Donnerstag.

4

Für Voss begann der nächste Tag damit, dass sie und Runge bei Tannhäusers morgendlicher Besprechung im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit standen, und das lag natürlich an dem Doppelmord an den beiden Kollegen.

Runge trug auch heute wieder einen seiner figurbetonten Anzüge, allerdings diesmal einen in Dunkelblau. Dazu spitze Stiefel, die gegelte Frisur und den sorgsam getrimmten und geölten Bart. Voss hatte nicht zum ersten Mal das Gefühl, dass er besser in eine Werbeagentur gepasst hätte. Sie schob diesen Gedanken fort und hörte zu, was er über den Tod von Marc Heller und Monika Oberau zu sagen hatte. »Wir bekamen gestern mehrere Anrufe von Passanten, die meldeten, an einer Kreuzung in der Nähe des Planetariums sei es zu einer Schießerei gekommen. Zwei Streifen fuhren sofort hin und fanden den Dienstwagen von Heller und Oberau mit laufendem Motor und beiden Türen auf der Beifahrerseite offen vor. Heller und Oberau waren tot, getötet durch je einen gezielten Schuss in den Kopf.« Er projizierte Tatortbilder und Bilder der Leichen an die Wand. Voss hörte die Umstehenden leise ächzen. Jemand fluchte lästerlich. Sie biss sich auf die Innenseite der Wange, um es nicht selbst auch zu tun.

»Wir wissen, dass zum Tatzeitpunkt dieser Mann im Fond des Streifenwagens saß.« Die Tatortfotos wurden ersetzt von dem Porträt des lachenden, ziemlich gutaussehenden Mannes mit wirren Locken und Fünftagebart, das Voss auch schon im Internet gesehen hatte. »Das ist Tom Morell. Er arbeitet als Foodblogger – fragt mich nicht, was das genau ist – und Reisejournalist. Hellers Meldung zufolge haben er und die Kollegin ihn bei den Schönhauser Allee Arcaden aufgegriffen. Sie wollten ihn hierherbringen, weil die Kollegin Voss ihm ein paar Fragen zu einem ihrer Fälle stellen wollte. Dazu kommen wir gleich. Zum Tathergang selbst haben wir widersprüchliche Zeugenaussagen, obwohl die Tat am helllichten Tag und auf einer belebten Kreuzung passiert ist. Sicher scheint, dass die beiden Morde dazu dienten, Morell zu befreien, aber bisher wissen wir nicht, ob sie ihn entführt haben oder ob er zu ihnen gehört, denn seit der Tat ist Morell verschwunden. Wir waren bei der Adresse, unter der er gemeldet ist, aber offenbar lebt er in Scheidung. Seine Frau konnte uns nicht sagen, wo er zurzeit wohnt, vermutet aber – O-Ton – in irgendeiner abgeranzten Bude. Sie ist ganz offensichtlich nicht besonders gut auf ihn zu sprechen, hat auch nur seine Handynummer, um ihn zu erreichen, und das Handy ist seit gestern ausgeschaltet.« Zu Morells Bild gesellte sich ein weiteres, diesmal war es ein Screenshot eines Akteneintrags. »Morell hat nur einen Tag, bevor die beiden Morde passiert sind, zusammen mit zwei anderen Zeugen einen Überfall von drei Männern osteuropäischer Herkunft angezeigt, deren Identität wir nicht kennen. Demnach wurden er, eine gewisse Dr. Nina Falkenberg und ein Dr. Max Seifert in Seiferts Büro von mehreren Bewaffneten überfallen. Der Aussage von Dr. Falkenberg und Dr. Seifert zufolge wurde auch dabei auf sie geschossen und Morell leicht verwundet.« Mit einer Handbewegung überließ Runge Voss das Wort.

»Ich konnte sowohl mit Frau Falkenberg als auch mit Herrn Seifert sprechen. Laut deren Aussage waren die drei Männer, die den Überfall begangen haben, hinter einem innovativen Medikament her, das sich in Frau Falkenbergs Besitz befindet. Wir gehen aktuell davon aus, dass dieser Überfall und der Mord an den Kollegen sowie Morells vermutliche Entführung von denselben Männern begangen wurden. Die ballistischen Untersuchungen der Geschosse von beiden Tatorten laufen allerdings noch.«

»Gut.« Tannhäuser hustete in die Hand. »Kommen wir dann zu unserem Prometheus-Fall, der seit gestern Nachmittag kein Lulli-Fall mehr ist.«

Lulli-Fall? Wie alt bist du?, dachte Voss, nickte aber. »Stimmt. Das Labor hat multiresistente Listerien in einer Quarkspeise im Altenheim St. Anton gefunden, die nachweislich mit einer Spritze dort eingebracht worden sind.«

»Resistent?«, fragte jemand aus der Runde.

Voss nickte. »Ja. Multiresistent sogar. Wir müssen davon ausgehen, dass wir es mit einem bioterroristischen Anschlag zu tun haben, zumal es mittlerweile auch im Internet so was wie ein Bekennervideo gibt.« Sie nickte Ben Schneider zu, der auf seinem Platz am Fenster die ganze Zeit aufmerksam zugehört hatte. Jetzt kam er nach vorn und rief den YouTube-Kanal auf. Während die beiden ersten Bekennervideos liefen, wurde es unter den Anwesenden unruhig, und Voss konnte nachempfinden, was die Kolleginnen und Kollegen dachten. Der Fall nahm langsam einen gruseligen Verlauf.

»Aber wir haben noch mehr«, fuhr Ben fort. »Darf ich vorstellen: Prometheus.« Er warf das Standbild an die Wand, das sie dank Grubers illegal installierter Kamera besaßen. Voss starrte in das Gesicht des Mannes mit der Glatze. »Das ist unser Attentäter«, stellte Ben vor. »Der Mann, der die Quarkspeise mit den Listerien verseucht hat.«

»Sehr gut«, sagte Tannhäuser. »Wir geben den Mann zur Fahndung raus. Tina, prüf nach, ob wir den Kerl irgendwo in unserem System haben. Und lass die Schüssel und die Quarkspeise auf DNA-Spuren untersuchen, vielleicht bringt uns das weiter. Dieser Videokanal, mit dem dieser Prometheus das Attentat für sich reklamiert? Kommen wir da weiter, Ben?«

»Aktuell versuchen wir gerade rauszufinden, von wem der Kanal erstellt wurde, aber das kann ein bisschen dauern.« Ben wollte zu einer längeren technischen Erklärung ansetzen, aber er wurde unterbrochen, weil Voss’ Handy anfing zu klingeln.

Der Anruf kam von einem anderen Revier, das sah sie an der Kennung. Sie ging ran, murmelte »Moment!« und verließ mit einem entschuldigenden Lächeln in Bens Richtung den Raum. »Reiffenberg«, sagte eine Männerstimme, kaum dass sie auf dem Flur angekommen war. »Du bist die Kollegin, die im Prometheus-Fall ermittelt, oder?«

»Ja«, sagte Voss.

»Gut oder besser gesagt: nicht gut. Wie es aussieht hat es einen weiteren Anschlag auf ein Altersheim gegeben.«

Ein spitzes, nervenzerfetzendes Geräusch schälte sich aus der Dunkelheit, aus der Toms Geist langsam an die Oberfläche taumelte. Er konnte es nicht einordnen, aber es malträtierte seine Ohren, seinen Kopf, seinen Verstand. Die weiteren Empfindungen setzten nur Stück für Stück ein.

Er lag auf dem Rücken.

Etwas Spitzes bohrte sich in die Gegend seiner Nieren.

Er wälzte sich herum. Sein Körper protestierte mit Schmerzen. Er stöhnte. Der Geruch von feuchter Erde stieg ihm in die Nase. Seine Jeans fühlte sich klamm und kalt an, und er begriff, dass er auf dem Boden lag. Er glaubte, ein Flattern zu hören. Das spitze Geräusch, das bei seiner Bewegung kurz verstummt war, setzte wieder ein, und jetzt erkannte er es: Es war das Gezeter von Spatzen, die ganz in der Nähe herumhüpfen mussten.

Sehen konnte er sie nicht.

Waren seine Augen auf? Er war sich nicht sicher. Er gab sich den Befehl, die Lider fest zusammenzukneifen und dann aufzureißen. Dunkelheit. Nein, Nebel. Nichts als graues Wabern, aus dem sich nur langsam Farben und Formen schälten.

Das Tschilpen der Spatzen fühlte sich an wie Fingernägel, die über die Innenwände seines Schädels schrammten.

Dann, endlich, klärte sich sein Blick so weit, dass er die Tiere erkennen konnte. Nur eine Armlänge von ihm entfernt hüpften sie auf dem Boden herum und pickten an etwas, das aussah wie eine Pommestüte von McDonald’s.

Tom stöhnte erneut.

Was war geschehen? Das Letzte, an das er sich erinnern konnte, war Jegor, wie er Victor zwei Kugeln in den Schädel gejagt hatte. Da war das Bild einer roten Blutwolke, die kurz in der Luft gestanden und sich dann als feiner Nebel auf dem Fußboden verteilt hatte … und danach … ein kurzer, brennender Schmerz an seinem Oberarm … Eine Spritze? Ja. Er erinnerte sich daran, wie sich etwas Warmes von seinem Oberarm aus durch seinen gesamten Körper den Weg gebahnt hatte.

Und danach …?

»Wo ist das Laborjournal?« Jegor hatte ihm diese Frage gestellt, wieder und wieder und wieder.

»Der Ziegenfisch hat es«, hörte er sich selbst lallen. Er hatte den Satz auch dann noch wiederholt, als Jegor noch einmal nachgespritzt und sich das warme Glühen in seinen Adern in ein schmerzhaft grelles Brennen verwandelt hatte.

Die Erinnerung vertrieb auch noch die letzten wallenden Nebel vor Toms Augen. Er zwängte die Arme unter seinen Oberkörper und stemmte sich hoch. Wo waren diese Dreckskerle, die ihm all das angetan hatten? Und warum war er nicht mehr gefesselt?

Die Fragen stolperten übereinander, ließen ihn noch einmal zu Boden gehen. Er gab sich ein paar Minuten Zeit. Dann stemmte er sich zum zweiten Mal hoch und schaffte es, sich hinzusetzen. Sein Kopf schmerzte. Er betastete seinen Nacken und sein Gesicht, fand die bereits vertraute Wunde kurz über dem Haaransatz, dann die Platzwunde auf seinem Jochbein. Er tastete weiter. Keine neue Verletzung. Sie hatten ihn also nicht ein weiteres Mal k. o. geschlagen. Vermutlich hatte das Mittel, das Jegor ihm gespritzt hatte, ihm den Rest gegeben.

Ein gruseliger Gedanke sprang ihn an.

Hatte er ihnen den Aufenthaltsort des Laborjournals verraten? An dieser Stelle bestanden seine Erinnerungen nur aus weißem Rauschen. Sein Verstand allerdings funktionierte jetzt wieder einwandfrei, und er konnte sich selbst die Antwort auf die Frage geben.

Sie lautete nein.

Wenn er den Dreckskerlen gegeben hätte, was sie wollten, dann wäre er kaum noch am Leben. Und vor allem: Er wäre immer noch gefesselt, wofür es in seinen Augen nur eine einzige Erklärung gab: Seine Entführer hatten einen Plan B. Sie hofften, dass er sie zu dem Journal führen würde.

Tja … und nun? Immer schön einen Schritt nach dem anderen.

Zuerst einmal musste er herausfinden, wo er eigentlich war. Er sah sich um. Die Spatzen hatten sich in die Büsche zurückgezogen, aber jetzt kamen sie wieder näher. Einer hüpfte neugierig bis auf wenige Zentimeter an Tom heran und legte das Köpfchen schief, als wollte er fragen: Alles okay mit dir?

»Ging mir nie besser«, erklärte Tom ihm und rappelte sich auf die Füße. Sein Magen revoltierte, hielt aber stand. In seinem ganzen Körper gab es keinen Knochen und keinen Muskel, der nicht wehtat.

»Scheißkerle«, murmelte er, während er sich einmal um die eigene Achse drehte. Er sah geborstene Mauern voller Graffiti, die ihm bekannt vorkamen. Kurz glaubte er, sich auf dem Gelände der 2015 abgebrannten Flugzeugfabrik in Karlshorst zu befinden, auf dem er als Junge oft gespielt hatte. Aber dann fiel ihm ein, dass es dieses Freigelände nicht mehr gab, seit dort ein neues Mustergefängnis gebaut worden war. Er wartete, dass die Übelkeit nachließ, und zählte seine Atemzüge. Als er bei hundert angekommen war, ging es ihm besser.

Als Jegor mit der Spritze angekommen war, war es bereits dämmerig geworden, aber jetzt war heller Tag. Die Russen hatten ihn also mindestens eine Nacht hindurch in der Mangel gehabt.

Er zermarterte sich das Hirn, um weitere Erinnerungsfetzen aus der Dunkelheit zu zerren, aber da war nichts weiter als immerzu nur Jegors Bellen – »Wo ist das Buch?« – und sein eigenes Lallen. Ein Eindruck blitzte in ihm auf, mehr ein Gefühl als eine Erinnerung. Er hatte den Kopf in den Nacken geworfen und lachte. Dann ein anderes Bruchstück: etwas Kaltes, das gegen seine Stirn gepresst wurde. Flache, fast hasserfüllte Worte.

»Sei froh, dass wir dich noch brauchen.«

Er ächzte leise. Dann tastete er seine Taschen ab. Verblüfft stellte er fest, dass sie ihm sein Handy wiedergegeben hatten. Mit schwirrendem Schädel nahm er es heraus. Schaltete es an. Überlegte.

Die Anruferliste zeigte einundzwanzig Anrufe, drei davon von einer Nummer, die er nicht kannte, die meisten anderen von Nina. Sie hatte die ganze Nacht über versucht, ihn zu erreichen. Und Isabelle hatte auch angerufen, allerdings nur zweimal gestern am späten Abend.

Er biss die Zähne zusammen, als ihm aufging, dass Nina verzweifelt auf ein Lebenszeichen von ihm warten musste. Er war schon drauf und dran, sie anzurufen, aber dann nahm er den Daumen wieder von der Tastatur.

Seine Entführer hatten genug Zeit gehabt, sein Handy zu präparieren. Er ließ seine Blicke umherschweifen. Niemand war zu sehen, aber er wurde das Gefühl nicht los, dass die Kerle ganz in der Nähe waren und darauf warteten, dass er sie zu dem Laborjournal führte. Oder zu Nina und den Phagen. Oder zu beidem.

Also gut. Wollen wir doch mal sehen, wer von uns raffinierter ist, dachte Tom grimmig.

Die Spatzen hatten inzwischen entschieden, dass er uninteressant war, und waren davongeflogen. Tom ließ seinen Blick ein letztes Mal über die Büsche und die Ruinen wandern und ignorierte dabei das irritierende Gefühl von fremden Blicken zwischen seinen Schulterblättern.

Dann rief er Google Maps auf und suchte nach einer Straßenbahnstation in der Nähe.

Das Polizeigebäude von Abschnitt 26 der Landespolizeidirektion 2 befand sich in der Rudolstädter Straße. Voss hatte schlechte Laune, als sie zusammen mit Lukas dort ankam. Vor dem Dienstgebäude am Tempelhofer Damm hatte ihr eine Reporterin aufgelauert, die einige interne Informationen über ihre Fälle gehabt hatte. Zwar hatte sie die Frau mit einem vernichtenden Blick und ihrer ganz eigenen Version von »Kein Kommentar!« abblitzen lassen, aber die Begegnung lag ihr trotzdem im Magen. Presse. Alles Aasgeier!

»Okay«, sagte sie zu Lukas. »Gucken wir mal, was die Jungs haben.« Sie wandte sich an den Pförtner am Eingang, stellte sich vor und fragte nach Oberkommissar Reiffenberg, dem Kollegen, den sie vorhin am Telefon gehabt und der sie herzitiert hatte. Der Pförtner beschrieb ihr lang und umständlich den Weg zu Reiffenbergs Büro, das sich als eine weitere typische deutsche Amtsstube herausstellte.

Reiffenberg selbst war ungefähr so groß wie Voss, wog aber mindestens das Doppelte. Sein hellblaues Hemd, das ihm über den Gürtel hing, sah aus, als habe er es in der Zeltabteilung gekauft. Als er ihr die Hand gab, bemerkte sie das Aroma von Weichspüler, das von ihm ausging. Spontan fragte sie sich, ob er seine Klamotten selbst wusch.

»Voss«, stellte sie erst sich vor und dann Lukas.

Reiffenberg musterte Lukas nur kurz. »Gut, dass ihr so schnell gekommen seid.« Er wies auf die beiden Besucherstühle vor seinem Schreibtisch. Im Gegensatz zu Voss hatte er ein Einzelbüro, das allerdings durch eine Zwischentür mit dem Nachbarraum verbunden war. Aus dem Gedächtnis heraus begann er zu berichten. »Das Ganze ist ziemlich mysteriös. Wir erhielten heute Morgen einen Anruf vom Heuerschen Hof, das ist ein ziemlich exklusives Seniorenwohnheim hier in Charlottenburg. In der Station Wiesenblick haben sie dieses Schreiben an einem der Wasserspender gefunden.« Er schob Voss ein DIN-A4-Blatt hin, das in eine Beweismitteltüte eingepackt war. Es zeigte den mittlerweile vertrauten Kupferstich von Prometheus. Der Spruch darunter lautete:

Prometheus wurde für die Ewigkeit an seinen Felsen gekettet. Sorgt Euch nicht, Ihr werdet nur wenige Tage leiden.

Voss drehte das Schreiben so, dass Lukas es anschauen konnte. Ohne dass sie ihn dazu auffordern musste, öffnete er YouTube auf seinem Handy. Auch diesmal gab es einen neuen Film auf Prometheus’ Kanal. Er bestand aus mehreren hintereinandergeschnittenen Aufnahmen von Friedhöfen. Daruntergelegt war eine verzerrte Stimme. Und was sie mitzuteilen hatte, war an Eindeutigkeit nicht zu überbieten.

»Prometheus hat den Menschen das Feuer der Erkenntnis gebracht. Und das sehe ich auch als meine Aufgabe an. Ich will, dass ihr in Panik geratet. Die Menschheit steht am Abgrund, weil die Regierenden sich weigern, die Bedrohung ernst zu nehmen. Stellt euch vor, ihr schneidet euch beim Abendbrotmachen in den Finger und sterbt an dieser kleinen Wunde. Stellt euch vor, euer Kind kommt ein paar Wochen zu früh zur Welt, und die Ärzte können es nicht retten! Stellt euch vor, ihr bekommt eine Lungenentzündung, und sie ist euer Todesurteil!« Jedes dieser Beispiele wurde von entsprechenden drastischen Bildern begleitet, die am Ende in die Darstellung eines frischen Grabes mündeten. Einige Sekunden lang schwieg die Stimme, um dann zu enden: »All das wird passieren, wenn wir nicht endlich etwas tun. Steht auf! Ihr habt ein Recht auf Leben! Sorgt dafür, dass die Verantwortlichen endlich handeln!«

»Okay«, meinte Voss. »Damit wissen wir endlich sicher, was diesen Typen antreibt. Der ist ein Ökoterrorist.«

Reiffenberg tippte auf das Blatt in der Beweismitteltüte. »Was an der ganzen Sache so ungewöhnlich ist: Außer diesem Schreiben haben wir oben auf dem Wasserspender auch noch eine aufgezogene Spritze gefunden.«

»Eine aufgezogene Spritze?«, echote Voss.

»Ja. Er hat den Wasserspender offenbar nicht verseucht, sondern die Spritze einfach nur obendrauf gelegt.«

»Er will uns zeigen, wozu er fähig ist«, murmelte Lukas. »Er hält sich für einen Menschenfreund. Er will nicht unnötig Menschen verletzen.«

Voss dachte an den glatzköpfigen Kerl von dem illegalen Überwachungsvideo. In ihren Augen sah der nicht gerade so aus wie ein Menschenfreund. Ob er wirklich ihr Prometheus war? Oder war er einfach nur ein Handlanger, der die Drecksarbeit erledigte?

»Den Gedanken hatten wir auch schon«, sagte Reiffenberg. »Da wir nicht wussten, was wir davon halten sollen, haben wir den Kampfmittelräumdienst gerufen und sowohl die Spritze als auch den Wasserspender sichergestellt.« Er rief das Beweismittelfoto einer mehr als doppelt daumendicken Spritze auf. Die Nadel wirkte robust, die Flüssigkeit in dem Glaskolben war durchsichtig.

In Voss’ Genick begann es zu jucken. »Weiß man schon, was dadrin ist?«

Reiffenberg schüttelte den Kopf. »Aber wir haben die Kollegen im Labor gebeten, es so schnell wie möglich rauszufinden.«

»Gut«, meinte Voss. Ökoterror. Okay. Ihre Gedanken kreisten um all diese verdammten potenziellen Bioterrorstoffe. Anthrax. Pest. Ebola. Was, wenn sie es jetzt mit einem dieser Stoffe zu tun hatten?

Ethan hatte Nina angeboten, sie zum Flughafen zu fahren, auf dem in einer knappen Stunde Maren ankommen würde. Sie saß auf dem Beifahrersitz seines Sportwagens und versuchte zu verbergen, wie sehr die Sorge um Tom sie beschäftigte. Aber an der Art, wie er beim Fahren immer wieder kurz zu ihr herüberschaute, erkannte sie, dass er sehr wohl spürte, wie es ihr ging.

Sie war ihm dankbar, dass er es nicht thematisierte. Sie hatten heute Morgen gleich nach dem Aufstehen kurz darüber geredet, dass Tom immer noch verschwunden war, und dabei waren Nina so unvermittelt Tränen in die Augen geschossen, dass sie es nicht geschafft hatte, es vor Ethan zu verbergen. Er hatte so getan, als merke er es nicht.

»Danke«, sagte sie jetzt in die unangenehme Stille hinein, die durch die fröhlichen Stimmen aus dem Autoradio eher noch verstärkt als gemildert wurde.

»Wofür?« Ethan wechselte die Spur und überholte einen klapperigen VW Käfer. Er fuhr schnell, aber sehr sicher, sodass Nina sich einigermaßen wohlfühlte, obwohl sie eigentlich lieber selbst hinter dem Steuer saß. Sie hasste den Kontrollverlust auf dem Beifahrersitz.

»Für alles«, sagte sie. »Ist ja nicht selbstverständlich, dass du uns einfach so deine Labors zur Verfügung stellst. Und jetzt fährst du mich auch noch zum Flughafen.«

Er grinste. »Mache ich gern, ehrlich!«

Nina musterte ihn. Er wirkte lässig und gleichzeitig auf eine Art und Weise zielstrebig, die sie bewundernswert fand. Vielleicht kam beides von seinen amerikanischen Eltern, dachte sie.

»Diese Maren. Erzähl mir ein bisschen von ihr«, bat er, bevor sie wieder in bedrückendes Schweigen abglitten.

»Sie ist eine sehr gute Freundin. Wir haben zusammen studiert.« Den Rest der Fahrt verbrachte Nina damit, Ethan von ihrer Studienzeit und all den Eskapaden zu berichten, die sie und Maren damals ausgeheckt hatten. Ethan lachte ehrlich und herzlich bei jeder einzelnen, und er schaffte es auf diese Weise, dass auch Nina für eine Weile ihre Sorgen vergaß.

In der Ankunftshalle des Flughafens herrschte reger Betrieb. Ein Summen lag in der Luft, das aus den unzähligen Stimmen der Menschen bestand und aus den Geräuschen, die die Klimaanlage und die Anzeigetafel mit den aktuellen Ankunftszeiten machten. Der Flieger aus Tiflis war gerade gelandet.

Nina reckte den Hals, konnte Maren in der Traube von Menschen, die aus Richtung des Gates strömten, aber nicht auf Anhieb ausmachen.

»Da ist sie!« Sie deutete auf Maren, die hinter einer Familie mit zwei Kindern auftauchte und auf das Kofferband zustrebte. Gott sei Dank war ihre Freundin wohlauf! In ihren sorgenvollsten Augenblicken hatte Nina sie von Kopf bis Fuß bandagiert oder gar im Rollstuhl gesehen. Dass sie nur ein Pflaster an der Stirn hatte und ansonsten von der Bombenexplosion völlig genesen zu sein schien, nahm ihr wenigstens eine Sorge ab.

Während die ersten Koffer auf dem Transportband erschienen, entdeckte Maren Nina hinter der Scheibe. Ein Strahlen glitt über ihr Gesicht, und sie winkte.

Nina winkte zurück. Sie sah Ethan an, auf dessen Zügen ein beseeltes Lächeln lag, und glaubte zu wissen, was er dachte. Maren sah mit ihren zwölf Zentimeter High Heels, dem Kostüm und dem cremefarbenen Wollmantel, den sie über dem Arm trug, nicht wie die typische Wissenschaftlerin aus, sondern eher wie ein Model oder eine Schauspielerin.

Nina grinste Ethan an. »Sie ist eine ziemliche Erscheinung, oder?«

»Kann man wohl sagen«, gab er offensichtlich beeindruckt zurück.

»Sie gehört zu den gefragtesten Phagenforschern in Europa. Ihr Studium hat sie mit magna cum laude abgeschlossen.«

Ethan blinzelte. »Du hättest mich vorwarnen können«, sagte er trocken, aber seine Augen glitzerten dabei.

Maren, Maren! Du hast noch kein Wort mit ihm gewechselt und ihm trotzdem schon den Kopf verdreht. So war es immer gewesen, dachte Nina. Die Männerherzen flogen Maren reihenweise zu, während sie selbst dabei oft am Rand gestanden hatte. Seltsamerweise hatte das ihrer Freundschaft aber nie einen Abbruch getan. Die besten Zeiten hatten sie gehabt, wenn wieder einmal eine von Marens vielen Beziehungen in die Brüche gegangen war und sie abends im Studentenheim Eis direkt aus der Packung gelöffelt und über Gott und die Welt im Allgemeinen und über Männer im Speziellen geschimpft hatten.

Endlich erschien Marens Koffer, ein verblüffend kleines Ding, dessen Teleskopgriff sie mit einer effizienten Bewegung herauszog. Sie passierte die Zollabteilung und steuerte direkt auf Nina zu.

»Nina!«, rief sie schon von Weitem. Mehrere Männerköpfe drehten sich zu ihr um, aber sie bemerkte es nicht einmal. Sie blieb vor Nina stehen, musterte sie von Kopf bis Fuß und zog sie dann in die Arme. »Du siehst furchtbar aus, Süße«, flüsterte sie ihr ins Ohr. »Was ist passiert?«

Nina war drauf und dran, ihr von Tom zu erzählen, aber sie fürchtete, dass alles, was seit ihrem letzten gemeinsamen Telefonat geschehen war, in einem einzigen wirren Wortschwall aus ihr herausbrechen würde. Darum schüttelte sie nur knapp den Kopf. »Nicht hier. Schön, dass du da bist.« Sie machte sich los und deutete auf Ethan. »Das ist Ethan Myers. Er war so freundlich, mich hierherzufahren.«

Maren blickte Ethan an, vier Sekunden lang schien die Welt für die beiden angehalten zu haben. Nina wusste, dass ihre Freundin innerhalb von Augenblicken entschied, ob es ein Typ wert war, sich mit ihm abzugeben, oder nicht. Bei Ethan schien sie ein wenig länger zu brauchen. Dann aber hatte sie offenbar entschieden, dass er in ihr Beuteschema passte. Mit einem strahlenden Lächeln reichte sie ihm die Hand und sagte: »Hallo, Ethan! Ich darf doch Ethan sagen?«

»Logisch!« Er ließ seine Zähne aufblitzen. »Ich freue mich, dass du da bist. Wie war der Flug?«

»Holperig, aber okay.« Maren wollte ihren Mantel über den anderen Arm legen, aber Ethan nahm ihn ihr ab, und er entwand ihr auch den Koffergriff.

»Ich bringe das schon mal zum Auto, dann habt ihr kurz Zeit für ein paar private Worte.« Bevor eine von ihnen darauf auch nur reagieren konnte, war er schon verschwunden.

Maren sah ihm einen Moment zu lange hinterher. Dann seufzte sie und wandte sich an Nina. »Raus mit der Sprache! Wie geht es dir? Du siehst aus, als hättest du seit Tagen nicht geschlafen! Deine Haut ist fahl wie bei einer Wasserleiche.«

»Na, vielen Dank«, murmelte Nina, aber die Fürsorge, die hinter Marens ruppigen Worten steckte, trieb ihr doch tatsächlich schon wieder die Tränen in die Augen.

»Oh, Süße!« Entsetzt griff Maren nach ihren beiden Händen, drückte sie und zog Nina noch einmal in die Arme. »Es ist wegen Georgy, oder?«

»Ja. Ich müsste mich eigentlich um die Trauerfeier kümmern.«

»Das kannst du erst, wenn die Polizei seine sterblichen Überreste freigegeben hat.«

Die ganzen aufgestauten Gefühle der letzten Tage und Stunden quollen als zusammenhangloser Strom von Worten einfach aus Nina heraus. »Georgys Laborjournal. Tom. Ich … Er ist verschwunden, Maren, und ich weiß nicht … ich bin so …«

»Scht«, machte Maren. Ihr Atem war warm an Ninas Ohr und irgendwie tröstlich. »Ganz ruhig!« Sie packte Nina, zog sie zu einer Sitzbank und drückte sie darauf nieder. »Erzähl ganz in Ruhe und vor allem der Reihe nach!«

Und das tat Nina. Sie erzählte Maren, wie sie Georgys zweite Phagensendung aus dem Postfach geholt hatten, wie die Russen dort aufgetaucht waren, wie Max und sie sich von Tom getrennt hatten, um ihre Chancen auf ein Entkommen zu erhöhen. »Tom hat das Journal genommen und ist damit weg, Maren, und danach ist er … verschwunden, und ich versuche seit gestern, ihn anzurufen, aber sein Handy ist aus. Ich habe Angst, dass …« Die Tränen strömten ihr jetzt ungehindert über die Wangen, und mehrere Menschen, die vorbeikamen, wandten peinlich berührt den Blick ab.

Maren war blass geworden. »Angst, dass …?«

»Dass das Journal verloren ist. Das war mein erster Gedanke, als Tom sich nicht gemeldet hat, Maren!« Sie wollte sich krümmen. »Was bin ich nur für ein furchtbarer Mensch! Tom wollte helfen, und er ist vielleicht von diesen Typen umgebracht worden, und das Einzige, an das ich denken kann, ist das Journal …« Das stimmte doch überhaupt nicht, was erzählte sie da? Sie umklammerte sich mit den Armen, um nicht vollständig auseinanderzufallen.

Maren zog sie an sich, und Nina war ihr unendlich dankbar dafür, dass sie einfach gar nichts sagte, obwohl der Verlust des Laborjournals sie bestimmt mindestens ebenso schockte. In dem Buch waren die Ergebnisse von neun Jahren Arbeit. Fast Marens gesamtes Forscherinnenleben in Georgys Team steckte darin …

Ach, Tom …

Zitternd holte Nina Luft, wartete, bis ihre Tränen langsam versiegten und sie sich wieder in den Griff bekam. »Tut mir leid, diese Heulerei – ich kenne das gar nicht von mir.«

»Kann es sein, dass dieser Tom endlich mal ein Mann ist, der den Panzer, den du um dich gelegt hast, durchdringen kann?«

»Quatsch! Ich würde mich auch um jeden anderen Menschen sorgen, wenn er wie Tom …« Sie spürte, dass sie sich etwas vormachte, und verstummte. Ihre Wangen glühten. Sie legte die Hände daran. »Mein Gott, ich bin unmöglich!«

Da verzog Maren das Gesicht zu einem spöttischen Grinsen. »Es gibt da etwas, das du vermutlich noch nicht weißt. Niemand ist perfekt, Süße. Nicht mal du.«

Es war genau der trockene Tonfall, den Nina jetzt brauchte. Unter Tränen musste sie lächeln. »Ach, Maren!«

»Wie, ach, Maren? Ist das alles, was ich kriege, weil ich mir dein absolut ekeliges und völlig unpassendes Geflenne anhöre?«

Diese Karikatur ihrer verknoteten Gefühle brach endlich den Rest des Bannes, der über Nina lag. »Wenn ich dich nicht hätte …«, murmelte sie.

Maren erhob sich mit einer federnden Bewegung. »Dann hättest du niemanden, der dabei helfen könnte, dieses Mädchen zu retten.«