Mittwoch.

1

Als Christina Voss an diesem Morgen ins Büro kam, checkte sie zuerst ihre Mails. Noch gab es keine Rückmeldung vom Labor, ob die Quarkspeise tatsächlich verseucht worden war, aber dafür eine Nachricht von Frau Gunther, der Pflegedienstleitung des Altenheims St. Anton. Zwei der Senioren waren im Laufe der Nacht aufgrund des Durchfalls wegen starker Dehydrierung ins Krankenhaus eingeliefert worden. Sie befanden sich im Moment noch in einem kritischen Zustand.

Voss biss sich auf die Innenseite der Wange und starrte aus dem Fenster. Dann nahm sie sich die Beweismitteltüten vor, die sie vorsorglich in ihrem Aktenschrank eingeschlossen hatte. Gestern Abend noch hatte sie sich Lukas geschnappt und war mit ihm zu allen drei Bahnhöfen gefahren, um einige der Flugblätter sicherzustellen. Jetzt lagen insgesamt drei verschiedene Versionen vor ihr. Das Bild war auf allen dreien das gleiche, aber die Parolen variierten.

Bevor sie sich näher damit befasste, stand sie auf und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. Genau in dem Moment, als sie die Kanne zurück unter den Ausguss schob, kam Lukas herein. Er atmete etwas zu schwer. »Du auch einen?«, fragte sie ihn. Sie hatte heute Morgen im Bett entschieden, dass sie den Grünschnabel auch genauso gut duzen konnte. Mal sehen, wie lange er brauchte, bis er genug Mut fasste und sich das auch bei ihr traute.

Er schüttelte den Kopf, rang ein letztes Mal um Luft und hängte dann seine Jacke auf. »Ich vertrage keinen Kaffee.«

»Echt?« Mit dem Becher in der Hand ging sie zu ihrem Platz und nahm den ersten der drei Flyer zur Hand.

Ihr werdet lernen, mich zu fürchten.

Lukas setzte sich ihr an einem zweiten Schreibtisch gegenüber. Er wirkte nicht unbehaglich mit ihrem Schweigen, ganz im Gegenteil. Er schien einfach geduldig darauf zu warten, dass sie ihre Gedanken zu Ende führte und ihn an ihren Überlegungen teilhaben ließ.

Kurz darauf war es Zeit für Tannhäusers Morgenbesprechung. Voss setzte die Kollegen über den Krankheitsausbruch in St. Anton in Kenntnis und auch darüber, dass der Name des Altersheims zuvor in einem Internetvideo aufgetaucht war. Tannhäuser gab Anweisung, das im Auge zu behalten und ihm sofort Bescheid zu geben, wenn die Laborergebnisse der Quarkspeise vorlagen. Nachdem auch alle anderen Kollegen das Team in ihren jeweiligen Fällen auf Stand gebracht hatten, verteilte Tannhäuser die neu hinzugekommenen Fälle.

»Wir haben gestern eine Anzeige von einem gewissen Dr. Max Seifert reinbekommen. Er gibt an, in seinem Büro von drei Männern osteuropäischer Herkunft überfallen worden zu sein. Seifert arbeitet als Lobbyist, und er hat enge Kontakte zu etlichen Bundestagsabgeordneten.« Was ausreichte, dass der Polizeiliche Staatsschutz den Fall an sich gezogen hatte, dachte Voss.

»Du bist sowieso schon in den Prometheus-Fall eingearbeitet«, wandte Tannhäuser sich an sie.

Irgendwie hatte sie es kommen sehen. »Ich übernehme das also auch noch.«

Tannhäuser zuckte mit den Schultern. »Ja. Dieser Seifert war gestern Nachmittag auf der Polizeistation in Abschnitt 17. Bei ihm waren zwei weitere Zeugen, eine gewisse Dr. Nina Falkenberg. Und ein Mann namens …« Er musste nachsehen. »Tom Morell. Offenbar ist geschossen worden. Und soweit die Kollegen es bisher aufgenommen haben, geht es um irgendwas mit Mikrobiologie und Medikamenten.«

Voss nickte. »Ich kümmere mich drum.« Sie würde Lukas damit beauftragen, während sie sich weiter um Prometheus kümmerte.

Als sie und der junge Polizist zurück im Büro waren, befahl sie ihm, sich mit dem neuen Fall vertraut zu machen.

»Viel geht aus diesen Zeugenaussagen nicht hervor«, sagte er, nachdem er damit fertig war. »Eigentlich nur das, was Tann… Kriminaloberrat Tannhäuser schon gesagt hat.«

»Gut. Bevor wir Kontakt mit den dreien aufnehmen, überprüf sie bitte routinemäßig.«

Auch das tat er schnell und effizient. »Weder diese Falkenberg noch Dr. Seifert tauchen in unseren Akten auf. Aber Tom Morell …« Er klickte einmal, dann las er vor: »Als Teenager ein paarmal in Verbindung mit linksextremistischen Straftaten aktenkundig geworden.«

»Aha. Was genau?«

»ACAB-Schmierereien. Offener Straßenkampf. Körperverletzungen, alles Prügeleien, offenbar mit Neonazis.«

»Sympathischer Kerl«, kommentierte Voss, und sie sah Lukas an, dass er ihre Worte für eine sarkastische Bemerkung hielt. Sie beließ es dabei.

»Frau Falkenberg hat angegeben, dass der Überfall ihrer Meinung nach mit dem Mord an einem georgischen Wissenschaftler in Tiflis zusammenhängt. Georgy Anasias.« Noch bevor sie es Lukas auftragen konnte, googelte er auch diesen Namen. »Hier. Anasias. Er ist Mikrobiologe und Arzt. Leitet ein Institut in Tiflis.«

»Mikrobiologe«, murmelte Voss. »Und die zwei anderen?«

Diesmal brauchte Lukas ein wenig länger für die Suche. Voss kramte unterdessen in ihrer Schublade nach etwas Essbarem. Sie fand einen Schokoriegel, aß ihn und betrachtete die Prometheus-Flyer, solange Lukas recherchierte.

»Die Falkenberg scheint freie Journalistin zu sein, schreibt unter anderem für den SPIEGEL und DIE ZEIT. Max Seifert ist PR-Manager. Wenn ich es richtig sehe, dann arbeitet er an einer Kampagne für irgend so ein neues Gesetz.«

»Was für ein Gesetz?«

»Moment. Das Antibiotikaresistenzbekämpfungsgesetz, kurz ARBG

»Gut. Sehen wir mal zu, dass wir die drei ans Telefon kriegen.« Sie ließ sich von Lukas die Nummer von Dr. Seifert diktieren. Bevor sie ihn jedoch anrief, versah sie den Aktenvermerk über die Anzeige der drei mit ihrer Kennung. Dadurch wurde allen anderen Abteilungen signalisiert: Dieser Fall, und damit sowohl Nina Falkenberg als auch Max Seifert und Tom Morell, waren von Interesse für den Polizeilichen Staatsschutz.

Max verspürte eine Art Kribbeln am ganzen Körper. Nach dem Gespräch mit Tom hatte er den Rest der Nacht nur kurz und unruhig geschlafen. Heute Morgen drängte ihn etwas raus an die frische Luft, er musste laufen.

Er kannte das schon, es überkam ihn kurz vor wichtigen Terminen oder Veranstaltungen. Es war ein Warnsignal seines Körpers, der ihm sagen wollte, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis es genug war. Bis der Stress so zunahm, dass er sich kaum noch davon erholen würde und gar ein Burn-out drohte.

Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, auf die Signale zu reagieren und Sport zu treiben, um den Stress zu bekämpfen. Heute Morgen jedoch schien es undenkbar, eine Runde zu joggen, mal ganz abgesehen davon, dass er keine Laufbekleidung dabeihatte. Der Gedanke, dass sie fast den ganzen Tag gestern vor bewaffneten Killern geflohen waren, steckte in seinem Verstand wie etwas Scharfkantiges, und dementsprechend nervös fuhr er zusammen, als sein Telefon klingelte. Auf dem Display erschien eine ziemlich lange Berliner Festnetznummer.

»Seifert?«, meldete er sich. Er stand in Bos Küche und versuchte vergeblich herauszufinden, wie die Kaffeemaschine funktionierte.

»Dr. Seifert, mein Name ist Kriminalkommissarin Tina Voss vom LKA Berlin. Ich rufe Sie an wegen der Anzeige, die Sie gestern Abend aufgegeben haben.«

»Ah«, machte Max. »Okay. Sie sind schneller, als ich gedacht habe, muss ich gestehen.«

»Können wir uns deswegen treffen? Ich hätte dazu einige Fragen an Sie.«

»Natürlich. Wann?«

»Von mir aus gleich.«

Max warf einen Blick auf die Uhr am Herd. Es war kurz vor halb neun, und auf keinen Fall wollte er Tom und Nina allein zu seinem Postfach gehen lassen. »Ich fürchte, ich habe gleich einen wichtigen Termin. Geht es heute Mittag oder am Nachmittag?«

»Natürlich. Sagen wir gegen drei Uhr?«

»Das müsste ich schaffen, ja.«

»Perfekt. Können Sie in das Dienstgebäude Tempelhofer Damm kommen?« Die Kommissarin gab ihm eine Zimmernummer und eine kurze Beschreibung, wie er in dem weitläufigen Gebäude dorthin finden konnte. Max notierte sich alles auf einem Stück Papier, das er in einer Schublade fand. Er wollte sich schon verabschieden, als Frau Voss meinte: »Ich werde gleich auch noch Dr. Falkenberg und Herrn Morell anrufen.«

»Das wird nicht nötig sein, die sind gerade bei mir. Sollen die beiden zu dem Termin gleich mitkommen?«

»Das wäre gut.«

»Ich frage sie«, versprach Max.

»Vielen Dank. Bis nachher.«

Nachdem die Kommissarin aufgelegt hatte, massierte Max sich die Stirn und seufzte. Bis die Post aufmachte und sie die Phagen holen konnten, war noch Zeit. Aber es gab so vieles, um das er sich vorher kümmern musste!

Er rief seine Assistentin an und hinterließ ihr eine Anweisung auf dem AB, wie der Saal bei der Gala bestuhlt werden sollte. Danach ging er ins Internet und checkte auf seinen Social-Media-Accounts, ob er auf irgendetwas reagieren musste.

Ein Tweet von Sandro Griese war das Erste, das in seiner Timeline aufploppte, das übliche Gewäsch, wenn auch rhetorisch geschickt verpackt, mit dem Griese die Pandemic Fighters in die Nähe von Linksextremisten rückte. Nichts Neues also. Max scrollte weiter, allerdings nicht schnell genug. Sein Puls war schon wieder auf hundertachtzig geschossen. »Griese, du Arsch!«, murmelte er.

»Alles okay? Du siehst gestresst aus.« Tom stand in der Tür des Gästezimmers. Wie in der Nacht auch hatte er sich offenbar nur schnell seine Jeans übergestreift. Sein langärmeliges T-Shirt sah aus, als hätte er darin geschlafen.

Max zuckte mit den Schultern, und Tom kam zu ihm an den Tresen, um sich einen Kaffee zu machen. »Wer ist Griese?«

»Ein Bundestagsabgeordneter. FDP

»Oha.« Tom grinste, während er sich eine Tasse aus einem der oberen Schränke nahm.

»Griese ist ein Idiot.« Allein über diesen Kerl zu reden, verursachte Max einen dumpfen Druck im Hirn. »Er versucht alles, um unsere Bemühungen zu hintertreiben, dieses verdammte Gesetz durchzubringen.«

»Lass mich raten«, meinte Tom. »Freier Markt und so?«

Nun musste Max wider Willen grinsen. »Genau.« Tom gefiel ihm von Stunde zu Stunde besser. »Wie geht es der Wunde?«, erkundigte er sich in dem Versuch, das Thema von Griese wegzulenken.

Morell jedoch ignorierte die Frage. »So wie du auf den Mann zu sprechen bist, ist er einer derjenigen, deren Stimme du für dein Gesetz brauchst, oder?«

»Es ist nicht mein Gesetz, aber im Grunde ja. Griese ist Fraktionsvorsitzender der FDP, und anders als CDU und Grüne haben die Liberalen die Fraktionsdisziplin nicht aufgehoben. Wenn ich ihn also von dem Gesetz überzeugen könnte, wäre es egal, ob einige Grüne dagegenstimmen.«

»Verstehe.« Tom stellte seine Tasse unter die Auslassöffnung von Bos High-End-Kaffeevollautomaten. »Tja.« Er drückte auf das Display, wählte irgendeine der vielen kryptischen Einstellungen, und das Gerät fing tatsächlich gehorsam an zu arbeiten.

Max sog den Duft des Kaffees ein. »Griese ist ein Arsch! Er bezeichnet die Fighters als weltfremde Irre.«

»Und das empfindest du als persönliche Beleidigung.« Tom grinste. »Du identifizierst dich ganz schön mit denen.«

Max rümpfte die Nase. »Frederic von Zeven ist für Griese ein gefährlicher Spinner.«

»Immerhin denkt er nicht, dass von Zeven das Blut von Kindern trinkt.«

»Immerhin das!« Max lachte trocken. Dann fiel ihm sein Telefonat mit Kommissarin Voss ein. »Übrigens hat die Polizei sich eben bei mir gemeldet, wegen unserer Anzeige. Wir haben nachher um drei einen Termin bei denen.«

»Gut«, sagte Tom, sah aber nicht besonders begeistert aus.

Die Filiale, in der Max sein Postfach hatte, öffnete Punkt neun. Sie lag im Erdgeschoss der Schönhauser Allee Arcaden im Stadtteil Prenzlauer Berg, einer der üblichen Malls mit den üblichen Geschäften. Ungefähr eine Viertelstunde nach neun und nachdem sie ihre Handynummern getauscht hatten, fuhr Tom zusammen mit Nina und Max in Bos silbernem Audi auf einen Parkplatz vor der Mall. Er hatte sich den Wagen ebenso geborgt wie das Langarmshirt, das er schon in der Nacht übergestreift hatte, und es noch durch einen von Bos Hoodies ergänzt, den er unter seiner Lederjacke trug.

Die Post besaß einen Zugang von der Greifenhagener Straße aus und einen weiteren durch die Passage, das wusste Tom, weil er früher ab und zu mit Isabelle hier einkaufen gewesen war. Shoppen, dachte er, während er den Motor des Wagens abstellte. Isabelle nannte es Shoppen, nicht Einkaufen.

Er blieb eine Sekunde lang hinter dem Steuer sitzen, dann gab er sich einen Ruck und stieg aus. Max und Nina taten es ihm gleich, und Nina warf ihm über das Wagendach hinweg einen Blick zu. Er grinste sie an und hatte dabei das ungute Gefühl, dass sie innerlich die Augen verdrehte.

Auf dem Weg zum Eingang wich er dem Kinderwagen einer Frau aus, die ihn nicht bemerkte, weil sie im Gehen mit einem kleinen Jungen an ihrer Hand schimpfte. Allein Toms schneller Reaktion war es zu verdanken, dass der Wagen ihn nur streifte, die Berührung reichte allerdings, um die Wunde an seiner Seite protestierend aufjaulen zu lassen. Tom zog Luft durch die Zähne. Die Frau schaute ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und Ärger an.

»Mama?«, fragte der Junge. »Was hat der Mann?«

Sie gab ihm keine Antwort, sondern zerrte ihn einfach weiter.

»Alles okay?«, fragte Nina. Die Frage hatte sie ihm bereits nach dem Aufstehen gestellt, und da hatte er sie mit einem schlichten Ja beantwortet.

»Klar«, meinte er jetzt. Er hatte sich heute Morgen den Verband gewechselt und war relativ zufrieden gewesen damit, wie die Wunde sich entwickelt hatte. Trotzdem hatte er auf dem Weg hierher bei einer Apotheke gehalten, sich eine Packung mit Diclofenac-haltigen Schmerztabletten gekauft und zwei davon genommen.

Zusammen mit Nina folgte er Max, der bereits auf die Post zumarschierte. Seine Blicke schweiften dabei über den Parkplatz und die schmale Straße entlang. Es war sonnig und schon relativ warm und dementsprechend viele Menschen waren unterwegs. Er sah Familien mit Kindern, Business-Leute, die mit überaus gestresst aussehenden Mienen von A nach B hasteten, ein altes Ehepaar auf dem Weg in die C&A-Filiale.

Keine Spur von den Russen.

Trotz der frühen Stunde war es auch in der Postfiliale voll. An drei von vier Schaltern standen bereits Leute an. Ungefähr ein Dutzend Werbeaufsteller und eine Reihe brusthohe Regale mit Büromaterialien und Briefumschlägen teilten die große Halle in mehrere nur schwer einsehbare Zonen.

»Hey, jetzt machen Se mal hin!«, hörte Tom eine Frau schimpfen. »Dit hier is Berlin und nich die Bernauer Hochalm!«

Eine junge Frau, die einen Koffer hinter sich herzog, hätte Tom angerempelt, wenn er diesmal nicht schneller gewesen wäre als bei der Mutter mit dem Kinderwagen.

Max hatte sich nach rechts gewandt, wo sich eine mehrere Meter lange Wand aus postgelben Schließfächern befand. Eine grauhaarige Frau stand davor und war dabei, etliche großformatige und ziemlich dicke Briefe aus einem davon zu nehmen und sie mit der Geschwindigkeit einer Wanderdüne in eine violette Kiste zu sortieren. Sie nahm jeden Brief einzeln aus dem Fach und behandelte ihn dabei so vorsichtig, als sei er zerbrechlich. Antiquariat Stockhausen stand in weißen Buchstaben auf der Seite der Kiste. Tom atmete aus.

Ninas Kopf wanderte zu ihm herum, aber sie schwieg. Er hätte gern gewusst, was in ihr vorging. Kurz vor dem Morgengrauen hatte er sie in ihrem Zimmer unruhig auf und ab wandern hören. Er war sich nicht ganz sicher gewesen, aber er hatte den Eindruck gehabt, dass sie in der Nacht auch leise geweint hatte.

»Okay«, sagte er und wandte sich an Max. »Beeil dich.«

Max steuerte zielstrebig auf eines der kleineren Fächer zu. Er schloss es auf und zog ein paar Briefe und ein Päckchen heraus, das dick genug war, um ein Ampullarium zu enthalten. »Bingo!«, sagte er und zeigte Nina die mit der Hand geschriebene Anschrift und den Absender.

»Er ist wirklich von Georgy!«, hauchte sie.

Toms Herz schlug schneller. Er ahnte, dass der Anblick des Päckchens sich wie ein Boxhieb in ihre Magengrube anfühlen musste. Mit zitternden Händen nahm sie es Max ab, und bevor Tom sie daran hindern konnte, riss sie es auf. Er schob sich schützend zwischen die Wartenden und sie, um sie vor fremden Blicken abzuschirmen.

»Da sind sie!«, flüsterte sie. Sie hielt ein zweites Kästchen in die Höhe, das dem in ihrer Tasche zum Verwechseln ähnlich sah. Mit fliegenden Fingern zerrte sie das Laborjournal heraus und drückte es Tom in die Hand. »Halten Sie mal!«

Während er gehorsam als ihr Stehpult fungierte, damit sie die Nummern der Ampullen mit denen im Journal vergleichen konnte, wuchs in ihm der Wunsch, von hier zu verschwinden. Sein Blick huschte beunruhigt durch die Halle, aber niemand schenkte ihnen auch nur die geringste Aufmerksamkeit. Die grauhaarige Frau von dem Antiquariat sortierte immer noch ihre Post.

»Nina …«, sagte er, aber sie war ganz auf die Ziffernkombinationen konzentriert. Er sah zu, wie die Antiquarin ihre Kiste hochhob, sie mit schmerzverzerrter Miene wieder abstellte und die Hände gegen ihren Rücken presste.

»Da ist es!« Triumphierend blickte Nina von dem Journal auf und tippte auf eines der Röhrchen in dem neuen Kästchen. Es war das ganz rechts in der Reihe, und die beiden letzten Ziffern seiner Kennnummer lauteten 12. Schlagartig hatte Tom alles andere ringsherum vergessen. Da vor ihm, direkt vor seinen Augen, befand sich das Medikament, das Sylvies Leben retten konnte! Vor Erleichterung wäre er beinahe in die Knie gegangen. Er wollte etwas sagen, aber ein in seiner Jugend und auf den entlegensten Märkten der Welt geschulter Instinkt sorgte dafür, dass sich die Haare in seinem Nacken aufstellten. Er fuhr herum.

Draußen vor der automatischen Tür der Postfiliale stieg einer der Russen aus einem dunkelroten Van.

Fuck!

Hastig packte Tom sowohl Nina als auch Max und zog sie zu sich hinter einem der Regale in Deckung.

Ninas Augen weiteten sich. »Was ist?«

»Die Russen sind hier.« Vorsichtig spähte Tom um das Regal herum. Der Mann, der soeben aus dem Van gestiegen war – es war der Typ mit dem Tablet und der Glatze –, steuerte direkt auf den Eingang der Postfiliale zu. Der Hüne, der Nina auf dem Flughafen verwanzt hatte, folgte ihm.

Die beiden unterhielten sich. Die Antiquarin versuchte erneut vergeblich, ihre schwere Kiste hochzuheben. Tom konnte ihr leises Ächzen hören.

Glatzkopf und der Hüne betraten die Post.

»Scheiße!«, hörte Tom Max wispern. »Woher wissen die, dass wir hier sind?«

Tom beobachtete, wie die beiden Männer sich umschauten, und plötzlich war er heilfroh über die vielen Menschen. »Wissen sie nicht«, murmelte er. »Sie vermuten es nur.«

Linker Hand drängte sich der Hüne an der Menschenschlange vor den Schaltern vorbei. Sein Blick schweifte durch die Halle, und er ging dabei unglaublich methodisch vor. Nicht zum ersten Mal wurde Tom bewusst, dass die Männer Profis waren. Er war sicher, dass irgendwo da draußen auch noch der dritte Kerl lauerte, derjenige, der Nina in Max’ Wohnung die Waffe unter die Nase gehalten hatte.

Glatzkopf drehte ihnen den Rücken zu und entfernte sich von ihnen. In Tom verkrampfte sich alles. Die Russen durften die Phagen auf keinen Fall bekommen, sonst war auch noch Sylvies letzte Hoffnung zunichtegemacht.

Er wartete den Moment ab, in dem zwei über Eck aufgestellte Werbebanner ihren Verfolgern die Sicht versperrten.

»Laufen Sie!«, flüsterte er und deutete auf den rückwärtigen Eingang der Post.

Nina reagierte augenblicklich. Sie schob das Ampullarium in die Tasche ihrer Jacke, packte Max’ Hand und zerrte ihn mit sich. Ziemlich geschickt achtete sie darauf, dass die Menschenschlangen sie vor den Blicken des Hünen verbargen.

Der Glatzkopf war stehen geblieben. Er drehte sich langsam um die eigene Achse, aber zu Toms Erleichterung in die falsche Richtung, weg von Nina und Max. Der Hüne kniff suchend die Augen zusammen, und Tom wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb, bis er entdeckt wurde.

Mit einer schnellen Bewegung zog er sich die Kapuze des Hoodies über den Kopf. Dann huschte er geduckt zu der Antiquarin, die sich gerade daranmachen wollte, einen Teil ihrer Briefe zurück in das Postfach zu räumen. »Warten Sie«, sprach er sie leise an. »Ich helfe Ihnen.« Und bevor sie protestieren konnte, beugte er sich über ihre schwere Kiste und verbarg das Laborjournal zwischen den Umschlägen. Dann schnappte er sich die Kiste und trug sie zum Ausgang, wobei er darauf achtete, dass er den Russen den Rücken zuwandte.

Die alte Frau folgte ihm irritiert.

Ninas Herz jagte, als sie und Max durch den rückwärtigen Eingang der Postfiliale in die Mall hinausstolperten. Ihr Blick zuckte nach rechts, dann nach links. Wohin sollten sie? Nur ein paar Meter voraus befand sich ein Seitenausgang, durch den man auf einen Vorplatz gelangen konnte. Nina war schon auf halbem Wege dorthin, doch dann blieb sie wie angewurzelt stehen. Vor der doppelflügeligen Schwingtür stand ein Mann. Er trug Lederjacke und hatte beide Hände tief in den Taschen vergraben, aber es war deutlich zu sehen, dass er jemanden suchte. War das der Typ, der gestern mit einer Maske über dem Kopf in Max’ Büro gestürmt war und ihr die Waffe unter die Nase gehalten hatte?

Nina packte Max am Arm und zerrte ihn hinter sich her in den Lifestyle-Laden direkt neben der Postfiliale. Der süßliche Duft von Raumparfüm stieg ihr in die Nase.

»Was soll …«, keuchte Max, doch sie ließ ihn nicht ausreden. Sie stieß ihn hinter einen der pyramidenförmigen Warentische, der wie eine Insel im Laden aufragte und gefüllt war mit Kochtöpfen, Pfannenwendern und allerlei überteuerten Gewürzen. Um die Ecke der Pyramide herum spähte sie nach draußen.

Der Russe blieb direkt vor der Ladentür stehen und drehte sich suchend um seine eigene Achse. Ninas Herz stockte, als sie dabei für einen Sekundenbruchteil unter seiner Lederjacke den Griff einer Waffe sah.

Atemlos suchte sie nach einem Fluchtweg. Die rückwärtige Ladentür führte direkt nach draußen ins Freie. Sorgsam peilte Nina die Lage. Wenn sie sich in gerader Linie zurückzogen, würde die Pyramide sie die meiste Zeit vor den Blicken ihres Verfolgers verbergen. Nur auf den letzten zwei Metern nicht, da mussten sie einen der niedrigeren Präsentationstische umrunden, der genau zwischen ihnen und dem rettenden Ausgang lag. Das Ding war vollgestellt mit ganzen Batterien von Raumduftdiffusoren und Glasflaschen mit Rattanstäbchen. In einem Aufsteller entdeckte Nina Samtetuis mit kleinen Glasfläschchen, allesamt Nachfüllpackungen für die Duftöle.

Sie biss sich nachdenklich auf die Lippe.

»Los«, sagte sie zu Max. »Raus hier!«

Die Wunde an Toms Seite protestierte gegen das Gewicht der Bücherkiste, aber er spürte den Schmerz kaum. Das Adrenalin ließ seine Ohren kreischen.

»Da ist er!«, stieß der Glatzkopf hervor.

Tom unterdrückte einen Fluch. Er hatte gehofft, dass die Kapuze und die Begleitung der Antiquarin ihn ein bisschen länger unsichtbar für seine Verfolger sein lassen würden. Blitzschnell musste er eine Entscheidung treffen. Er würde seine Verfolger von dem Laborjournal weglocken. »Sorry!«, stieß er hervor, ließ die Kiste auf den Boden krachen und drängte sich durch die Menschenmenge in Richtung Ausgang.

Glatzkopf schrie etwas, diesmal auf Russisch.

Toms Herz raste. Er sprintete aus dem Laden und hastete über die Greifenhagener Straße. Ein weißer Mercedes stoppte mit quietschenden Reifen nur Zentimeter vor seinen Beinen. Toms Hände krachten auf die Motorhaube.

»Hast du sie noch alle?«, schrie der Fahrer aus dem offenen Fenster.

Tom rannte weiter. Eigentlich wollte er zu Bos Audi, aber als er den Streifenwagen sah, der am Straßenrand geparkt war, verlangsamte er seine Schritte. Der Polizist am Steuer hatte seinen Beinaheunfall gesehen. Er öffnete die Tür des Streifenwagens und stieg aus.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte er Tom.

In diesem Moment hatten auch die Russen sich durch die Menge in der Post gekämpft und kamen nach draußen gerannt. Als sie sahen, dass Tom vor einem Polizisten stand, wandten sie sich abrupt ab und verschwanden um eine Ecke.

Tom atmete auf. »Nein, danke«, sagte er zu dem Polizisten und wollte ihn schon stehen lassen.

»Hallo?« Der Polizist versperrte ihm den Weg, indem er ihm den Arm quer über die Brust legte.

Reflexartig wich Tom zurück.

»Sie haben sich da eben ganz schön verkehrswidrig verhalten, wissen Sie das?«

Echt jetzt?, dachte Tom, aber statt dem Polizisten zu antworten, sah er zu, wie die Antiquarin mit ihrer vollen Bücherkiste im Arm auf den Bürgersteig hinauswankte und sie in einen klapperigen VW-Bus wuchtete. Antiquariat Stockhausen stand auf der Seite des Wagens, genau wie auf der Postkiste, und darüber prangte die stilisierte Darstellung eines alten Tierkreiszeichens, eines Steinbocks.

»Hallo!« Der Polizist klang jetzt verärgert. »Ich rede mit Ihnen!«

Arschloch, dachte Tom, verscheuchte diesen kurzen Anflug von Antifa-Attitüde aber gleich wieder. Er hatte jetzt andere Sorgen, als sich über die Herablassung des Mannes zu ärgern, er musste diese Frau daran hindern, mit dem Laborjournal wegzufahren! »Ähm«, machte er. »Ja, tut mir leid. Ich hatte es ein bisschen eilig.« Der Polizist hatte einen gestickten Aufnäher an der Brust. M. Heller, stand darauf. Tom kannte sich mit den Rangabzeichen an seiner Uniform gut genug aus, um zu erkennen, dass er einen Polizeiobermeister vor sich hatte.

Hinter ihm wurde der VW angelassen. Die Antiquarin fädelte sich in den laufenden Verkehr ein und war gleich darauf um eine Ecke verschwunden.

Tom zwang sich, ruhig zu bleiben. Das Buch war bei der Frau in Sicherheit, denn wo wäre es wohl besser aufgehoben als ausgerechnet bei jemandem, der den Wert von Büchern kannte, weil er damit handelte? Er würde sich das Laborjournal also leicht wiederbeschaffen können. So viele Antiquariate mit Namen Stockhausen konnte es in Berlin schließlich nicht geben.

Vorher musste er allerdings an Polizeiobermeister Heller vorbei. Und der schien nicht vorzuhaben, ihn so schnell ziehen zu lassen.

»Ich möchte bitte einmal Ihren Ausweis sehen«, sagte er.

Tom wusste, dass es die Sache nur verkomplizieren würde, wenn er sich weigerte, und da er keine Lust hatte, wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt mit aufs Revier genommen zu werden, zog er seinen Ausweis und reichte ihn dem Beamten.

Der warf einen Blick darauf. »Tom Morell«, sagte er zu seiner Kollegin, die noch auf dem Beifahrersitz des Streifenwagens saß. »Check mal, ob wir gegen jemanden dieses Namens was vorliegen haben.«

»Echt jetzt?«, entfuhr es Tom.

Seine Kollegin nahm ein Tablet aus dem Handschuhfach des Streifenwagens und gab Toms Namen ein. »Marc?«, sagte sie gleich darauf und hielt das Tablet so, dass Heller einen Blick darauf werfen konnte.

Seine Miene verfinsterte sich.

In Toms Magen verkrampfte sich etwas. Aus irgendeinem bescheuerten Reflex heraus konnte er der Versuchung nicht widerstehen, einen dummen Spruch zu machen. »Was ist los? Sehe ich einem Linksradikalen ähnlich, den ihr sucht, oder was?« Er grinste, aber Heller warf ihm nur einen warnenden Blick zu.

Gleich darauf gab er Tom seinen Ausweis zurück. »Wir haben Anweisung, Sie mit uns auf die Polizeiwache zu nehmen. Die Kollegen vom Staatsschutz möchten mit Ihnen reden.«

»Staatsschutz?« Tom steckte den Ausweis weg. Was zum Henker wollte der Staatsschutz von ihm? Sein Blick huschte umher. Von den Russen war keine Spur mehr zu sehen. Hoffentlich waren Nina und Max entkommen. »Was will der Staatsschutz von mir? Ist das wegen des Überfalls?«

»Ich bin nicht informiert über einen Überfall.«

»Hören Sie«, sagte Tom. »Ich habe nachher sowieso einen Termin mit dieser Kommissarin, einer gewissen Tina Voss, und ich …«

»Umso besser«, fiel Heller ihm ins Wort. »Dann haben Sie sicher nichts dagegen, uns sofort zu ihr zu begleiten.«

Tom sah ihm direkt in die Augen. »Bin ich festgenommen, oder was?«

Heller schüttelte den Kopf. »Die Kollegen möchten Ihnen nur ein paar Fragen stellen.«

Seine Miene war entschlossen und kompromisslos, also seufzte Tom. Er senkte den Kopf, presste die Fingerspitzen gegen die Stirn. »Okay. Hören Sie. Es gibt keinen Grund, mich wie einen Terroristen zu behandeln, ich …«

»Sind Sie denn einer?«

Die Frage kam so unvermittelt, dass Tom sich fast an seiner eigenen Spucke verschluckte. »Das war doch ein Scherz, Mann!«

»Passen Sie bitte auf, in welchem Tonfall Sie mit mir reden!« Hellers Hand befand sich für Toms Geschmack etwas zu nah am Griff seiner Waffe. Mittlerweile war seine Kollegin ausgestiegen. Auch sie wirkte angespannt.

Schlagartig fühlte Tom sich in eine Aufführung von Der Staatsfeind Nr. 1 versetzt. »Gut. Also gut. Ich komme mit Ihnen, aber ich muss erst einer … Bekannten Bescheid geben. Ich bin mit ihr hier, und sie …«

»Das alles ist sehr interessant«, sagte der Polizist. »Aber bitte steigen Sie jetzt auf der Stelle in dieses Auto, bevor wir Zwangsmaßnahmen anwenden müssen!« Mit diesen Worten trat er an Tom vorbei und öffnete den Fond des Streifenwagens.

Arsch! Jetzt gestattete sich Tom diesen Gedanken. Aber er gehorchte und stieg ein.

Victors Atem ging gleichmäßig, obwohl er diese Schlampe und ihren Begleiter aus den Augen verloren hatte.

Wo waren die beiden bloß?

Er blickte zurück zur Postfiliale, dann in den Eingang des Lifestyle-Ladens daneben, in dem es in seinen Augen lauter nutzloses Zeug zu kaufen gab. Kurz hatte er den Eindruck gehabt, die beiden wäre darin verschwunden, aber er konnte keine Spur von ihnen entdecken. Er wollte sich schon abwenden, als drinnen in dem Laden eine empörte Stimme aufschrie: »Hey!«

Und da sah er sie, die dämliche Schlampe und diesen Seifert. Sie rannten zur rückwärtigen Tür.

Victor lief los, fuhr mit der Hand unter die Jacke, umfasste den Griff seiner Waffe, zog sie aber nicht. Zu viele Menschen. Zu viel Aufsehen.

Er beschleunigte, als die Frau und der PR-Typ den gegenüberliegenden Ausgang fast erreicht hatten. Mit der Schulter rempelte er gegen einen hoch aufgeschossenen Kerl, stieß ihn grob zur Seite. Der Mann schrie auf Deutsch irgendwas hinter ihm her, aber Victor beachtete ihn nicht. Er sah zu, wie die Frau an einem dieser Warentische vorbeischlidderte, kurz das Gleichgewicht verlor und sich dann wieder aufrappelte. Im nächsten Moment waren sie und der PR-Typ draußen.

Victor rannte ihnen nach.

Nina fiel förmlich durch die Ladentür ins Freie. Eine Gruppe von Studenten stand bei einer Reihe Fahrradständer zusammen und diskutierte. Mehrere Köpfe fuhren verwundert zu ihr herum, als sie an ihnen vorbeirannte.

Ein paar Tauben flatterten auf, sie glaubte zu spüren, wie eine davon sie mit der Flügelspitze an der Wange streifte.

Max. Wo war Max?

Da hörte sie ihn dicht hinter sich. Er keuchte. Ihr eigenes Herz jagte vor Panik. Sie wollte um eine Ecke sprinten, aber ihr Verfolger hatte nun genug von dem Spiel.

»Stehen bleiben!«, hörte sie seine gepresste Stimme auf Russisch rufen. Und gleich darauf erklang ein dumpfes Ploppen, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Splitt spritzte dicht neben ihr auf und traf sie am Hosenbein.

Er hat auf mich geschossen!

Schlagartig war ihr Kopf leer. Sie stolperte, fing sich nur mühsam. Ihre Tasche, deren Riemen ihr im Laufen von der Schulter gerutscht war, hielt sie mit einem Arm schützend gegen die Brust gepresst. Die andere hatte sie zu einer Faust geschlossen. Langsam drehte sie sich um.

»Was …?«, hörte sie Max wimmern.

Der Russe war ebenfalls stehen geblieben. Er hatte die Hand noch immer in der Jacke, aber Nina war sich ganz sicher, dass er geschossen hatte, und vor allem, dass der Lauf seiner Waffe in seiner Tasche direkt auf ihre Brust wies.

Ihre Knie wurden weich.

Max ächzte leise. Dann fing er sich. »Was wollen Sie von …«

»Klappe halten!«, fuhr ihr Verfolger ihn auf Russisch an, und auch wenn Max den genauen Wortlaut nicht verstehen konnte: Der Sinn erschloss sich ihm allein aus dem Tonfall und aus dem Gesichtsausdruck seines Gegenübers, das war deutlich zu erkennen.

Die Studenten bei den Fahrradständern hatten ihre Diskussion unterbrochen und sahen gespannt zu, was als Nächstes geschah. Der Russe trat vor Nina hin. »Umdrehen«, sagte er leise. »Und dann vorwärts. Kein Aufsehen.«

Ihr Verfolger zwang sie in eine Nische zwischen der Mall und einem offenbar leerstehenden Nachbargebäude. Ein paar krüppelige Büsche standen hier, es roch streng nach Urin und Schimmel. Würde es das Letzte sein, was sie in ihrem Leben wahrnahm? Sie wechselte einen Blick mit Max. Er war totenbleich, und vermutlich sah sie nicht besser aus.

Der Russe streckte die Linke aus und deutete auf den Gegenstand, den sie in ihrer Faust hielt. »Hergeben!«

Nina schüttelte den Kopf. Wenn sie wollte, dass der Plan funktionierte, den sie eben dadrinnen im Laden innerhalb von Sekundenbruchteilen gefasst hatte, durfte sie nicht zu schnell nachgeben.

Der Russe verlieh seiner Forderung ein wenig mehr Nachdruck. »Hergeben!«

»Nina!«, keuchte Max. »Gib ihm, was er will, um Himmels willen!«

Sie setzte zu einem weiteren Kopfschütteln an, aber der Russe war jetzt mit seiner Geduld am Ende. Seine Hand schoss auf sie zu, packte ihren Arm und riss ihn herunter. Gleichzeitig nahm er die Waffe aus der Jackentasche und richtete sie auf sie. »Loslassen!«, befahl er.

Und da gehorchte sie. Sie öffnete die Faust. In ihr lag ein schwarzes Samtetui. Der Russe schaute ein wenig verwundert, aber er nahm es an sich und lächelte.

Gut so!, dachte Nina, aber zu ihrem Entsetzen befahl er: »Und jetzt auch noch das andere! Und das Buch!«

Sie wich zurück, aber die Wand in ihrem Rücken stoppte sie. Der Geruch nach Schimmel wurde stärker, als sie mit dem Fuß auf ein Stück blanke Erde geriet.

»Ich habe das Buch nicht«, flüsterte sie. Sie präsentierte ihm die offene Tasche, um zu beweisen, dass sie die Wahrheit sagte. Sekundenlang starrte der Russe auf ihr Mininotebook und auf das Chaos aus Kosmetika, Taschentuchpackungen und anderem Krimskrams. Er kramte alles zur Seite und fand das erste Ampullarium, das sie vorhin beim Verlassen von Bos Wohnung sorgsam ganz auf dem Boden der Tasche verborgen hatte. Mit einem Lächeln nahm er es an sich, das Samtetui steckte er ein. Nina knirschte mit den Zähnen.

»Dieser andere Typ hat das Buch, oder?«, schnaufte der Russe.

Sie nickte schwach.

Er nahm das Handy heraus und wählte. Es dauerte einen Augenblick, dann sagte er auf Russisch: »Euer Typ hat das Buch.« Er lauschte auf das, was sein Gesprächspartner sagte. Nina konnte ihn leise »Scheiße« murmeln hören. »Kümmert euch drum!«, befahl er knapp und legte auf.

Dann starrte er Nina direkt in die Augen, biss die Zähne zusammen.

Jetzt erschießt er uns!, dachte sie.

Heller gab über Funk durch, dass sie einen gewissen Tom Morell aufgegriffen hatten und nun zum Tempelhofer Damm bringen würden. Währenddessen saß Tom im Fond des Streifenwagens und starrte auf die Kopfstütze vom Beifahrersitz. Obwohl die Beamten ihm keine Handschellen angelegt hatten, überkam ihn das Gefühl, dass er soeben verhaftet worden war. Und dieses Gefühl wuchs noch, als er Nina anrufen wollte und Heller es ihm verbot. »Bitte unterlassen Sie es, hier drinnen zu telefonieren!«

»Erklären Sie mir mal, was hier eigentlich los ist?«, brauste Tom auf. »Ich meine, Sie nehmen mich einfach so in Gewahrsam, und ich …«

»Wie gesagt, die Kollegen vom Staatsschutz möchten mit Ihnen reden. Mehr wissen wir auch nicht.«

Mit einem frustrierten Laut schlug Tom die flache Hand gegen die Kopfstütze. Wann war er vom normalen Bürger zum Terroristen mutiert? In Gedanken ging er sein Gespräch mit den beiden Beamten nochmal durch. Vergebens. Soweit er es sah, hatte er nichts gesagt oder getan, was diese Reaktion rechtfertigen würde – na ja, bis auf den blöden Spruch mit dem Linksextremisten vielleicht. Aber der war erst gefallen, nachdem die Polizistin irgendwas über ihn auf ihrem Tablet gelesen hatte. Wenn er nur gewusst hätte, was das war! Grübelnd starrte er auf seine Hände, ballte sie zu Fäusten, entspannte sie wieder, ballte sie erneut.

Hoffentlich machte Nina sich keine allzu großen Sorgen, wenn er sich nicht meldete.

Heller fuhr die Wichertstraße entlang in Richtung Osten. Als sie nach rechts in die Prenzlauer Allee einbogen, fiel Tom auf, dass er sehr viel häufiger als normal in den Rückspiegel schaute.

Er wandte sich um. Direkt hinter ihnen fuhr ein dunkelroter Van. Ihm blieb die Luft weg. Es war derselbe, der gestern vor Max’ Büro gestanden hatte. Derselbe, aus dem eben vor der Post die Russen ausgestiegen waren.

»Der Wagen da …« Tom verstummte, als die Polizistin sich zu ihm umwandte und ihn warnend ansah.

Heller steuerte den Streifenwagen am Planetarium vorbei. An einer Ampel mussten sie halten. Der Van hielt hinter ihnen. Wieder wandte Tom den Kopf, aber blöderweise stand die Sonne so, dass sie sich in der Scheibe des Vans spiegelte.

Heller warf Tom im Rückspiegel einen Blick zu.

Die Ampel sprang auf Grün. Heller gab Gas.

Der Van ebenfalls. An der nächsten Ampel scherte er aus und hielt auf der Spur rechts neben dem Streifenwagen. Der Fahrer war tatsächlich der Typ mit der Glatze und dem Tablet. Von seiner Position auf dem Rücksitz aus sah Tom mit an, wie die Schiebetür des Vans aufgezogen wurde. Seine Gedanken überschlugen sich, während die Welt in Zeitlupe verfiel.

Der Hüne sprang aus dem Van und war bei der Beifahrertür des Streifenwagens, bevor Heller ein »He!« über die Lippen gebracht hatte. Die Tür wurde aufgerissen. Zweimal schnell nacheinander machte es dumpf Plopp, und die Innenseite des Fahrerfensters war plötzlich voller Blut. Schlagartig wurde Toms Welt fahl und zweidimensional. Bevor er begriff, was geschehen war, wandte sich der Hüne der Hintertür auf seiner Seite zu, zog sie auf, packte ihn und zerrte ihn aus dem Wagen. Er erhielt einen brutalen Schlag auf den Hinterkopf und fast zeitgleich einen Stoß zwischen die Schulterblätter. Die Ladefläche des Vans raste auf ihn zu, und weil er zu benommen war, um sich abzustützen, knallte er mit dem Gesicht auf. Dann wurde die Tür hinter ihm zugeworfen.

Die ganze Aktion hatte keine fünf Sekunden gedauert, dachte Tom, als er in der Tasche sein Handy klingeln hörte. Es war sein vorletzter Gedanke, und der letzte war: Hier riecht es ganz schön nach Hund.

Dann war alles dunkel.

Nina starrte in die Mündung der Waffe. Sie presste ihre Tasche wie einen Schutzschild an die Brust, aber sie war noch klar genug im Kopf, um zu wissen, dass das dünne Material eine Kugel nicht aufhalten würde. Zitternd atmete sie ein. Ruhig bleiben! Täuschte sie sich, oder bebte die Hand ihres Verfolgers? Sie spähte an ihm vorbei, auf der verzweifelten Suche nach jemandem, der ihnen helfen konnte. Aber die Nische, in die der Russe sie gedrängt hatte, führte tief zwischen die Gebäude, und sein Körper versperrte den Durchgang komplett. Nina schluckte. Sie konnte um Hilfe rufen, aber bevor jemand reagieren würde, wäre sie längst tot. Und Max auch.

»Hören Sie …«, krächzte sie und dachte in ihrer Panik nicht daran, es auf Russisch zu tun.

»Zatknis’!«, stieß der Russe hervor. Maul halten! Er hob das Ampullarium in seiner Hand und betrachtete es.

Nina verspürte den irrationalen Wunsch, es ihm zu entreißen, egal, was dann geschehen würde.

Die Mündung der Waffe schwang zu Max herum.

Nina reagierte reflexartig. Ihr Arm schoss vor, ihre Tasche traf die Hand ihres Verfolgers und schlug sie mitsamt der Waffe zur Seite. Der Schuss klang wie ein dumpfes Krachen. Sie hörte den Querschläger davonjaulen, hörte Max aufschreien. Die Gedanken in ihrem Schädel kreischten panisch. Mit einem wütenden und verzweifelten Schrei rammte sie dem Russen das Knie genau zwischen die Beine. Er schrie nicht, er ächzte nur und klappte zusammen. Nina warf sich gegen ihn und brachte ihn zu Fall.

»Lauf!«, brüllte sie Max zu und kickte die Waffe mit aller Kraft davon. Das Ding schlidderte über das Pflaster und blieb irgendwo zwischen den Büschen liegen.

Nina gab dem Russen einen letzten Tritt, der ihn endgültig zu Boden gehen ließ. Das Ampullarium entglitt ihm und landete auf dem Boden. Nina schnappte es sich, presste ihre Tasche an sich und stürzte davon. Sie musste weg hier, sofort.