragte Maren.
Nicht nötig! Wollte das nur kurz mit dir teilen. Muss jetzt schlafen. Gute Nacht!
Nina wartete, bis Maren ihr ebenfalls eine gute Nacht gewünscht hatte. Dann warf sie das Handy auf den Nachttisch, lehnte sich zurück und verbannte Tom aus ihren Gedanken. Stattdessen dachte sie über Max’ Vorschlag nach, eine Reportage aus Sylvies Geschichte zu machen. Sie würde die vermutlich sogar richtig gut verkauft bekommen, und doch sperrte sich etwas in ihr dagegen. Auf keinen Fall wollte sie, dass Tom glaubte, sie wolle aus dem Leid seiner Tochter persönlichen Nutzen ziehen. Andererseits würde sie mit einem solchen Text mithelfen, das Thema der Antibiotikaresistenzen noch stärker ins Bewusstsein der Bevölkerung zu rücken. War das nicht wichtiger als ihre Sorge, Tom könne sich von ihr ausgenutzt fühlen? Sie grübelte über diesem Dilemma, bis sie endlich wieder müde wurde.
Als sie einschlief, kehrte der Traum von vorhin zurück.