Ihre Tasche vor die Brust gedrückt, rannte Nina eine schmale Gasse entlang, fort von dem Kerl und seiner Waffe. Ein rauschartiges, ja fast schon triumphales Gefühl überflutete sie: Sie waren entkommen! Sie waren am Leben! Und dieser Mistkerl würde heute Abend Eier in der Farbe von Pflaumen haben.
Sie konnte nicht anders: In vollem Lauf lachte sie laut heraus. Es fühlte sich vollkommen irre an.
Max, der ihr dicht auf den Fersen war, keuchte.
Sie rannten, bis sie an einer kleinen Backsteinkirche und einem überfüllten Kinderspielplatz vorbei waren und sicher sein konnten, dass der Russe sie nicht verfolgte. Vor einem Café mit weiß-goldener Inneneinrichtung blieben sie stehen.
»Das …« Max konnte nicht weitersprechen. Sein Atem ging stoßweise. »Das … war … Wahnsinn!«, stieß er hervor.
Nina wusste nicht, ob er es bewundernd oder tadelnd meinte. Es war ihr auch egal. Auf einmal konnte sie Tom verstehen und auch diesen Spruch aus seinem Interview, dass Gefahr für ihn eine Methode war, sich lebendig zu fühlen. Genau das war es, was auch sie gerade empfand: unbändige Lebendigkeit!
Sie drehte eine Pirouette. Lachte erneut. Dann schlang sie den Riemen ihrer Tasche über die Schulter und packte Max am Arm. »Komm!« Ohne auf seinen Protest zu achten, zog sie ihn in das Café, dessen Räumlichkeiten sich lang und schmal bis tief in das Gebäude zogen. Die hinteren Tische waren alle unbesetzt und von der Straße aus nicht einzusehen.
Nina ließ sich an einen davon fallen. Das Ampullarium stellte sie auf den Tisch. Und in derselben Sekunde verflog das Hochgefühl und wurde von einem heftigen Zittern ersetzt. Sie umschlang sich selbst mit den Armen und wartete, bis es wieder ging. Max saß ihr gegenüber und schüttelte unablässig den Kopf. Wieso zitterte er nicht?
Er hatte nicht direkt in den Lauf der Waffe geguckt, oder doch? Sie wusste es nicht. Sie wusste es einfach nicht mehr. Sie atmete so tief ein, wie sie konnte.
Die Bedienung hatte sie mittlerweile wahrgenommen und machte Anstalten, zu ihnen zu kommen.
»Okay.« Nina stieß die Luft wieder aus. »Okay.« Sie nahm ihr Handy heraus und wählte Toms Nummer. Es klingelte. Sekunden verstrichen, dann schaltete sich eine Mailbox an.
»Hey. Hinterlasst eine Nachricht!«
Sie legte wieder auf. »Er geht nicht ran.«
»Vielleicht hat er das Klingeln nicht gehört.« Es war offensichtlich, dass Max sie nur beruhigen wollte. Er selbst wirkte ebenso beunruhigt wie sie.
»Ja. Vielleicht.« Oder aber Tom war noch immer auf der Flucht vor den Russen. Oder sie hatten ihn längst … Ihn und das Laborjournal … Der Gedanke fühlte sich an wie Stacheldraht, der durch ihre Gehirnwindungen gezogen wurde. Tom war in Gefahr, wie konnte sie sich da nur um das blöde Journal sorgen?
Sie warf sich gegen die Stuhllehne und versuchte noch einmal, ihn zu erreichen, mit demselben Ergebnis. Entmutigt legte sie das Handy auf den Tisch. »Er ist entkommen«, sagte sie mit Nachdruck. Etwas anderes zu denken kam einfach nicht infrage.
»Was machen wir jetzt?«, wollte Max wissen. »Gehen wir nochmal zur Polizei?«
Die Bedienung kam. Nina legte eine Hand auf das Ampullarium, während ihre Bestellung aufgenommen wurde. Die Bedienung ging wieder. Nina ließ die Hand, wo sie war.
»Was würde das bringen?«, fragte sie.
»Nina, der Typ hat uns schon wieder mit einer Waffe bedroht! Er verfolgt uns, und offenbar weiß er immer noch jederzeit, wo wir sind!«
Ja. Ja, das war ihr auch schon durch den Kopf geschossen. Woher hatten die Russen von dem Postfach gewusst? Gab es da immer noch eine Wanze? Unwahrscheinlich. Dazu hatten Tom und sie zu genau nachgesehen.
Tom, der sich jetzt nicht mehr meldete. War er doch ein Komplize der Russen? Schwachsinn, denn wenn das der Fall gewesen wäre, dann wären die Kerle doch schon in der Nacht in Bos Wohnung aufgetaucht. Oder? Nicht unbedingt, wenn Tom erst sichergehen wollte, dass er auch noch die zweite Phagensendung in die Finger bekam.
Das. Ist. Völliger. Schwachsinn!
Die Russen wollten Georgys Vermächtnis. Tom brauchte es aber ebenfalls, und zwar dringend, um seine Tochter zu retten. Nein, es musste also eine andere Erklärung dafür geben, dass die Russen sie in der Postfiliale aufgespürt hatten. An Tom jedenfalls lag es nicht.
»Hey! Hörst du mir überhaupt zu?« Max wedelte vor ihren Augen herum, und ihr wurde bewusst, dass sie völlig in Gedanken versunken war. »Ich habe gesagt, dass wir der Polizei unbedingt von diesem Kerl berichten müssen.«
»Stimmt«, murmelte Nina. Sie dachte daran, dass sie heute Nachmittag sowieso diesen Termin mit der Kommissarin hatten. Wenn sie jetzt auf eine andere Polizeistation gingen, um den Überfall zu melden, würden sie warten müssen, bis diese Frau Zeit für sie hatte. Sie schüttelte den Kopf. »Wir gehen nicht zur Polizei.«
Max quollen die Augen hervor. »Wieso …?«
Sie erklärte ihm ihren Gedankengang, und es schien ihm einzuleuchten. »Und was willst du stattdessen tun?«
»Das, was wir sowieso vorhatten. Wir fahren zu diesem Ethan und versuchen, Sylvie das Leben zu retten.«
»Echt jetzt? Nach dem, was eben passiert ist, denkst du schon wieder an die Arbeit? Du hast sie ja nicht mehr alle!« Ihm schien etwas einzufallen. Er öffnete das Ampullarium auf dem Tisch und betrachtete die vier Ampullen darin und auch die beiden leeren Halterungen, in denen die beiden zerstörten Glasröhrchen gesteckt hatten. Bevor Nina dagegen protestieren konnte, schnappte er sich ihre Tasche und durchwühlte sie.
»He!«
Er stellte die Tasche wieder auf den Boden. »Wir haben das zweite Ampullarium nicht mehr«, stellte er nüchtern fest.
»Doch. Haben wir.« Nina lehnte sich zur Seite und zog das zweite Ampullarium aus der Jackentasche. Behutsam stellte sie es neben dem ersten auf den Tisch. Die beiden ähnelten sich wie ein Ei dem anderen.
»Aber …« Max’ Gesichtsausdruck verwandelte sich in Verblüffung. »Wie … Aber du hast dem Typen doch irgendwas gegeben! Er hat es eingesteckt, das habe ich genau gesehen.«
Aber offenbar warst du zu sehr auf die Waffe konzentriert, um genau hinzusehen, dachte Nina und lächelte. Das Gefühl des Triumphes kehrte zurück und verdrängte für einen kurzen, kostbaren Augenblick die Sorge um Tom und das Journal. Diese schwarzen Samtetuis, in denen der Laden seine Duftöle verkaufte, sahen normalen Ampullenetuis wirklich zum Verwechseln ähnlich. »Die werden sich schön wundern, warum ihre Phagen nach Vanille duften.«
Victor stand mit beiden Fäusten an die Mauer gestützt da und atmete gegen den Schmerz an, der in Wellen durch seinen Unterkörper raste.
Diese Fotze!
Es fühlte sich an, als hätte sie ihm die Eier bis hoch zum Kehlkopf gerammt. Zu allem Überfluss hatte sie auch noch das eine Kästchen mit den Ampullen wieder an sich gebracht und war damit abgehauen. Wenn er die in die Finger kriegte …
Als der Schmerz endlich so weit abgeklungen war, dass er sich aufrichten konnte, betrachtete er das Etui mit dieser dämlichen Medizin in seiner Hand. Wenigstens das hatte die dumme Kuh nicht auch noch mitnehmen können! Er schüttelte das samtene Ding.
Es war ziemlich leicht. Er öffnete es, aber es befanden sich nur drei Glasfläschchen darin, und die sahen auch noch ganz anders aus als die in dem grauen Kasten.
Was zum …
Er kniff die Augen zusammen und versuchte, die Schrift auf den Fläschchen zu entziffern. Die Buchstaben waren Lateinisch, aber das war im Grunde egal, denn unter ihnen prangte das vielsagende Bild einer hellgelben Blüte. Sein Kopf ruckte hoch, als er begriff. Diese elende … Sie hatte ihn verarscht!
»Miststück!« Mit einem zornigen Aufschrei schleuderte er das Etui samt Inhalt gegen die Mauer. Der intensive Geruch von Vanille stieg ihm in die Nase.
Tom erwachte mit rasenden Kopfschmerzen. Er lag mit der Wange auf hartem, kaltem Blech und wusste nicht genau, was mehr wehtat: sein Jochbein, mit dem er seinen Sturz gebremst, oder sein Hinterkopf, wo ihn der Schlag getroffen hatte.
Stöhnend wälzte er sich auf die Seite. Er tastete seinen Hinterkopf ab und fühlte klebriges Blut. Auch über seine Wange rann etwas Blut, das aus einer Platzwunde an seinem Jochbein sickerte. Stöhnend wischte er sich mit dem Handrücken über das Gesicht.
Der Nebel in seinem Verstand lichtete sich nur langsam. In seiner Erinnerung sah er den riesenhaften Russen noch einmal aus dem Van springen, hörte diese beiden unerträglichen, dumpfen Laute. Er sah die Wolke aus rotem Nebel, die die Seitenscheibe traf.
Er würgte. Erste Fragen schälten sich durch den Schmerz: Was wollten die von ihm? Das war einfach. Das Laborjournal. Warum hatten sie ihn nicht erschossen, genau wie die beiden Polizisten? Ebenfalls einfach. Sie mussten geahnt haben, dass er das Laborjournal nicht mehr hatte, dass er aber wusste, wo es sich befand.
Wie lange war er ohnmächtig gewesen? Offenbar nicht allzu lange. Er lag nach wie vor auf der Ladefläche des Vans, und offenbar fuhren sie auch noch.
Jemand sagte etwas auf Russisch, das er nicht verstand.
Er hob den Kopf. Der Hüne beobachtete ihn durch eine schmale Tür zwischen Fahrerkabine und Ladefläche. In seiner Hand lag eine Waffe, die Mündung war direkt auf Toms Stirn gerichtet.
Tom stemmte sich auf die Ellenbogen hoch.
»Lizhi! Ne dvigaysya!«, befahl der Hüne, und diesmal verstand Tom sein Russisch. Liegen bleiben! Nicht bewegen!
Er gehorchte nicht, sondern wälzte sich so herum, dass er die beiden Männer im Auge behalten konnte, ohne sich den Hals zu verrenken. Der Kerl mit der Glatze fuhr den Wagen. Er warf Tom über die Schulter hinweg nur einen kurzen Blick zu und schaute dann wieder auf die Straße.
»Sie sollten besser auf ihn hören«, sagte er auf Deutsch. Durch die Windschutzscheibe konnte Tom sehen, dass sie durch ein Industriegebiet fuhren, das sich überall in Berlin befinden konnte. Er sah leerstehende Lagerhäuser und dazwischen immer wieder einzelne Backsteingebäude aus dem 19. Jahrhundert. Sie fuhren einige Minuten lang kreuz und quer durch immer enger werdende Gassen, bis sie schließlich vor einem Gebäude hielten. Der Hüne zog die Tür des Laderaums auf, und Tom hatte das Gefühl, ziemlich weit draußen zu sein. Hier war kein Verkehrslärm zu hören, dafür aber Vogelgezwitscher und ein paar Grillen, die im Gras lärmten.
Der Hüne beugte sich in den Wagen, packte Tom und zerrte ihn nach draußen. Schwindel erfasste Tom, als er so unvermittelt in die Senkrechte gezwungen wurde. Er taumelte, fing sich aber, während der Hüne ihn grob abtastete, ihm das Handy abnahm und es dem Glatzkopf gab.
Dieser starrte es kurz an, bevor er es einsteckte. »Wo ist das Buch?«, fragte er.
»Hab ich nicht mehr.«
Glatzkopf trat vor ihn hin und bohrte den Blick in seinen. »Wo ist es?« Er hatte Augen, die einem einen Schauder über den Rücken jagten.
Sachte schüttelte Tom den Kopf.
In der nächsten Sekunde rammte der Dreckskerl ihm die Faust in den Magen. Tom klappte zusammen. Heißer Schmerz fuhr ihm durch den Körper, und bittere Galle schoss in seiner Kehle hoch. Er holte so tief Luft, wie es ging, und richtete sich wieder auf.
Nina hatte ihm vergangene Nacht mehr als deutlich gemacht, dass das Buch und vor allem dieser Phagencocktail mit der Nummer 12 vielleicht Sylvies allerletzte Chance waren. Er würde also den Teufel tun und diesen beiden Arschlöchern hier die Medikamente auf dem Silbertablett präsentieren. Er sandte ein kurzes Stoßgebet gen Himmel, dass Nina und Max mit den Phagen entkommen sein mochten, und als der Glatzkopf dem Hünen befahl, ihn ins Innere des verlassenen Gebäudes zu schaffen, machte er sich auf eine harte Zeit gefasst.
Der Typ mit der Glatze hieß Jegor, das bekam Tom mit, als der Hüne ihn beim Betreten des alten Backsteingebäudes mit Namen anredete. Die beiden führten ihn eine Treppe hoch und in einen von mehreren Räumen im Obergeschoss. Bis auf einen wackeligen Schreibtisch in einer Ecke und einen alten Stuhl mitten im Raum wies nicht mehr viel darauf hin, dass diese Räume früher mal als Büros gedient hatten.
»Halt ihn fest!«, befahl Jegor dem Hünen. Dann schlug er genau einmal zu. Während Tom japsend in die Knie ging und er von dem Hünen aufrecht gehalten werden musste, nahm Jegor sein eigenes Handy raus und rief einen gewissen Victor an, vermutlich den Dritten in ihrem Team.
»Eto ya«, sagte er. Ich bin’s. So weit reichten Toms Russischkenntnisse noch. Vom Rest des Redeschwalls verstand er allerdings kaum ein Wort – abgesehen von der Tatsache, dass der Hüne offenbar Misha hieß.
Misha, dachte Tom dumpf. So siehst du aus.
Dann lauschte Jegor, was dieser Victor ihm sagte. Er wurde dabei erst ein wenig blass, dann knallrot. Seine nächsten Worte klangen hart und wütend wie ein Schnellfeuergewehr, und in Tom erwachte ein Anflug von Hoffnung. Hatte Victor etwa gerade gesagt, dass ihm Nina und Max entwischt waren?
»Da«, beendete Jegor das Gespräch schließlich knapp. Ja. »Do skorogo.« Bis gleich.
Dann legte er auf, wandte sich wieder an Tom. Der wehrte sich einmal kurz gegen den Griff des Hünen, gab es aber auf, als Jegor seine Waffe zog und auf ihn richtete. »Also nochmal von vorn: Wo ist das Buch?«
Tom schwieg.
Jegor wartete. Der rot-blaue Siegelring an seinem kleinen Finger sah albern aus, die Mündung der Waffe hingegen wirkte alles andere als albern. Sie schien Tom groß genug, um hineinzustürzen. Er schwitzte. Sein Handy in Jegors Jackentasche klingelte und verstummte wieder. Klingelte erneut. Nina? In seinem Hirn kreiste es, die Wunde an seinem Hinterkopf schmerzte, die Platzwunde in seinem Gesicht ebenso, genau wie seine malträtierten Rippen.
Jegor ignorierte das Klingeln. »Ich frage nur noch einmal«, sagte er. »Wo ist das Buch?«
»Ich weiß es nicht.« Toms Gedanken stolperten.
»Die Frau hat es, oder?« Für den Bruchteil einer Sekunde rieselte es kalt durch Toms Adern. Doch als Jegor hinzufügte: »Diese Nina Falkenberg?«, da begriff Tom, dass er nicht die Antiquarin meinte.
Er schüttelte den Kopf. »Sie hat es mir gegeben. Ich habe es verloren, als ihr mich verfolgt habt.«
»Bullshit!«, spuckte Jegor und befahl Misha, Tom loszulassen und zur Seite zu treten. Misha gehorchte auch diesmal. Jegor senkte die Waffe von Toms Brust auf sein Knie.
Er schießt nicht!, durchzuckte es Tom. Er will nicht, dass man es hört!
Das dumpfe Plopp der Waffe war wie ein Schock. Kein Schmerz. Dafür grenzenlose Erleichterung. Jegor hatte knapp an seinem Bein vorbei in den Boden geschossen.
Tom schalt sich einen Idioten. Die Russen hatten auf offener Straße zwei Polizisten hingerichtet. Jegor war es vermutlich scheißegal, ob jemand die Schüsse hörte. Tom schwankte. Dachte an Sylvie. Sie brauchte diese Therapie mit den Phagen. Er musste sich verdammt nochmal endlich was einfallen lassen. Langsam hob er den Kopf wieder, diesmal sah er Jegor in die Augen. Unmöglich zu sagen, wie dieser eiskalte Typ reagieren würde.
»Die nächste Kugel trifft«, sagte Jegor.
Tom biss die Zähne zusammen, und Jegor spannte den Hahn.
»Jegor«, sagte Misha.
»Was?«
Das nun folgende stakkatoartige Russisch hätte genauso gut Chinesisch oder auch Klingonisch sein können. Nur dass mehrmals der Name Victor fiel, konnte Tom verstehen. Aus der Art, wie die beiden diskutierten, schloss er, dass dieser Victor verboten hatte, ihm etwas anzutun.
Jegor schien damit nicht einverstanden. Er schüttelte trotzig den Kopf, aber er sicherte die Waffe und steckte sie ein.
Vor Erleichterung sackte Tom ein Stück in sich zusammen.
Voss und Lukas füllten die Zeit bis zu ihrem Treffen mit Dr. Seifert und den beiden anderen Zeugen damit, in einem anderen Fall zu ermitteln. Irgendwann im Laufe des Vormittags klingelte ihr Telefon. Am Apparat war ein Mann mit einem schwach hörbaren Berliner Dialekt. »Runge. Hey Voss.« Kriminaloberkommissar Jens Runge war ein Kollege von ihr, der zum Dezernat für Linksextremismus gehörte und nur wenige Türen weiter saß. Den Geräuschen nach zu urteilen, war er im Moment allerdings irgendwo in der Stadt unterwegs.
»Hey Jens«, grüßte Voss ihn. Sie mochte ihn, hauptsächlich deswegen, weil er einer der wenigen ihrer männlichen Kollegen war, der sie mit Nachnamen anredete. Die meisten anderen hingegen nannten sie Christina oder gar bei ihrem Spitznamen, Tina.
»Ich habe gesehen, dass du einen Aktenvermerk über einen gewissen Tom Morell für unsere Abteilung erstellt hast«, sagte er.
»Ja. Morell ist ein Zeuge in einem Fall, den Tannhäuser mir übertragen hat. Warum fragst du?« Noch während sie sprach, glaubte sie, im Hintergrund Martinshörner zu hören, die sich näherten.
»Wir haben hier einen Doppelmord«, sagte er. »Und ich könnte mir vorstellen, dass du dir das gern ansehen würdest.«
»Wieso das?«
»Die Opfer sind zwei Kollegen.«
Zwei ermordete Polizisten? Das erklärte, warum der Fall Runge zugeteilt worden war. Bei Polizistenmorden wurde in Berlin seit einiger Zeit standardmäßig vom Polizeilichen Staatsschutz ermittelt – seit es während der Corona-Krise eine Reihe linksradikaler Angriffe auf die Privatwohnungen mehrerer Kollegen gegeben hatte.
»Die beiden haben kurz vorher deinen Tom Morell aufgegriffen«, sagte Runge. »Und ich fresse einen Besen, wenn dein Mann nicht unser Täter ist.«
Toms Hände kribbelten. Nachdem Jegor mit diesem Victor telefoniert hatte, hatte er Misha den Befehl gegeben, ihm mit Kabelbindern die Hände auf dem Rücken zu fesseln. Misha hatte das überaus sorgfältig erledigt, dann hatte er Tom auf dem morschen Stuhl niedergedrückt, und dort hockte er jetzt.
Jegor tigerte unruhig im Raum auf und ab. Tom war sich mittlerweile sicher, dass Victor tatsächlich verlangt hatte, nichts zu unternehmen, nur das erklärte seiner Meinung nach, warum Jegor ihn nicht weiter bearbeitete. Gut, das verschaffte ihm eine kleine Atempause. Die Frage war nur, für wie lange. Noch während er sich das fragte, klingelte sein Handy in Jegors Jacke erneut.
Jegor nahm es heraus, dann grinste er Tom an. »Nina? Kein Nachname?«, sagte er. Dann drückte er auf den roten Button auf dem Display.
Der Ton, der signalisierte, dass ihr Anruf abgelehnt worden war, gellte in Ninas Ohren.
»Was ist?« Über den Tisch hinweg sah Max sie an. Die vergangene knappe Dreiviertelstunde hatte er mit ihr darüber diskutiert, ob sie nicht doch noch sofort zur Polizei gehen sollten. Die ganze Zeit hatte Nina dabei ungeduldig auf einen Anruf von Tom gewartet. Doch dieser Anruf war nicht gekommen, darum hatte sie es noch einmal bei ihm versucht.
»Ich weiß nicht«, murmelte sie nun. »Er hat mich weggedrückt.« Vor ihrem geistigen Auge spielten sich wilde Szenen mit Tom ab, der noch immer auf der Flucht vor den Russen war. Sie starrte ihr Telefon an, widerstand aber dem Versuch, erneut seine Nummer zu wählen. Wenn er in Sicherheit war, würde er sich bei ihr melden. Sie war im Besitz der Medikamente, die seiner Tochter das Leben retten konnten. Er würde sich melden. Und ihr dann auch das Laborjournal bringen.
Wenn sie ihn nicht vorher umbrachten oder er zu den Russen …
Okay. Schluss damit!
Sie legte beide Hände um die noch nicht angerührte Tasse mit Kaffee, die die Kellnerin irgendwann vorhin vor sie hingestellt hatte. »Können wir uns dann endlich um Sylvie kümmern?«
Max schien endlich bereit dazu. Er hatte die Ellenbogen auf dem Tisch aufgestützt und die gefalteten Hände an die Lippen gelegt. Im Gegensatz zu Nina hatte er seinen Kaffee längst ausgetrunken.
Sie rief die Website des Loring-Klinikums auf, in dem Sylvie lag. Dr. Heinemann hieß der behandelnde Arzt des Mädchens, das hatte Tom gesagt. Sie suchte die Nummer seiner Station heraus, rief dort an und wurde zu ihrer Überraschung ohne Umschweife durchgestellt.
»Heinemann?« Die Stimme des Arztes klang kompetent und vertrauenswürdig.
»Dr. Heinemann, mein Name ist Falkenberg«, sagte Nina. »Ich fürchte, das hier ist ein etwas ungewöhnlicher Anruf, aber ich rufe Sie im Auftrag von Tom Morell an. Er hat mich gebeten, für eine alternative Therapie für seine Tochter zu recherchieren. Ich weiß, dass Sie Sylvie derzeit mit einer Kombination von Tobramycin und Ceftazidim oder Meropenem behandeln, und ich hoffe sehr, dass diese Behandlung anschlägt, aber für den Fall, dass sie das nicht tut, müssen wir …«
»Was ist Ihre Alternative?«, fiel Heinemann ihr ins Wort.
Sie hatte Unmut erwartet, darum überraschte sie sein sofortiges Interesse. »Eine Therapie mit hochspezialisierten Phagen.«
»Für welches Institut arbeiten Sie?«
Sie musste die Augen schließen, um den Namen hervorzubringen. »Dr. Georgy Anasias ist …«
»Hmhm«, machte er. Es klang, als würde ihm das etwas sagen.
Irritiert wartete sie darauf, dass er etwas hinzufügte, aber er schien das nicht vorzuhaben. Eine unangenehme Lücke entstand in ihrem Gesprächsfaden.
Nina krampfte die Hand um das Telefon. »Damit wir Sylvie helfen können …«
Wieder unterbrach Heinemann sie. »Nicht so schnell, Dr. Falkenberg. Ich begrüße es, dass Sie versuchen, Sylvie zu helfen, aber ich kenne Sie nicht, und leider habe ich keinerlei Anweisungen der Eltern des Mädchens, mit Ihnen zu kooperieren. Wenn Herr Morell …«
»Herr Morell ist zurzeit leider verhindert.« Auch das kam ihr nur schwer über die Lippen.
»Nun. Dann sagen Sie ihm doch, wenn Sie ihn das nächste Mal sprechen, dass er mir bestätigen soll, dass Sie in seinem Sinne agieren.«
Weil sie nicht wusste, wie sie Heinemann Toms Lage erklären sollte, stieß sie hervor: »Können Sie mir wenigstens eine kurze Einschätzung geben, wie viel Zeit wir für die Vorbereitung einer Phagentherapie ungefähr haben?«
»Wie gesagt, ich darf Ihnen ohne Einwilligung der Eltern keine Informationen geben. Aber wenn wir von einem hypothetischen Fall und einem hypothetischen Mädchen reden würden, würde ich Ihnen raten, sich mit Ihren Vorbereitungen zu beeilen, Frau Kollegin.«
Die Worte ließen Nina schlucken. »Ich werde Herrn Morell kontaktieren und dann wieder auf Sie zukommen.«
»Tun Sie das.«
»Danke, Dr. Heinemann.«
»Gern geschehen. Viel Glück«, schob der Arzt nach, dann legte er auf.
Einen Moment lang saß Nina völlig regungslos da. Es war also ein Wettlauf gegen die Uhr, die längst gegen Toms Tochter tickte. »Dieser Ethan Myers, von dem du gesprochen hast«, sagte sie zu Max. »Glaubst du, er würde uns sofort helfen?«
»Das würde er, ja.« Max schien sich ganz sicher zu sein.
Victor erschien in dem verlassenen Gebäude, kurz nachdem Jegor Ninas Anruf weggedrückt hatte. Er betrat den Raum mit dem eigenartig steifen Gang eines Mannes, der kurz zuvor einen Tritt in die Eier gekriegt hatte. Tom konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Nina dafür verantwortlich war.
»Warum grinst du so blöd?«, raunzte Jegor ihn an, und da erst wurde ihm bewusst, dass er tatsächlich kurz gelächelt hatte. Er fühlte sich völlig irre. Als befände er sich im freien Fall und würde das Kribbeln der Schwerelosigkeit nur deswegen genießen, weil sein Verstand einfach noch nicht realisiert hatte, dass am Ende unausweichlich der Tod stand.
Victor besprach sich kurz mit den beiden anderen, dann trat er vor Tom hin. »Wo ist das Laborjournal?«, fragte er auf Russisch und so langsam, dass Tom ihn gut verstehen konnte.
»Wie oft soll ich das noch sagen: Ich weiß es nicht!«, antwortete er auf Deutsch. Sollte dieser Jegor doch übersetzen!
Dazu allerdings kam er nicht.
Victors Hand explodierte in Toms Gesicht, sodass die Wunde an seiner Wange noch weiter aufriss. Für einen Moment verschwamm alles vor Toms Augen, und er blinzelte abwechselnd. Links konnte er kurz darauf wieder klar sehen, rechts blieb sein Blick etwas länger unscharf, aber trotzdem erkannte er, dass Victor bleich geworden war vor Ärger. Mit einer herrischen Bewegung wandte der Russe sich an Misha. Aus den schnellen russischen Worten, die er ihm um die Ohren schlug, konnte Tom nur eines – Post – herausfischen.
Misha rührte sich nicht. Sein Blick wanderte zu Jegor, und das bestätigte Tom in der Vermutung, dass zwischen dem Deutschen und Victor eine Art Kompetenzstreit im Gange war.
Victor deutete auf die Tür. »Vy idote vdvoyem.« Ihr geht beide.
Zwei, drei Sekunden verstrichen, in denen Victor und Jegor sich wortlos anstarrten. Endlich nickte Jegor. Um seine Lippen spielte ein kühles Lächeln dabei.
»Deystvuyem!«, sagte er zu Misha. Also los!
Tom blickte den beiden nach, als sie den Raum verließen, und auch Victor stand da und starrte ihnen hinterher. Bis Toms Handy plötzlich Ain’t no Sunshine, when she’s gone von Bill Withers spielte. Überrascht blickte Tom über die Schulter. Er hatte sein Handy immer noch in Jegors Jackentasche vermutet, aber offenbar hatte der es irgendwo schräg hinter ihm auf eine Fensterbank gelegt.
»Das ist meine Frau«, informierte Tom Victor.
Der Russe nickte nur.
»Wenn sie anruft, geht es wahrscheinlich um meine Tochter. Sie ist sehr krank. Bitte, wenn meine Frau anruft, ist es was Schlimmes mit meiner Tochter. Ich muss da rangehen!«
Victors Mund öffnete sich leicht. Mit der Zungenspitze fuhr er sich über die Unterlippe.
Oha!, dachte Tom. Du bist offenbar nicht so hart, wie du denkst. Er legte einen flehenden Ausdruck in seine Miene.
»I know, I know, I know, I know …«, jammerte Bill Withers.
Victor schüttelte den Kopf. »Später«, sagte er.
Billy hörte mitten im Wort auf zu singen. Isabelle hatte aufgelegt.
Tom bewegte seine inzwischen völlig gefühllosen Hände.
Dann begann Billy von vorn mit seinem jammervollen Song. Diesmal kam er bis zur Hälfte der ersten Strophe, bevor Victor es nicht mehr aushielt. Er marschierte an Tom vorbei, riss das Telefon von der Fensterbank und ging ran. »Da?«, fragte er absurderweise auf Russisch.
»Wer sind Sie?« Isabelles Stimme drang aus dem Hörer wie ein Summen.
Victor starrte ihn an. Langsam zog er seine Waffe, hielt sie ungefähr in Toms Richtung. »Kein falsches Wort!«, murmelte er, dann hielt er Tom das Telefon ans Ohr.
Auf diese Gelegenheit hatte Tom nur gewartet. Er sprang auf die Füße und rammte den Russen mit aller Gewalt. Der taumelte rückwärts, ein Schuss löste sich und schlug im Betonfußboden ein. Gleichzeitig prallte das Handy zu Boden. Tom fing sich schneller als Victor, suchte festen Stand, riss sein Bein hoch und traf den Russen mit voller Wucht vor die Brust. Der Kerl wurde rückwärtsgeschleudert und schlug der Länge nach hin.
»Tom?«, drang Isabelles Stimme aus dem Handy. In langen Sätzen jagte Tom in Richtung Tür, war draußen auf dem Gang, bevor der Russe sich wieder aufrappeln konnte. Er wollte gerade die ersten Stufen der Treppe nehmen, als er die Gestalt wahrnahm, die einen Absatz weiter mit verschränkten Armen an der Wand lehnte.
Jegor.
Tom warf sich herum. Vergeblich. Mit seinen gefesselten Händen war er vielleicht schnell genug für einen Russen mit gequetschten Eiern, aber definitiv zu langsam für diesen Kerl. Er wurde gepackt und mit voller Wucht gegen eine Wand gerammt. Seine Hüfte, sein Kopf, sein gesamter Körper schrie schmerzgepeinigt auf.
»Hiergeblieben«, sagte Jegor überaus liebenswürdig in sein Ohr.
Die Kreuzung am Zeiss-Großplanetarium war als Tatort eines Gewaltverbrechens weiträumig abgesperrt, und die Kollegen von der Verkehrspolizei gaben ihr Bestes, um den Verkehr um das Hindernis herumzuleiten. Trotzdem hatten sich auf beiden Straßen lange Staus gebildet. Voss, die allein in ihrem Wagen saß, weil Lukas nicht rechtzeitig aus der Mittagspause zurückgekehrt war, musste das Magnetblaulicht auf das Dach ihres Wagens setzen und dann mit zwei Rädern über den Bürgersteig in der Stargarder Straße fahren. An einer Ampel, die auf gelbes Blinklicht geschaltet war, hielt sie an. Die Feuerwehr hatte Sichtschutzwände aufgestellt, sodass die mittlerweile eingetroffenen Gaffer nichts von dem Tatort zu sehen bekamen. Als Voss anhielt und ausstieg, blickte sie in Dutzende frustrierter Gesichter. Sie warf einem jungen Mann, der mit seinem Handy filmte, einen finsteren Blick zu. Er ließ das Gerät kurz sinken, aber schon als Voss weiterging, hob er es wieder an.
Sie hätte ihm nur allzu gern die Meinung gegeigt. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Kollegen, die innerhalb der Polizeiband-Absperrung standen und miteinander diskutierten. Einen davon erkannte sie als Ben Schneider vom KTI, der sich gewöhnlich um Computerkriminalität kümmerte. Sie trat hinzu und nickte grüßend in die Runde.
»Voss! Gut, dass du da bist.« Der Kollege, der sie ansprach, war schlank bis zur Askese und trug einen schmal geschnittenen schwarzen Anzug mit weißem Hemd, in dem er aussah, als sei er direkt aus Men in Black von der Leinwand geklettert. Es war Kriminaloberkommissar Jens Runge. Sein sorgsam gestylter Dreitagebart roch nach Bartöl.
»Hallo«, grüßte sie ihn und wandte sich an Ben Schneider. »Hey Ben. Bist du versetzt worden?«
Schneider trug wie immer sandfarbene Kleidung, die gut mit seinen ebenfalls sandfarbenen Haaren harmonierte. Seine extrem blauen Augen faszinierten Voss schon, seit sie ihn kannte, aber heute erinnerten sie ihn an diesen Tom Morell, der offenbar der Auslöser für das ganze Chaos hier war.
»Nein«, antwortete Ben. »Wieso?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Dachte nur. Was gibt es denn hier Computertechnisches zu untersuchen?«
Schneider deutete auf die wartenden Autos. »Dashcams? Handyvideos? Du würdest dich wundern, wie viele Leute heutzutage eine Tat aufnehmen und das Video dann ins Internet stellen, statt es uns zu schicken.«
Voss grinste matt. Dann deutete sie in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war. »Dahinten ist so ein Idiot, den du dir gleich mal vornehmen kannst.«
Er folgte ihrem Fingerzeig. »Mache ich.«
Voss wandte sich an Runge. »Okay. Da bin ich also. Worum genau geht es?«
Runge straffte sich. »Zwei Kollegen von der Streife hatten Morell aufgegriffen und waren mit ihm auf dem Weg zu uns.«
»Das hast du schon gesagt, ja.«
»Ich denke, den Rest siehst du dir besser selbst an.« Mit einer einladenden Geste führte er sie hinter die Sichtschutzwände.
Der Streifenwagen stand in erster Reihe an der blinkenden Ampel. Die Beifahrertür stand offen, die Tür dahinter ebenfalls. Das Fenster an der Fahrerseite und auch Teile der Windschutzscheibe und des Armaturenbretts waren mit einem roten Sprühnebel aus Blut bedeckt.
»Das waren regelrechte Hinrichtungen«, sagte eine junge Streifenpolizistin, die als Wache neben dem Wagen postiert war. Voss schaute kurz in ihre Richtung.
Runge nickte ihr knapp zu. »Ich denke, die Kollegin Voss will sich selbst ein Bild machen, danke.«
Betreten wich die Polizistin einen halben Schritt zurück, während Voss den Wagen umrundete und durch die offenen Türen einen Blick hineinwarf. Hinter ihrem Solarplexus hatte sich ein fester, schmerzhafter Knoten gebildet. Die uniformierte Frau auf dem Beifahrersitz war nach vorn gesunken und wurde nur von ihrem Sicherheitsgurt in halbwegs aufrechter Position gehalten. Ihre Haare hingen ihr ins Gesicht. Dort, wo sich eigentlich ihre Ohrmuschel hätte befinden müssen, klaffte ein blutiges Loch. Von dort, wo sie stand, konnte Voss die andere Seite des Kopfes nicht sehen, aber der Menge an versprühtem Blut und Hirnmasse nach zu urteilen, die sich über den zweiten Toten auf dem Fahrersitz ergossen hatte, war von der Schädelwand nicht mehr viel übrig.
Voss betrachtete den Fahrer. Gleiche Uniform. Selber Dienstgrad. Polizeiobermeister. Seine Leiche war gegen die Seitenscheibe gesunken. Ihn hatte das Projektil mitten ins Gesicht getroffen. Das Einschussloch befand sich unter seinem linken Auge, sein Hinterkopf war weggeplatzt. Ein paar Haare klebten in dem Blut an der Seitenscheibe, die von dem austretenden Geschoss gesprungen, aber wundersamerweise nicht zersplittert war.
Die Kugel musste sich also noch irgendwo im Wageninneren befinden, dachte Voss sofort.
»Die beiden Opfer sind Marc Heller und Monika Oberau«, hörte sie Runge sagen.
Sie schluckte schwer. »Du glaubst, dieser Morell ist unser Täter?«
»Sicher bin ich nicht«, sagte Runge. »Aber er hat sich bei ihnen im Wagen befunden, als es passiert ist, und jetzt ist er verschwunden.« Er gab Voss noch ein wenig Zeit, die Szene auf sich wirken zu lassen. »Was denkst du?«, fragte er dann.
Sie deutete auf die Frau. »Sie wurde zuerst getroffen. Heller hat es mitgekriegt, darum hat er zu ihr rübergesehen, bevor ihn das zweite Projektil im Gesicht getroffen hat.«
»Es muss alles extrem schnell gegangen sein.« Runge deutete auf den Rücksitz, dorthin, wo Morell gesessen haben musste. Kein Blut dort, abgesehen von ein paar Spritzern, die vermutlich von Heller stammten.
Mit zusammengekniffenen Augen nahm Voss das gesamte Innere des Wagens in den Blick. »Morell hat nicht geschossen.« Sie deutete auf die Eintrittswunde bei der Kollegin Oberau. »Morell hat auf dem Rücksitz gesessen. Der Schuss ist aber von der Seite gekommen.« Sie betrachtete die offen stehende Tür. »Von jemandem, der vorher die Tür aufgerissen hat.«
»Stimmt«, wandte Runge ein.
»Glaubst du, dass er Komplizen hatte, die ihn befreit haben?«
»Die Vermutung liegt nahe, oder?«
Voss war sich da nicht so sicher. Sie dachte an die Anzeige, die Morell aufgegeben hatte. Drei Männer osteuropäischer Herkunft hatten ihn und die beiden anderen überfallen. Da lag der Gedanke irgendwie nahe, dass dieselben Männer auch für das Massaker hier verantwortlich waren.
»Wir haben einen Zeugen, der mit seinem Auto direkt hinter dem Streifenwagen gestanden hat«, erklärte Runge. »Er hat ausgesagt, dass ein roter Van neben den beiden gehalten hat und dass die Schüsse von jemandem aus diesem Van kamen. Der Mann sagt aus, dass Morell mit dem Schützen zusammen weggefahren ist.«
»Weggefahren?«, wiederholte Voss.
»Weggefahren hat er gesagt, ja.«
»Okay. Hören wir uns den Zeugen nochmal genauer an.«
Jegor überließ es Misha, Tom wieder in das leerstehende Büro zu schleifen und zurück auf den Stuhl zu bugsieren. Diesmal nahm der Hüne zwei weitere Kabelbinder zur Hand und wand je einen davon um Toms Fußknöchel und die Stuhlbeine. Mit einem harten Ruck zog er sie fest und vergewisserte sich, dass Tom diesmal nicht mehr entkommen konnte. Als er zufrieden war, richtete er sich auf.
»Okay«, sagte Tom. »Was jetzt?«
Jegor schoss einen finsteren Blick auf ihn ab. Während Misha Toms Handy aufhob und ausschaltete, wandte Jegor sich an Victor und fauchte ihn auf Russisch an. Victor hielt dagegen. Mehr als einmal schüttelte er wütend den Kopf, aber irgendwann war es ihm zu viel. Entnervt warf er die Arme hoch und wandte sich ab, als sei das Gespräch für ihn beendet.
Tom sah es kommen.
Der Revolver tauchte plötzlich in Jegors Hand auf, zusammen mit einem entschlossenen Ausdruck in seinen Augen. Reflexartig riss Tom den Mund auf, um Victor zu warnen, aber es war zu spät. Mit einer Bewegung, die hundertmal geübt aussah, setzte Jegor Victor den Revolver an den Hinterkopf.
Und drückte zweimal schnell nacheinander ab.