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Der Zeuge, der in seinem Wagen schräg hinter Hellers und Oberaus Streifenwagen gestanden hatte, erwies sich als nicht besonders hilfreich. Zwar wiederholte er seine Aussage, dass ein dunkelroter Van neben den Kollegen gehalten hatte, dass ein Mann ausgestiegen war und dass dieser dann zweimal geschossen hatte. Auf Runges Nachfragen hin war er sich allerdings auf einmal nicht mehr sicher, ob der Schütze Morell wirklich aus dem Streifenwagen befreit oder ob er ihn nicht vielmehr in seine Gewalt gebracht hatte.

Runge dankte ihm und bat einen der anwesenden Streifenpolizisten, die Aussage des Mannes aufzunehmen. »Also gut, was hast du zu dieser ganzen Scheiße beizutragen?«, wandte er sich danach wieder an Voss.

Sie konnte den Frust in seiner Stimme hören. »Bisher nicht viel. Ich weiß lediglich, dass es gestern offenbar einen Überfall auf Morell und zwei weitere Personen gab. Ich wollte mich nachher um fünfzehn Uhr mit den dreien treffen.«

»Na. Daraus wird wohl nichts«, kommentierte Runge trocken. Er straffte sich. »Okay. Ich gebe eine Fahndung nach einem dunkelroten Van raus und eine nach Morell. Wenn wir ihn haben, gebe ich dir Bescheid.«

»Ja. Tut das.« Sie bedankte sich, ging zu ihrem Wagen zurück, nahm das Blaulicht ab und verstaute es im Fußraum vor dem Beifahrersitz.

Als sie später in ihr Büro kam, saß Lukas an seinem Schreibtisch und scrollte sich gelangweilt durch das digitale Aktenarchiv. »Wo waren Sie denn?«, maulte er. »Ich bin nur eine Minute zu spät aus der Mittagspause gekommen, und Sie waren einfach weg!« Seine Empörung amüsierte Voss ein wenig, und die erschöpfte Benommenheit, in die der Kollegenmord sie gestürzt hatte, nahm etwas ab. Sie setzte sich und erzählte in knappen Sätzen, was passiert war.

Lukas wurde blass. »Zwei Polizisten, getötet?«

»Ja.« Voss lehnte sich zurück und umklammerte ihren Nacken. Keine Chance, den Anblick der beiden toten Kollegen aus ihrem Kopf zu verbannen. Das Bild hatte sich grell in die Rückseite ihrer Augenhöhlen gebrannt und blitzte jedes Mal auf, wenn sie blinzelte. Um irgendwas gegen ihre Übelkeit zu tun, checkte sie ihre Mails. Eine davon enthielt den Laborbericht zu der Quarkspeise aus dem Altersheim St. Anton.

In der Masse wurde eine hohe Konzentration an Listeria monocytogenes festgestellt, hatte der zuständige Labortechniker geschrieben und netterweise gleich ergänzt: Diese Listerien sind unempfindlich gegen gängige Desinfektionsmittel (Benzalkoniumchlorid) und multiresistent (gefährlich, aber behandelbar!). Und weiter schrieb er: Darüber hinaus befand sich in der Klarsichtfolie, mit dem die Schüssel abgedeckt war (s. beigefügtes Foto), ein Einstichloch, das der Größe nach zu urteilen von einer Einwegnadel stammen könnte.

Voss öffnete das erwähnte Foto. Es zeigte ein auf einer schwarzen Fläche ausgebreitetes Stück Klarsichtfolie. Ziemlich genau in der Mitte befand sich tatsächlich ein winziges, aber deutlich sichtbares Loch. Sie griff zum Telefon und rief den Labortechniker an. »Danke für Ihren Bericht. Was bedeutet gefährlich, aber behandelbar

»Multiresistent bedeutet, dass diese Listerien nicht mehr mit allen Antibiotika behandelbar sind, das macht sie gefährlich. Aber Listerien sind grampositiv, da stehen also noch einige Antibiotika zur Verfügung, sodass wir es hier nicht mit einem der ganz üblen Dreckskeime zu tun haben. Darum eben: gefährlich, aber behandelbar.«

Voss bedankte sich erneut und legte auf.

»Listerien«, informierte sie Lukas. »In der Quarkspeise waren nachgewiesenermaßen Listerien, und zwar offenbar eine multiresistente Form.«

»Okay.« Lukas begann, auf seiner Tastatur herumzutippen, und währenddessen nahm Voss die eingetüteten Flyer zur Hand und las zum gefühlt hundertsten Mal die Botschaften darauf.

»Ihr werdet lernen, mich zu fürchten«, murmelte sie. »Kannst du mal googeln, was grampositiv bed…«

»Oh, oh.« Lukas’ Worte ließen sie innehalten. »Gehen Sie mal auf den YouTube-Kanal von den Typen!«

Der Kanal war noch in ihrem Browserverlauf gespeichert, sodass sie ihn innerhalb von Sekunden gefunden hatte. Als sie ihn aufrief, schnappte sie nach Luft. Es gab ein neues Video, und das trug den Titel: Listerien.

»Scheiße!«, murmelte sie.

Sie klickte das Video an, das genau wie das erste offenbar mit einfachsten Mitteln zusammengezimmert worden war. Es zeigte Bilder mehrerer Elektronenmikroskop-Aufnahmen von stäbchenartigen Bakterien, die in schreiendem Pink eingefärbt waren. Zwischen die Bilder geschnitten waren einzelne Wörter, die einen Satz bildeten:

Listerien

sind

überall

Das letzte Wort wurde überblendet mit einem kurzen Film eines jungen Mannes, der sich spektakulär übergab.

»Wie ekelig!«, hörte Voss Lukas murmeln. Das Bild fror mitten in der Bewegung ein, und dann erschienen nach und nach weitere Worte, die zusammen eine Frage ergaben:

Was wäre, wenn wir uns nicht mehr dagegen wehren könnten?

Die Frage blieb ungefähr zwanzig Sekunden lang auf dem Bildschirm stehen, dann erschien das Prometheus-Bild und damit endete das Video.

»Scheiße«, wiederholte Voss.

Dann war jetzt also der Moment gekommen, vor dem sie sich insgeheim gefürchtet hatte. Von jetzt an jagten sie nicht einfach nur einen Typen, der aus einer paranoiden Verschwörungsgläubigkeit heraus die Welt mit seinen wirren Pamphleten nervte. Jetzt hatten sie diesen Nadeleinstich in der Folie. Resistente Listerien in einer Quarkspeise. Und dazu diesen elenden Film.

Eine Weile lang kämpfte Voss gegen den Druck in ihrem Magen an. Der Anschlag war mit keinem bioterroristisch relevanten Erreger erfolgt, sondern mit einem relativ harmlosen Keim.

»Resistent hin oder her«, sagte Lukas. Er drehte seinen Monitor so, dass Voss die Informationen darauf überfliegen konnte. Er hatte das Stichwort Listerien gegoogelt. »Listerien verursachen bei normal gesunden Menschen höchstens ein bisschen Durchfall. Hier steht, sie sind nur für bestimmte Leute wirklich gefährlich – Ältere, Schwangere und Menschen mit einem geschwächten Immunsystem wie Krebspatienten, Leute mit einer Organtransplantation oder einer HIV-Infektion. Symptome sind Fieber, Durchfall, Erbrechen. Es kann aber bis zur Sepsis oder eitrigen Meningitis kommen. Von den Risikopatienten überleben bis zu dreißig Prozent eine Infektion mit Listerien nicht.«

Voss dachte an die beiden Senioren in St. Anton. Ob sie noch im Krankenhaus waren?

»Vielleicht ist ja der Anschlag mit Listerien nur der Anfang«, mutmaßte Lukas. Zwischen seinen Brauen war eine tiefe Falte erschienen. Seine Bambiaugen wirkten doppelt so groß wie normal. »Ich meine: erst diese Zettel überall, dann die Flut von Flyern in den Bahnhöfen. Was, wenn der Typ es ganz langsam eskalieren lassen will? Was, wenn es weitere Anschläge gibt, und die dann mit gefährlicherem Zeug?«

Es rann Voss kalt den Rücken hinunter, ihn genau das sagen zu hören, was ihr selbst auch soeben durch den Kopf gegangen war. »Möglich ist alles«, sagte sie. Sie würde Tannhäuser informieren müssen. Heute noch.

Sie bat Lukas, die Kaffeemaschine anzuwerfen. Während er das tat, lehnte sie sich zurück, schloss die Augen und verfluchte Tannhäuser dafür, dass er ihr auch noch diese Überfallsache bei Dr. Seifert aufgebrummt hatte. Eigentlich reichte ihr der Prometheus-Fall schon, aber sie musste sich nun mal auch darum kümmern. Sie sah auf die Uhr. Noch war ein bisschen Zeit bis zu ihrem Treffen mit Dr. Seifert und Dr. Falkenberg. Hoffentlich erschienen sie überhaupt.

Und dann würde sie von ihnen ja vielleicht etwas erfahren, das Runge bei dem Kollegendoppelmord half.

Da das Taxi auf ihrem Weg zum Tempelhofer Damm einen kleinen Umweg nehmen musste, fuhr es durch den Kreisel am Straußberger Platz und dann weiter die Karl-Marx-Allee entlang.

Nina, die neben Max auf der Rückbank saß, betrachtete durch die Scheibe die hoch aufragenden Gebäude, die zu DDR-Zeiten gebaut worden waren, aber sie nahm sie kaum wahr. Ihre Finger krampften sich um ihr Handy, spielten damit, berührten immer wieder Toms Eintrag in ihrem Telefonbuch, wählten aber nicht. Je mehr Zeit verging, ohne dass er sich meldete, umso größer wurde ihre Angst, dass ihm etwas Schlimmes passiert war.

»Hey.« Sachte berührte Max sie am Oberschenkel, nahm seine Hand aber gleich wieder weg. »Tom ist am Leben! Da bin ich ganz sicher.«

Der Taxifahrer warf ihnen im Rückspiegel einen Blick zu. Zum Glück gehörte er nicht zu der geschwätzigen Art seiner Zunft. Nina senkte den Kopf und begann, ihre Schläfen zu massieren. »Klar«, sagte sie.

Max seufzte und hielt sein eigenes Handy hoch, auf dem er soeben vergeblich versucht hatte, Frederic von Zeven zu erreichen. »Ich kriege ihn nicht an die Strippe. Aber das ist nicht schlimm. Wenn ich Ethan sage, dass von Zeven seine Hilfe befürworten würde, ist er mit an Bord.«

Hoffentlich!, dachte Nina. Sie fühlte sich seltsam träge, so als hätten der überstandene Schrecken und die Sorge um Tom ihr auch noch den letzten Rest Energie abgesaugt, der ihr nach Georgys gewaltsamem Tod geblieben war. Gut, dass sie gleich nach ihrem Gespräch mit dieser Kommissarin eine drängende Aufgabe haben würde, auf die sie sich konzentrieren konnte. Die Vorstellung, jetzt zur Ruhe zu kommen und die traumatischen Erlebnisse wieder und wieder durchleben zu müssen, war gespenstisch. Besser, sie blieb in Bewegung. Und ihr Verstand auch.

Verdrängung hat noch nie jemandem gutgetan, flüsterte eine Stimme in ihr. Sie verbot ihr den Mund.

Kommissarin Voss erwies sich als eine schlanke Person mit sehr langem und dickem blondem Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz gebunden trug. Sie und ihr noch sehr jung aussehender Kollege empfingen Nina und Max in ihrem Büro, aber da es dort zu eng für eine Unterredung zu viert war, führten sie sie in einen kleinen Besprechungsraum, in dem es nach Leberwurst roch. Als Nina und Max den beiden Polizisten gegenüber Platz genommen hatten, kam die Kommissarin sofort zur Sache.

»Tom Morell?«, fragte sie.

»Wir wissen nicht, wo er ist«, antwortete Max.

Nina musste sich beherrschen, um nicht auszurufen: Die Typen, die uns überfallen haben, haben ihn!

»Können Sie mir das erklären?«, fragte Kommissarin Voss.

Max erzählte ihr, wie sie zu dritt in der Postfiliale erneut überfallen worden waren. »Wir mussten uns trennen, um den Kerlen zu entkommen. Danach haben wir Herrn Morell nicht wiedergesehen.«

»Aha.« Die Kommissarin tippte gedankenverloren mit den Fingerspitzen gegen ihren Unterkiefer, und Nina hatte den Eindruck, dass sie etwas wusste, über das sie nicht sprechen wollte.

»Sie wissen, wo er ist, oder?«, fragte sie mit zittriger Stimme.

Voss ging darauf nur indirekt ein. »Alles der Reihe nach. Zuerst mal meine Fragen. Sie haben gestern Anzeige gegen drei Männer erstattet, die Sie in Ihrem Büro, Dr. Seifert, überfallen haben.«

»Das ist korrekt«, sagte Max.

»Bitte erzählen Sie mir noch einmal genau, was passiert ist.«

Nina übernahm das Reden. In allen Einzelheiten schilderte sie das Geschehen, angefangen von ihrem Eintreffen in Max’ Büro bis hin zu den Ereignissen in der Postfiliale heute Morgen.

»Ich fasse zusammen«, sagte die Kommissarin. »Sie beide und Herr Morell wollten diese zweite Sendung mit Medikamenten aus dem Postfach holen, dabei tauchten dieselben Männer auf, die Sie gestern überfallen und die Herausgabe ebendieser Medikamente verlangt haben. Sie mussten sich trennen, um ihnen zu entkommen, und jetzt ist Herr Morell verschwunden?«

Nina nickte angespannt. »Sie wissen etwas über ihn, oder?«

Diesmal reagierte Voss gar nicht auf die Frage. »Könnten wir Phantombilder der drei Männer anfertigen lassen?« Sie sah Nina an.

Nina war sich alles andere als sicher. Zwar war sie dem Hünen auf dem Flughafen kurz begegnet, aber dabei hatte sie sich sein Gesicht nicht gemerkt, und auch vorhin in der Postfiliale hatte sie alle drei Männer nur kurz gesehen. Immerhin, dem Kerl, dem sie das Vanilleduftöl angedreht hatte, hatte sie eine ganze Weile von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden. Sie versuchte, sich wenigstens dessen Gesicht ins Gedächtnis zu rufen, aber es wurde in ihrer Erinnerung überlagert von der Panik, die sie in diesem Augenblick empfunden hatte. Achselzuckend meinte sie: »Ich versuche es, aber versprechen kann ich nichts.«

Auch Max schüttelte den Kopf. »Geht mir genauso, wenn ich ehrlich bin.«

»Okay, aber ich lasse trotzdem einen Kollegen kommen, der die Bilder mit Ihnen anfertigt.« Die Kommissarin nickte ihrem jungen Kollegen zu, und der verließ den Raum. »Sie bitte ich bis dahin, mir die Männer so genau wie möglich zu beschreiben. Alles, an das Sie sich erinnern, zählt. Größe, Geruch, Stimmen …«

»Moment!«, entfuhr es Nina. Sie war auf den Beinen, bevor ihr bewusst wurde, dass sie aufgesprungen war. »Ich beantworte hier keine einzige weitere Frage mehr, bevor Sie uns nicht gesagt haben, was Sie über Tom wissen!«

Voss klopfte leicht alle zehn Fingerspitzen gegeneinander. »Also gut. Sie haben vermutlich ein Recht, es zu erfahren. Herr Morell wurde von zwei meiner Kollegen gebeten, sie hierher zu begleiten, weil ich ihm Fragen zu dem Überfall stellen wollte, aber leider kam er nie hier an.« Ein Ausdruck erschien in ihren Augen, der in Nina alle Alarmglocken schrillen ließ.

»Was ist passiert?«, flüsterte sie.

»Wir wissen es nicht genau. Es gab einen Angriff auf den Streifenwagen.« Voss’ Miene verdüsterte sich. Ihr junger Kollege kehrte zurück, und sie wartete, bis er wieder saß. »Die beiden Kollegen wurden erschossen. Von Herrn Morell fehlt seitdem jede Spur.«

»Erschossen …« Mit dem Gefühl, auf einmal neben sich zu stehen, ließ Nina sich wieder auf ihren Sitz sinken. »Und was heißt, von ihm fehlt jede Spur?«

»Sagen Sie es mir!«

»Haben die Russen ihn entführt?«

Voss’ Miene blieb ausdruckslos, aber irgendwie hatte Nina das Gefühl, dass die Kommissarin genau diese Vermutung auch schon gehegt hatte.

»Worum geht es hier genau, Frau Falkenberg?«, fragte Voss. »Ich meine, zwei bewaffnete Überfälle, tote Polizisten …«

»Woher soll ich das wissen?« Nina klammerte sich an der Tischkante fest. War es wirklich wahr? Hatten die Russen Tom? Und wenn das stimmte: Lebte er noch?

Kommissarin Voss blies Luft durch die Nase. »Niemand bringt zwei Polizisten um, noch dazu am helllichten Tag und auf einer vielbefahrenen Kreuzung, wenn es dabei nicht um etwas sehr Großes geht, Frau Falkenberg!« Zum ersten Mal griff sie jetzt nach einem schmalen Aktenordner, den sie mit in das Besprechungszimmer genommen hatte. Sie schlug ihn auf und schaute hinein. »Noch dazu kommt Ihre Aussage, dass Sie glauben, das Ganze hängt mit einem Anschlag auf ein medizinisches Institut in Tiflis zusammen.« Sie ließ das Gesagte einen Augenblick lang wirken. »Gut. Wenn ich Ihrem Tom helfen soll, brauche ich mehr Informationen über diese Medikamente, um die es hier geht. Worum genau handelt es sich dabei?«

»Um Phagen.«

»Bitte was?«

Nina hatte das Gefühl, Phagen in den letzten Tagen halb Berlin erklären zu müssen. »Hochinnovative alternative Heilmittel«, sagte sie.

»Die sehr wertvoll sind, vermute ich.«

»Ja.«

»Und Ihr Mentor, dieser Professor Anasias aus Tiflis, der ermordet wurde, hat diese Phagen hergestellt?«

»Genau genommen kann man Phagen nicht herstellen, sie kommen in der freien Natur vor, daher muss man sie dort aufspüren. In Abwässern zum Beispiel. Und wenn man einen passenden Phagen gefunden hat, kann man ihn mit Wirtsbakterien vermehren.«

»Okay. Also Professor Anasias hat solche Phagen gefunden und vermehrt.«

»In seinem Institut lagerte eines der größten Phagenarchive der Welt, ja.«

»Gut. Sie haben ausgesagt, dass Herr Morell Ihnen zur Hilfe geeilt ist, als die Männer Sie gestern überfallen haben.«

»Das stimmt, ja. Er wurde dabei angeschossen.«

»Sie gehen also nicht davon aus, dass er mit denen unter einer Decke steckt?«

Sie schüttelte den Kopf, und auch Max verneinte dieselbe Frage, als Voss sie an ihn richtete.

Dann wechselte die Polizistin abrupt das Thema. »Sie sind Wissenschaftsjournalistin mit dem Fachgebiet Mikrobiologie, Frau Dr. Falkenberg, oder?«

»Ja. Warum?«

»Was sind grampositive Listerien?«

Was war das denn für eine komische Frage?, dachte Nina, aber sie antwortete, ohne sich ihre Irritation anmerken zu lassen. »Listerien sind Erreger einer lebensmittelbedingten Infektion. Grampositiv bedeutet, dass sie sich bei der Analyse im Labor, der sogenannten Gram-Färbung, blau färben.«

Voss sah nicht aus, als habe sie das wirklich verstanden. Dennoch klopfte sie mit beiden Zeigefingern auf die Tischkante. »Ich denke, das war es erstmal.« Sie machte Anstalten, sich zu erheben.

»Was ist mit Tom?«, fragte Nina.

Voss setzte sich noch einmal. »Wir ermitteln in alle Richtungen«, versprach sie. »Wir haben Ihre Beschreibungen der Männer, und Sie helfen jetzt erstmal bei der Erstellung dieser Phantombilder. Ich schicke ein Team zu Ihnen, Dr. Seifert, um das Geschoss sicherzustellen, das Herrn Morell gestreift hat. Und wir werden Kontakt mit den Behörden in Georgien aufnehmen. Vielleicht führt uns einer dieser Ansätze zu einem Ergebnis.«

»Es kann auch sein«, ergänzte Lukas, »dass die Entführer sich mit Forderungen melden.«

Nina spürte, wie etwas in ihr ins Rutschen kam. Das Laborjournal. Und die Superphagen. Dahinter waren die Mistkerle her. »Und wenn sie sich nicht melden?«

Statt darauf zu antworten, erhob sich Kommissarin Voss nun endgültig. »Ich danke Ihnen für Ihre Kooperationsbereitschaft«, sagte sie. »Der Zeichner kommt gleich, und wenn Sie mit ihm fertig sind, können Sie gehen.«

»Was sollte die Frage nach den Listerien?«, erkundigte sich Lukas, nachdem Voss mit ihm in ihr Büro zurückgekehrt war.

Voss warf sich auf ihren Drehstuhl. »War nur so eine Idee. Ich dachte mir, wenn die Frau Mikrobiologin ist, kann sie uns ein bisschen mehr über dieses Dreckszeug sagen.«

»Sie haben sie getestet, oder? Sie wollten sehen, ob sie mit den Anschlägen was zu tun hat.«

»Stimmt.« Voss grinste.

»Und? Was glauben Sie?«

Sie beugte sich vor, nahm einen Kugelschreiber und ließ ihn zwischen den Fingern tanzen. In Gedanken ging sie noch einmal das ganze Gespräch von eben durch. Nina Falkenberg hatte sehr besorgt um diesen Morell gewirkt, was einfach zu erkennen gewesen war, denn obwohl sie versuchte, beherrscht zu wirken, hatte diese Frau eine extrem ausdrucksstarke Mimik. Was für Voss aber noch viel wichtiger war: Nina Falkenberg war überrascht gewesen von der Erwähnung der Listerien. Und in ihrer Antwort hatte sich kein einziges Indiz dafür gezeigt, dass sie auch nur ahnte, warum Voss diese Frage gestellt hatte. Das Gleiche bei Max Seifert.

Wenn sie hätte wetten müssen, hätte sie eine ziemliche Stange Geld darauf gesetzt, dass diese beiden nichts mit dem Anschlag auf St. Anton zu tun hatten. Wäre ja auch zu einfach gewesen. Dann mussten es jetzt also die Laborfuzzis richten.

Seufzend warf Voss den Kugelschreiber auf den Schreibtisch und griff zum Telefon, um den Erkennungsdienst damit zu beauftragen, die Kugel in Seiferts Haus sicherzustellen.

YouGen, die Firma von Ethan Myers, lag in einem Areal, das früher einmal eine Kaserne gewesen war. Nach dem Gespräch mit der Polizei und einer wie erwartet eher unbefriedigenden Sitzung mit deren Zeichner nahmen Nina und Max sich ein weiteres Taxi und diskutierten auf der Fahrt dorthin, was die sonderbaren Fragen der Kommissarin zu bedeuten gehabt hatten. Sie kamen zu keinem Ergebnis, aber die Diskussion wühlte Nina auf und ließ sie in doppelter Sorge um Tom zurück.

Die Gebäude, in denen YouGen residierte, waren dreistöckig, aus Beton und mit langen Fensterbändern durchzogen. Auf den ersten Blick konnte man erkennen, dass die Anlage in moderne Working Spaces unterteilt worden war, und auch die unterschiedlichen Firmenschilder wiesen darauf hin.

Das Logo von YouGen bestand aus einem stark stilisierten Mikroskop in einem abgetönten Blauton. Der Anblick milderte die Anspannung in Nina etwas, denn in ein Labor zu gehen bedeutete, dass sie ab jetzt wieder Herrin des Geschehens war.

Das Start-up belegte den gesamten Gebäudeteil rechts vom Treppenhaus und zog sich über alle drei Etagen. Der Eingang bestand aus einer Wand aus mattiertem Sicherheitsglas, in die das Firmenlogo eingeätzt worden war. Die Tür führte in ein Entree, das Nina an die Google-Zentrale in Kalifornien erinnerte. Der Empfangstresen aus blauem Kunststoff sah aus wie eine Installation von Jeff Koons. Das YouGen-Logo war in die Wand dahinter eingeätzt, aber irgendein Spaßvogel hatte einen Kunstdruck von Michael Bedards Sitting Ducks darübergeklebt, der es halb verdeckte. Die Köpfe der drei Enten auf dem Bild waren durch ausgeschnittene Fotos von Donald Trump, Jair Bolsonaro und Alice Weidel ersetzt worden.

In einem Raum, der rechter Hand vom Empfang abging, standen eine verwaiste Tischtennisplatte und ein Kicker, an dem zwei junge Männer sich gerade ein heftiges Match lieferten. Keiner von beiden nahm Notiz von Nina und Max, der von der Frau hinter dem Empfang mit einem herzlichen »Hallo, Herr Seifert!« begrüßt wurde.

»Hallo, Sandra«, grüßte er zurück. »Ich fürchte, ich müsste mal kurz mit Ethan sprechen.«

Es war schon weit nach Feierabend, als Voss endlich alle Informationen aus der Befragung von Frau Falkenberg und Herrn Seifert in die Fallakte eingegeben und sich die nicht besonders aussagekräftigen Phantombilder angesehen hatte. Lukas hatte sie schon eine ganze Weile zuvor nach Hause geschickt, aber ihr eigener Feierabend würde noch etwas auf sich warten lassen, denn zu ihrem Verdruss klingelte trotz der fortgeschrittenen Stunde ihr Telefon.

»Guten Abend, Frau Voss«, erklang eine etwas gehetzt klingende Männerstimme. »Mein Name ist Gruber, ich bin der Heimleiter von St. Anton. Eben waren Ihre Leute bei mir und haben nach Spuren gesucht, der …« Der Mann verstummte, als müsse er um die passenden Worte kämpfen.

»Sprechen Sie ruhig weiter«, ermunterte Voss ihn.

»Ich, ich habe mich nicht getraut, den Männern … Ach Mist! Vielleicht wäre es besser, wenn Sie herkommen. Ich muss Ihnen dringend etwas zeigen.«

Ungefähr eine halbe Stunde später empfing Gruber sie in einem Büro, das im dritten Stock des Altersheimes lag und einen schönen Blick über einen kleinen Park preisgab. Der Heimleiter war ein dicklicher Mann mit einer Nase, die aussah, als wäre sie vor langer Zeit mehrmals gebrochen worden. Und er wirkte auf Voss ungewöhnlich nervös, was sie auf der Stelle neugierig machte.

Nachdem Gruber ihr die Hand geschüttelt hatte, wies er auf den Monitor auf seinem Schreibtisch, machte aber nicht Platz, sodass sie sich anschauen konnte, was darauf zu sehen war. »Ich, ähm …«, stammelte er. Noch einmal schien er mit sich zu ringen, und schließlich stieß er hervor: »Kruzifix! Egal! Als Ihre Leute vorhin hier waren, wurde mir klar, dass es hier nicht um einen Fall von Lebensmittelhygiene geht. Stimmt’s?«

Vorsichtig schüttelte Voss den Kopf. »Wir gehen aktuell nicht davon aus, nein.«

»So, wie Ihre Leute vorgegangen sind, ist hier ein Verbrechen passiert?«

»Auch davon gehen wir aus, ja.«

»Das denke ich auch.« Jetzt endlich trat Gruber zur Seite, sodass Voss hinter seinen Schreibtisch gehen und einen Blick auf seinen Monitor werfen konnte. Sie sah ein Standbild der Küche, das offenbar von einer Überwachungskamera auf einem Regal stammte. »Ich wollte das eigentlich nicht … na ja, ich habe die Kamera heimlich angebracht, weil immer wieder Lebensmittel aus der Küche verschwunden sind, und ich wollte meine Mitarbeiter …« Er verstummte und lächelte Voss um Entschuldigung heischend an.

Ein Kribbeln hatte sie erfasst. Der Aufnahmewinkel der Kamera war groß, das Bild farbig und verblüffend scharf. Im Vordergrund war eine Anrichte zu sehen, und darauf stand eine große Schüssel, die mit Klarsichtfolie abgedeckt war.

»Ich weiß, ich hätte meine Mitarbeiter informieren müssen, dass …«

»Ihre illegal angebrachte Kamera ist mir egal!«, fuhr Voss dem Heimleiter aufgeregt über den Mund. »Zeigen Sie mir, was Sie haben!«

Erleichtert beugte er sich vor und ließ die Aufnahme laufen. Man sah das typische Gewusel einer Großküche, in der gerade Dutzende Essen vorbereitet wurden. Im Hintergrund war eine offene Doppelflügeltür zu sehen, hinter der die Ladeklappe eines Transporters zu erahnen war. Voss konzentrierte sich auf die Quarkspeise im Vordergrund. Es dauerte ungefähr eine Minute, dann kam ein Mann ins Bild. Er trug einen Kittel wie ein Pfleger, aber er wirkte nicht wie einer. Seine Bewegungen kamen Voss zackig und sparsam vor, als gehöre er zu einem Sondereinsatzkommando oder wäre Soldat. Das Licht der Deckenbeleuchtung spiegelte sich in seiner Glatze und in einem Paar kalter Augen. Und was das Beste war: Er hatte keine Ahnung von der Existenz der Kamera! Voss hätte Gruber küssen können. Sie sah zu, wie der Kerl sich umschaute, einen günstigen Moment abpasste und dann eine Spritze aus der Tasche zog.

»Yes!«, entfuhr es ihr, als Mr. Glatze die Spritze durch die Folie stach und den Kolben herunterdrückte. Sie nahm Gruber die Maus weg. In einem günstigen Moment hielt sie das Bild an, sodass das Gesicht ihres Attentäters frontal zu erkennen war. »Hab ich dich!«, murmelte sie.

Ethan Myers sah auf den ersten Blick weniger wie ein erfolgreicher Mikrobiologe aus als vielmehr wie ein kalifornischer Surfer. Er war gut einen Kopf größer als Nina, hatte ein breites Kreuz, und seine braunen Haare fielen ihm bis auf die Schultern. Er trug ausgebleichte Jeans, die dem Schnitt nach zu urteilen sehr teuer gewesen sein musste. Darüber ein Hemd, das ebenfalls exklusiv wirkte, aber ungebügelt war.

»Alter!«, begrüßte er Max, nachdem die Empfangsdame ihn aus den hinteren Räumen herbeitelefoniert hatte. »Ich dachte, du bist bis über beide Ohren mit der Orga für diese oberwichtige Gala beschäftigt!« Er schüttelte Max herzlich die Hand, aber sein Blick wanderte dabei bereits in Ninas Richtung. »Und wen hast du mir da mitgebracht?«

»Das ist Dr. Nina Falkenberg«, stellte Max vor. »Wir kommen, weil wir deine Hilfe brauchen.«

Myers Blick wanderte einmal an Nina hinauf und wieder hinab. Sie fühlte sich taxiert, aber mit den ersten Worten, die er an sie richtete, versöhnte er sie sofort. »Dr. Falkenberg! Ich habe Ihren letzten Artikel im SPIEGEL gelesen. Sehr spannend, was Sie da geschrieben haben.« Er deutete auf Max. »Ich vermute, er hat Sie deswegen für die Fighters rekrutiert?«

Ninas Gefühlslage wechselte von Überraschung darüber, dass er ihre Artikel kannte, zurück zu Missmut. »Mich rekrutiert niemand«, sagte sie kratzbürstiger, als sie beabsichtigt hatte.

Er lächelte einfach über ihren schroffen Ton hinweg und bat sie in einen Besprechungsraum, der neben dem Freizeitzimmer lag. Das Gelächter der beiden Kickerspieler und das harte Klacken, wenn der Ball getroffen wurde, waren durch die Wand hindurch deutlich zu hören.

»Setzt euch erstmal!« Myers wies auf einen ovalen Tisch mit acht Stühlen. Ein kleines Tablett mit Mineralwasser- und Saftflaschen sowie vier umgedrehte Gläser standen in der Mitte, ein Tablett mit Kaffeetassen, Milch und Zucker daneben. »Bitte bedient euch. Kaffee kommt gleich.« Er wartete, bis sie Platz genommen hatten, dann setzte er sich so, dass er ihnen beiden gegenübersaß. Mit einer gemessenen Bewegung faltete er die Hände auf der Tischplatte. »Und jetzt erzählt! Was kann ich für euch tun?«

Tom musste unentwegt auf Victors Blut starren. Nachdem die beiden Schüsse gefallen waren, hatte er sekundenlang keine Luft bekommen. Er hatte zugesehen, wie Misha auf Jegors Befehl hin Victors Leiche aus dem Raum geschafft hatte, und die blutige Schleifspur hatte für Tom alle Farbe aus dem Rest der Welt gesaugt, sie fahl und flach gemacht. Mittlerweile begann das Blut zu trocknen und nahm einen dunklen Rostton an. In der Luft lag immer noch der Geruch der beiden abgefeuerten Schüsse. Und es fühlte sich immer noch so an, als hätte Tom einen Herzinfarkt erlitten.

Ihm war kotzübel.

Was würde jetzt als Nächstes geschehen? Jegor hatte vorerst darauf verzichtet, seine Befragung nach dem Verbleib des Laborjournals fortzusetzen. Tom vermutete, dass der Dreckskerl demnächst Nina anrufen würde, um sie zur Übergabe der Phagen zu zwingen. Wie in Dauerschleife malte sich sein Gehirn eine katastrophale Szene nach der nächsten aus: wie er und Nina im Fadenkreuz der Entführer auf irgendeiner abgelegenen Brücke standen. Wie die Übergabe schiefging und Nina und er selbst durch die Kugeln der Russen starben. Und – was die schlimmste aller Vorstellungen war – wie die Phagenlösung, die vielleicht die letzte Rettung für seine Tochter war, zerstört wurde …

Er senkte den Kopf und schloss die Augen. Noch war es nicht so weit. Noch hatte er ein Ass im Ärmel. Nur er wusste, wo sich das Laborjournal befand. Solange er dessen Verbleib nicht verriet, würde man ihn wenigstens am Leben lassen.

Er hörte, wie Jegors Handy klingelte, dann erklang das leise Piepsen des angenommenen Anrufs. Zwei, drei Sekunden lang hörte Jegor zu, dann sagte er: »Victor ist tot.« Er lauschte. »Wie ich gesagt habe: Er war wirklich nicht der richtige Mann für diesen Auftrag. Wenn er klüger agiert hätte, hätten wir die Phagen längst, und dafür kann ich mich nur … Ja. … Nein, das ist doch Unsinn! … Okay. Ich verspreche, ich hole aus Morell raus, wo sich das Journal … Ja. Es war nötig, die beiden Polizisten zu erschießen. Du musst schon mir überlassen, wie ich das regele. Misha und sein Messer haben bisher noch jeden zum Reden … Was? Ja, das kann ich verstehen. Natürlich.« An dieser Stelle schien Jegors Gesprächspartner zu einer längeren und offenbar verärgerten Rede anzusetzen. Tom hätte ein Vermögen dafür gegeben zu erfahren, worum es ging, aber Jegors Schritte entfernten sich, gleich darauf fiel eine Tür hinter ihm ins Schloss und schnitten seine Worte ab.

Tom hob den Kopf.

Misha hatte es sich in der leeren Fensterbank bequem gemacht. Obwohl Tom sich wegen seiner Fesseln keinen Millimeter bewegen konnte, hielt der Hüne die Pistole locker auf dem Schoß. Er grinste, als sich ihre Blicke begegneten.

Tom überlegte noch, ob Misha eine ähnliche Schwachstelle besaß wie Victor mit der Kindersache, als Jegor wieder hereinkam. Er hatte eine Tasche dabei, die er vermutlich aus dem Van geholt hatte, ließ sie vor Tom auf den Boden fallen, zog den Reißverschluss auf und kramte darin herum. Er sah missmutig aus, so als sei es ihm überhaupt nicht recht, was der Typ am Telefon ihm um die Ohren gehauen hatte.

Hat er dir etwa verboten, Hand an mich zu legen?, dachte Tom in einem Anflug von Hoffnung.

Aber als Jegor sich wieder aufrichtete, hatte er in der einen Hand ein gläsernes Fläschchen mit einer klaren Flüssigkeit. In der anderen hielt er eine Spritze, die er aufzog.

Toms Körper wurde zu Eis. »Was hast du vor?«

Jegor legte das Fläschchen wieder in die Tasche, dann kontrollierte er, ob sich Luft in der Spritze befand, und baute sich vor Tom auf.

»Jetzt plaudern wir ein bisschen«, sagte er und setzte ihm die Spritze an den Oberarm.

Die abendlichen Schatten krochen durch das Fenster des Krankenzimmers, aber der bläuliche Schimmer, der sich auf das Bettzeug legte, kam von dem Fernseher unter der Zimmerdecke, auf dem eine Vorabend-Quizshow lief. Es war so ziemlich die einzige Sendung, auf die Sylvie sich noch konzentrieren konnte.

Der Moderator fragte die Kandidatin gerade nach der korrekten Schreibweise des Wortes brillant, als die Zimmertür sich öffnete und Dr. Heinemann in Schutzkleidung hereinkam.

»Mit nur einem i«, murmelte Sylvie, tastete nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher stumm.

Dr. Heinemann warf einen stirnrunzelnden Blick auf den Bildschirm. »Wenn ich solche Fragen sehe, bin ich froh, dass ich so eine Arzthandschrift habe«, sagte er mit einem Lächeln. »Damit sieht man die Rechtschreibfehler nicht.«

Sylvie lachte. »Deutsch war eher nicht Ihr Lieblingsfach, oder?«

Er trat an ihr Bett. »Nein. Wirklich nicht.«

Sylvie setzte sich ein wenig aufrechter in die Kissen. »Warum sind Sie noch hier? Ich meine, haben Sie nicht längst Feierabend?«

»Ich wollte nur noch einmal kurz nach dir sehen, bevor ich nach Hause gehe.«

Seine Stirn lag in ziemlich beunruhigenden Falten, fand Sylvie. »Und?«, fragte sie so leichthin, wie sie konnte. »Wirken die neuen Medikamente schon?« Ihr Herz war ein zitternder kleiner Vogel in ihrer Brust.

Dr. Heinemann rieb sich über den Mund. »Es ist noch zu früh, etwas zu sagen. Ich hatte dir ja erzählt, dass man Erfolge erst nach ungefähr einer Woche sehen kann.«

Das hatte er wirklich. Sie hatte allerdings heute den ganzen Tag über etwas weniger gehustet und das für ein gutes Zeichen gehalten – bis Schwester Tanja eben gerade ihre aktuelle Körpertemperatur gemessen hatte.

»Ich hab achtunddreißig neun Fieber«, sagte sie leise und forschte dabei in Dr. Heinemanns Gesicht nach Anzeichen für seine Gedanken.

Er hatte jedoch ein echtes Pokerface aufgesetzt. Sogar seine Stirnfalten glätteten sich jetzt, und das machte Sylvie erst richtig Angst.

»Ja«, murmelte er. »Ich weiß.« Er streckte die Hand aus und berührte sie am Arm. Ihre Angst wuchs ins Unermessliche. Sonst berührte er sie nur, wenn er es im Zuge irgendeiner Untersuchung musste. »Ich wollte dir einfach nur eine gute Nacht wünschen.«

Klasse, dachte sie. Nach diesem Auftritt würde sie vermutlich gar nicht mehr schlafen können. »Danke.« Das Lächeln zerrte an ihren Mundwinkeln.

»Also.« Er tätschelte sie noch einmal, dann wandte er sich zum Gehen. »Gute Nacht, Sylvie.«

»Gute Nacht«, murmelte sie. Als er fort war, starrte sie auf den stummen Fernseher, wo inzwischen ein anderer Kandidat an der Reihe war. Die Frau davor hatte nicht gewusst, wie man brillant richtig schrieb. Sylvie wollte den Ton wieder anschalten, aber ihr schossen Tränen in die Augen, und sie brauchte all ihre Kraft, um sie zurückzudrängen. »Dreh bloß nicht durch!«, murmelte sie.

Selbst wenn auch diese letzte Behandlung fehlschlagen sollte, immerhin war ja ihr Vater noch irgendwo da draußen einer alternativen Heilmethode auf der Spur. Und dass er damit ziemlich beschäftigt war, zeigte ihr die Tatsache, dass er seit vorgestern nicht mehr bei ihr gewesen war. Sie wischte sich über die feuchten Wangen. Sie vermisste ihn. Und sie wollte zurück in die Zeit, in der sie sich ganz sicher gewesen war, dass ihr Dad sie jederzeit beschützen konnte. Er würde das auch jetzt tun, redete sie sich ein, aber es kostete Mühe, es zu glauben.

Die Hoffnung stirbt zuletzt. Was für ein blöder Spruch!

Seufzend schaltete sie den Ton des Fernsehers wieder an und hörte zu, wie der neue Kandidat daran herumrätselte, wer den Roman Das Glasperlenspiel geschrieben hatte. Um ihre zitternden Hände mit irgendwas zu beschäftigen, nahm sie den Joghurt, der vom Abendessen noch übrig war, und zog den Aludeckel ab. Künstliches Erdbeeraroma stieg auf. Sie rümpfte die Nase, aber sie nahm den Löffel, tauchte ihn in die rosafarbene Masse und steckte ihn in den Mund. Der Joghurt schmeckte scheußlich.

Sylvie nahm sich vor, ihre Mutter darum zu bitten, ihr beim nächsten Besuch Schokolade mitzubringen. Wenn diese beschissene Krankheit einen Vorteil hatte, dann den, dass ihre Eltern ihr erlaubten, alles zu essen, worauf auch immer sie Lust hatte.

Der Abendhimmel über Berlin hatte die Farbe von altem Blei. Nina stand am Fenster einer der Wohnungen, die YouGen für Wissenschaftler aus anderen Städten oder Ländern bereithielt. Ethan hatte ihr angeboten, für ein paar Tage dort einzuziehen. Da sie gerade keinen Kopf für die Suche nach einem geeigneten Hotel hatte, hatte sie dankbar angenommen. Max hatte die zweite Wohnung erhalten, denn sie alle befürchteten, dass die Russen ihn bei sich zu Hause abpassen würden.

Nachdem sie Ethan vorhin von Sylvies aussichtsloser Notlage erzählt hatten, hatte Nina ihren Bericht mit den Worten geendet: »Um es kurz zu machen, Sie wären mit Ihrem Labor eine wirkliche Hilfe für uns. Wenn der intravenöse Antibiotika-Mix auch nicht mehr gegen den Erreger wirkt, ist das Mädchen austherapiert. Die letzte Hoffnung ist dann eine Ultima-Ratio-Behandlung mit einem passenden Cocktail aus Therapiephagen.«

Ethans Blick war düster geworden. Ganz in Gedanken griff er nach der Wasserflasche und öffnete sie mit einer schnellen Drehung, sodass es zischte.

Nina ahnte, wie es hinter seiner Stirn arbeitete, und sie hätte gern gewusst, was er dachte.

»Hör zu, wenn du willst, kontaktiere ich von Zeven«, ergriff Max das Wort. »Er kann die Behandlung für Sylvie bestimmt finanzieren, und …«

»Es geht nicht um die Finanzierung!«, fiel Ethan ihm ins Wort.

Max wirkte verblüfft. »Sylvie wäre das perfekte Gesicht für unsere Gala, Ethan! Wenn die Abgeordneten sie sehen – und vielleicht sogar schon einen ersten Behandlungserfolg mit Georgys Phagen –, dann mindert das die Bedenken der Grünenfraktion vielleicht weit genug, dass sie für das Gesetz …«

»Schon gut!« Ethan betrachtete die Wasserflasche in seiner Hand wie die Glaskugel eines Wahrsagers.

Max ließ sich so schnell nicht aus dem Konzept bringen. »Nina könnte eine Reportage über das Ganze für den SPIEGEL schreiben, das würde …«

»Ich helfe euch ja!«, fiel Ethan ihm ins Wort. »Aber ich fürchte, mit Phagen kenne ich mich null aus. Welche Laborausrüstung braucht ihr genau?« Er goss sich ein Wasserglas voll und hob die Flasche in Ninas Richtung.

Sie lehnte dankend ab. Dann suchte sie Max’ Blick, und als er aufmunternd nickte, griff sie in ihre Tasche und stellte die beiden Ampullarien auf den Tisch. Sie öffnete sie und drehte sie so, dass er hineinsehen konnte. »Das ist alles, was wir haben!« Das Licht der tiefstehenden Sonne brach sich in der klaren Flüssigkeit in den Glasröhrchen.

Behutsam nahm Ethan eine der Ampullen aus der Halterung, betrachtete sie eingehend, bevor er sie wieder zurücksteckte. Seine Miene war noch immer undurchdringlich. »Die zu vermehren ist wahrscheinlich kein Problem. Ein Labor und einen Fermenter kann ich euch auf jeden Fall zur Verfügung stellen, falls ihr das Zeug in größeren Mengen braucht. Aber was macht euch so sicher, dass dieser, hm, Cocktail dem Mädchen helfen wird?«

Nina überlegte, wie viel sie ihm von den innovativen Forschungen Georgys erzählen sollte. Ihr Instinkt riet ihr, vorsichtig zu sein. »Wir haben Grund zu der Annahme«, sagte sie nur.

Ethan schüttelte den Kopf. »Ich habe in meinem ganzen Team niemanden, der sich mit Phagen auskennt. Aber wir brauchen die nötige Expertise – und vermutlich doch auch ein Wirtsbakterium.«

»Für die Expertise sorgen wir.« Nina nahm ihr Handy heraus und wählte Marens Nummer. Ihre Freundin ging nach dem zweiten Klingeln ran.

»Nina!«

»Hallo, Maren. Wie geht es dir?«

»Gut. Sie haben mich entlassen, und ich bin auf dem Weg nach Hause, um meinen Koffer zu packen. Ich habe einen Flug morgen ganz früh bekommen. Ich simse dir noch, wann ich lande.«

Eine Welle von Zuneigung und Dankbarkeit durchflutete Nina. Im Grunde war sie sicher gewesen, dass Maren ihr Versprechen herzufliegen einhalten würde. Aber trotzdem war sie irgendwie erleichtert. »Das ist super!« Sie schaltete den Lautsprecher an. »Hör mal, Sylvies Arzt hat durchblicken lassen, dass ihr die Zeit wegläuft. Ich würde gern schon etwas tun, aber ich weiß nicht, was.«

»Hat sich dieser Labormensch schon bereit erklärt, euch zu helfen?«, fragte Maren.

»Der Labormensch heißt Ethan«, sagte Ethan. »Ja, hat er.« In seinen Augen glitzerte leichter Spott.

»Ah.« Maren schien irritiert.

»Das war Ethan, Maren«, informierte Nina sie. »Wir sitzen in seinem Labor zusammen und überlegen, wie wir schon mal anfangen können.«

»Du hast demnach die zweite Phagensendung?«

»Habe ich.«

Maren ächzte vor Erleichterung. Sie schwieg mehrere Sekunden lang, dann stieß sie hervor: »Das ist wunderbar! Georgys Vermächtnis ist also gerettet?«

Nina dachte daran, dass sie das Laborjournal nicht hatten, aber bevor sie eine entsprechende Bemerkung machen konnte, sprach Maren schon weiter. »Gut. Ihr könntet schon mal die Phagen im Cocktail zur Vermehrung ansetzen. Wenn es dieser Sylvie so schlecht geht, bedeutet das, dass der Keim bereits größere Teile ihres Organismus angegriffen hat. Das wiederum heißt, dass ihr vermutlich große Mengen an Phagen benötigt, die noch dazu aufgereinigt werden müssen, damit man sie intravenös verabreichen kann. Aber dabei kann ich euch dann helfen, wenn ich da bin.«

»Ich sagte eben schon, ich bin kein Experte für Phagen«, warf Ethan ein. »Aber für die Vermehrung brauchen wir doch ein Wirtsbakterium, oder? Habt ihr irgendwo dokumentiert, welches?«

»Ja«, antwortete Maren. »Das steht alles in Georgys Laborjournal. Aber für die Vermehrung der unterschiedlichen Phagen im Cocktail müsst ihr nicht unbedingt den speziellen Keim des Mädchens haben. Verschiedene Pseudomonas-aeruginosa-Stämme, die ihr vorrätig habt, gehen auch. Ich gebe euch gleich eine Liste der Spezies durch, die wir hier erfolgreich verwendet haben.«

»Perfekt!«, sagte Ethan. »Mein Labor macht Analysen für ein paar Berliner Kliniken. Da haben wir oft mit Pseudomonas zu tun, die haben wir also zur Verfügung.«

»Gut! Aber ihr solltet trotzdem sehen, dass ihr an das Isolat und die Daten des Mädchens kommt. Ihr müsst auf jeden Fall vorab Tests machen, ob der Cocktail wirklich passgenau wirkt. Die Phagen sind sehr wählerisch in ihrem Appetit …«

Das alles hatten sie direkt nach Ninas und Max’ Ankunft bei YouGen am Nachmittag besprochen.

Jetzt, während Nina in der Wissenschaftlerwohnung stand und an dieses Gespräch zurückdachte, spürte sie wieder die Sorge um Tom – und, ja, auch um das Journal. Beides hatte sich seit dem Gespräch mit Kommissarin Voss in ein nagend-schmerzhaftes Gefühl verwandelt, das kaum auszuhalten war.

Sein Telefon war immer noch ausgeschaltet, das hatte sie inzwischen noch ein paarmal überprüft. Um den Abend irgendwie zu nutzen und nicht durchzudrehen, entschloss sie sich, ein paar erste Notizen für ihre Reportage zu machen. Sie wandte sich vom Fenster ab, nahm ihr Mininotebook aus der Tasche und machte sich an die Arbeit.