5

Tom hatte mit der alten Flugzeugfabrik gar nicht so sehr danebengelegen, denn er befand sich zwar nicht auf deren ehemaligem Gelände, aber dennoch in Karlshorst, und zwar in einer ehemaligen Kleingartenanlage, die im Zuge des Gefängnisbaus aufgegeben worden war und nun vor sich hin rottete. Ringsherum sah er verfallene Gartenlauben, niedergetrampelte Zäune, windschiefe Schuppen. Ein Gerüst für Stangenbohnen stand absurderweise noch völlig unversehrt und aufrecht da, als wollten die meterlangen Stäbe dem Verfall eine Nase drehen.

Die S-Bahn-Haltestelle Karlshorst war nur wenige hundert Meter weit entfernt. Die ersten Meter auf dem Weg dorthin humpelte Tom noch etwas, aber mit jedem Schritt erwärmte sich seine Muskulatur, und auch die Schmerzen wurden erträglicher. Als er an der Unterführung an der Treskowallee ankam, fuhr gerade eine Straßenbahn ab. Der Bahnsteig blieb so gut wie leer zurück, und das gab ihm Gelegenheit, sich nach Verfolgern umzusehen.

Nur eine gebeugte Obdachlose, die die Mülleimer nach Pfandflaschen durchsuchte, und eine Mutter mit zwei kleinen Kindern in einer Zwillingskarre. Beide sahen sie nicht so aus, als arbeiteten sie für die Russen.

Tom scannte die Autos, die man durch die gläsernen Wände der Bahnstation sehen konnte, und versuchte, sich ihr Aussehen so gut wie möglich einzuprägen. Zwei schwarze SUVs. Ein 911er in Knallgelb. Ein weißer Kastenwagen mit der Aufschrift Feinkost Simon. Und ein blauer BMW. Neueres Modell.

Keine Spur von einem dunkelroten Van.

Aber würden Jegor und Misha so dämlich sein und ihn ausgerechnet in dem Auto verfolgen, in dem sie ihn entführt hatten? Schwer vorstellbar. Er musste also umsichtig sein. Auf Wagen achten, die auffällig oft in seiner Nähe auftauchten. Wenn man jemanden verfolgte, bewegte man sich auf spezielle Weise, das wusste er. Die Anzeichen waren zwar subtil, aber jemand, der geübt darin war, konnte sie erkennen. Die Frage war nur: War er geübt genug?

Seine Entführer hatten schließlich sehr deutlich zu erkennen gegeben, dass sie Profis waren, und das hier war etwas anderes, als auf exotischen Märkten in den hintersten Ecken der Welt oder im Regenwald nach neuen, ungewöhnlichen Lebensmitteln zu suchen.

Ihm fiel auf, dass die Mutter ihn misstrauisch beobachtete, und da erst ging ihm auf, was für einen Anblick er bieten musste, verdreckt und blutig und zusammengeschlagen, wie er war. Sie brachte ein paar Meter mehr Abstand zwischen sich und ihn. Er konnte es ihr nicht verdenken.

Er zog die Kapuze über den Kopf und tief ins Gesicht und drehte der Frau den Rücken zu. Hoffentlich verständigte sie nicht die Polizei, dachte er spontan. Aber warum eigentlich nicht? Er hatte schließlich nichts getan. Er war das Opfer einer Entführung geworden. Dass die Dreckskerle dabei zwei Menschen kaltblütig erschossen hatten, war nicht seine Schuld.

Unschlüssig, was er als Nächstes tun sollte, scannte er erneut seine Umgebung. Die beiden SUVs waren weg. Der gelbe Porsche stand ebenso wie der Kastenwagen und der BMW noch immer da, aber zumindest er war wohl kaum geeignet für eine unauffällige Verfolgung.

Mit kreisenden Bewegungen versuchte Tom, seine verspannten Muskeln zu lockern.

Die Bahn kam, es war eine dieses ganz neuen Typs, die in Berlin erst seit wenigen Monaten fuhren. Sie sah mehr wie ein futuristischer Fernzug aus als wie eine normale Straßenbahn, fand er. Sie hielt direkt vor ihm, und er ging auf dem Bahnsteig bis zum Ende des Zugs. Auf diese Weise konnte er sämtliche Passagiere beobachten, die einstiegen. Er selbst wartete, bis die Türen anfingen, warnend zu piepen, und sprang erst in der allerletzten Sekunde in die Bahn.

»Gutes Manöver, Mann.« Ein junger Typ, der sich breitbeinig auf einen Zweiersitz gefläzt hatte, nickte ihm anerkennend zu. »Bist wohl auf der Flucht vor deiner Ex, wa?«

Tom konnte es nicht verhindern, dass seine Gedanken kurz zu Isabelle drifteten. »Immer.«

Der Typ lachte. Er trug Jeans, Turnschuhe und einen dunkelblauen Hoodie, der dem, den Tom anhatte, relativ ähnlich sah. Dazu lange blonde Dreadlocks, die zu einem Zopf gerafft waren. Wie um ein Klischee zu erfüllen, ging von ihm der schwere, süßliche Duft von Shit aus.

Die Straßenbahn fuhr an.

»Die hat dich aber nicht so zugerichtet«, konstatierte der Typ.

Tom ließ sich in die Vierersitzgruppe auf der anderen Seite des Ganges fallen. »Stimmt.«

Der Typ grinste. Die Straßenbahn beschleunigte. Tom schaute aus dem Fenster, um nach Autos zu suchen, die ihn verfolgten, aber die Bahn fuhr jetzt zwischen Schrebergärten hindurch, und er verlor die Straße aus dem Blick.

Er stand wieder auf, ging zu der Bordtoilette, die es nur in den neuen Zugtypen gab, und schloss sich darin ein. Ein paar Sekunden lang stützte er sich auf dem Rand des Waschbeckens ab und starrte sich ins Gesicht. Er bekam eine Ahnung davon, was für einen Eindruck er auf die Menschen machte. Das Blut aus der Platzwunde an seiner Wange, das er sich nur unzureichend abgewischt hatte, war lange getrocknet und mit Dreck von der Stelle vermischt, an der er vorhin aufgewacht war. Immerhin: Die Erde verbarg die violett schillernde Prellung an seinem Jochbein zur Hälfte. Mit zusammengebissenen Zähnen zog Tom sein Shirt und den Hoodie hoch. Jegors Faust hatte eine weitere fette Prellung auf der rechten Seite seines Brustkorbs hinterlassen, aber alle Rippen schienen noch heil zu sein.

Er hob den Blick und sah sich selbst in die Augen.

»Sahst schon mal besser aus, Kumpel«, murmelte er und kontrollierte als Letztes auch noch den Streifschuss an seiner Seite. Der hatte bei der rüden Behandlung durch die Russen wieder angefangen zu bluten, aber auf dem Verband, den er sich heute morgen angelegt hatte, prangten nur ein paar nadelgroße rote Punkte. Tom schickte einen kurzen Dank an Nina dafür, dass sie ihn so gut verarztet hatte.

Dann wusch er sich das Blut und die Erde aus dem Gesicht. Als das erledigt war, begann er, sich Stück für Stück auszuziehen und seine Klamotten genauso nach einem Sender abzusuchen, wie er und Nina das bei ihr getan hatten. Er fand nichts, darum nahm er sein Handy aus der Tasche und öffnete das Akkufach. Keine Wanze, aber was, wenn sie sein Handy geklont hatten? Er kannte sich mit Technik nicht gut genug aus, um zu wissen, was es dafür brauchte, aber mittlerweile traute er den Russen fast alles zu. Er biss die Zähne zusammen.

Besser, er wurde das Telefon los.

Er setzte den Akku wieder ein, rief das Telefonbuch auf und prägte sich erst Ninas und dann auch Max’ Nummer sorgfältig ein. Dann nahm er den Akku erneut heraus und warf ihn durch den schmalen Schlitz des Mülleimers. Die SIM-Karte allein war ungefährlich, also steckte er sie in die Münztasche seiner Jeans. Das Telefon selbst zermalmte er unter dem Absatz, wickelte die Trümmer in ein Papiertaschentuch und warf es auf seinem Weg zurück zu seinem Sitzplatz aus einem der Fenster.

Als er sich wieder setzte, beobachtete der Typ mit den Dreadlocks ihn dabei. »Wenn du rot pinkelst, solltest du ins Krankenhaus fahren.« Er klang, als hätte er einiges an Erfahrung mit solchen Dingen.

»So schlimm ist es nicht.«

Der Typ grinste schon wieder.

Dein Gemüt möchte ich haben, dachte Tom und fügte belustigt hinzu: Oder den Stoff, den du geraucht hast.

Die nächste Haltestelle wurde angesagt. Tom entschied sich, noch sitzen zu bleiben. Wenn das Handy wirklich getrackt war, hatte er gerade dafür gesorgt, dass seine Verfolger sein Signal verloren hatten. Er hoffte, dass sie davon ausgingen, dass er bei der nächstmöglichen Gelegenheit versuchte, seine Spur zu verwischen. Und genau aus diesem Grund würde er das Gegenteil tun und auf der einmal eingeschlagenen Route bleiben. Jedenfalls vorerst.

Er blieb sitzen, während der Zug an der Haltestelle Rummelsburg hielt, und konzentrierte sich auf die Umgebung. Ein blauer BMW fiel ihm auf. Unwillkürlich setzte er sich gerader hin. War es der gleiche wie eben an der anderen Haltestelle?

Der Typ folgte seinem Blick zu dem BMW. »Sitzt er dadrin?«

»Hm?«, machte Tom.

»Na, der Neue.« Weil Tom immer noch nicht verstand, schob der Typ hinterher: »Der von deiner Ex, Mann! Der dich so vermöbelt hat.«

»Kann sein«, murmelte Tom.

»Wenn du willst, helfe ich dir, ihn loszuwerden.« Er zupfte an seinem Hoodie. »Wir sehen uns ziemlich ähnlich. Ich könnte an der nächsten Station aussteigen und den Kerl von dir ablenken. Wenn ich die Kapuze über den Kopf ziehe und den Blick gesenkt halte, merkt der das erst, wenn du …«

»Kommt nicht infrage!«, unterbrach Tom ihn. Die Vorstellung, Jegor und seine locker sitzende Waffe auf diesen unbedarften Kerl anzusetzen, bereitete ihm eine Gänsehaut.

»Wieso nicht, Mann, ich könnte …«

»Nein!«, sagte Tom scharf.

Der Typ klappte den Mund zu. Tom dachte schon, er wäre jetzt beleidigt, aber das war er nicht. »Ist der Drecksack etwa so gefährlich?«

»Gefährlich genug.«

»Ja. So siehst du tatsächlich aus«, meinte der Typ.

Die Bahn fuhr wieder an. Der BMW blieb zurück. Tom behielt ihn im Blick, bis sich ein Gebäude zwischen ihn und den Wagen schob.

Immer wenn Jegor zornig war, bekam die Welt einen seltsamen Schimmer. Es sah dann aus, als wären alle Konturen von einem schwachen rötlichen Flimmern umgeben. Seine ganz persönliche Art des Rotsehens, dachte er oft.

Mit zusammengebissenen Zähnen marschierte er in der verlassenen Industrieanlage auf und ab und ging in Gedanken noch einmal das Gespräch durch, das er gestern Nacht mit Prometheus geführt hatte. Man hatte ihn zurückgepfiffen! Er konnte es noch immer nicht glauben, dass seine Auftraggeber ein Labor in die Luft gejagt haben wollten und eine ganze Anschlagsserie planten, aber Skrupel hatten, aus einem einzelnen Mann die Information rauszuholen, wo sich dieses elende Laborjournal befand.

Doch die Anweisungen, die er erhalten hatte, waren eindeutig gewesen: Morell nicht nur am Leben, sondern ihn sogar laufen zu lassen.

Er knirschte mit den Zähnen, weil das seinem selbst auferlegten Ehrenkodex so sehr zuwiderlief. Er ließ sich nicht so einfach ausbooten, und schon gar nicht ließ er sich von einem einmal angenommenen Auftrag abziehen. Auch nicht von seinen eigenen Auftraggebern, und das wussten die auch: Wenn er einmal eine Sache angenommen hatte, dann führte er sie zu Ende! Alles andere wäre nicht gut für seinen Ruf gewesen, und darum hatte er auch zu dem Wahrheitsserum Pentothal gegriffen. Seine Auftraggeber mussten ja nicht wissen, dass er sich damit ein Hintertürchen offen gelassen hatte. Wenn er sich selbst in den Besitz des Laborjournals brachte, eröffnete ihm das alle Möglichkeiten, weiter im Spiel zu bleiben.

Blöd nur, dass die Droge nicht so gewirkt hatte, wie er sich das vorgestellt hatte. Alles, was dieser Mistkerl Morell von sich gegeben hatte, war unverständliches Gestammel gewesen. Und dieses bescheuerte eine Wort.

Ziegenfisch.

Was auch immer damit gemeint war.

Gedankenverloren starrte Jegor auf die Blutspur, die Victors Leiche auf dem Betonboden hinterlassen hatte, und drehte dabei an dem Siegelring an seinem Finger. Wie konnte sich ein Mann nur als so zäh gegenüber einer solchen Menge Pentothal erweisen? Herrgott nochmal, er hatte mit diesem altbewährten Teufelszeug schließlich schon aus ganz anderen Typen die Dinge herausgeholt, die er wissen wollte! Doch dieser beschissene Foodhunter hatte sich als sehr viel zäher erwiesen, als Jegor es sich jemals erträumt hätte. Er musste entweder einen ungewöhnlich starken Willen besitzen oder hochmotiviert sein, sein Wissen für sich zu behalten. Als er die Dosis erhöht hatte, hatte Jegor sogar kurz gefürchtet, dass Morell sich ins Lalaland verabschieden würde. Aber Morell war nicht gestorben. Und er hatte nicht geredet.

Seufzend griff Jegor zu seinem Tablet und machte sich daran, der gequirlten Kacke, die Morell unter dem Einfluss des Mittels von sich gegeben hatte, irgendeinen Sinn zu entlocken. Er rief eine Suchmaschine auf, gab den Begriff Ziegenfisch ein und erfuhr, dass dies eine alte Bezeichnung für das Tierkreiszeichen des Steinbocks war.

Weiter brachte ihn diese Erkenntnis jedoch nicht. Er kombinierte Ziegenfisch mit dem Stichwort Berlin.

Nichts.

Er versuchte es mit Steinbock und Berlin und bekam Autofirmen, Bestattungsunternehmen und eine Werbeanzeige für den Berliner Zoo angezeigt. Nichts davon schien in geringster Weise mit Phagentherapie oder auch nur mit Medizin zu tun zu haben.

Mit einem gemurmelten Fluch rief Jegor einen Algorithmus auf, mit dessen Hilfe er die üblichen und meist nicht sehr zielführenden Bildersuchen der gängigen Suchmaschinen miteinander abgleichen und nach selbstgewählten Kriterien verfeinern konnte. Dann startete er in drei verschiedenen Suchmaschinen eine Bildersuche mit dem Stichwort Steinbock und ließ alle drei unter dem Stichwort Berlin durch seinen Algorithmus laufen. Die Ergebnisliste war noch immer mehrere hundert Einträge lang.

Er scrollte ohne große Hoffnung hindurch, bis sein Blick bei einem Foto hängen blieb. Er tippte auf den Link dazu.

Die dazugehörige Seite verwies auf ein Antiquariat in Prenzlauer Berg. Es hatte einen stilisierten Steinbock im Logo. Und er war darauf aufmerksam geworden, weil er genau dieses Bild schon einmal gesehen hatte!

Die Frage war nur, wo.

Er schloss die Augen und versuchte, sich zu konzentrieren, sodass vor seinem geistigen Auge die Szenen in der Postfiliale noch einmal abliefen. Morell, der direkt vor ihnen in die Arme der Polizisten gerannt war. Da hatte er das Buch schon nicht mehr gehabt. Er musste es also irgendwo versteckt haben. Aber wo? Auf Victors Befehl hin hatten Misha und er die Filiale gestern noch einmal aufgesucht und sämtliche Regale durchforstet. Vergeblich.

Das Journal musste woanders sein.

In Gedanken spulte Jegor seinen inneren Film vorwärts und wieder zurück. Diese auffällige violette Farbe des Antiquariatslogos. Woher kannte er sie? Und dann hatte er es: die alte Frau in der Postfiliale! Ihre Kiste hatte genau diese Farbe gehabt. In seinem geistigen Film folgte er der Frau nach draußen auf die Straße. Dort hatte ein Lieferwagen gestanden … Er konzentrierte sich auf die Erinnerung, bis sich ein bestimmtes Bild daraus hervorschälte: Auf der Seite des Lieferwagens hatte genau dieses Logo geprangt, das er jetzt hier auf dem Tablet vor sich hatte.

Er grinste zufrieden über die Präzision, mit der sein jahrelang trainiertes Gedächtnis funktionierte.

»Bingo!«, murmelte er genau in dem Moment, in dem Misha von seinem Auftrag, Morell nach Karlshorst zu fahren, zurückkehrte.

Der Hüne warf ihm einen fragenden Blick zu, und Jegor drehte das Tablet so, dass er das Logo sehen konnte.

»Antiquariat Stockhausen?«, fragte Misha.

Jegor nickte. »Kann sein, dass wir da dieses verfickte Buch finden!«

»Es gibt etwas, das ich dir erzählen muss«, sagte Maren, als sie in Ethans Sportwagen saßen und er vom Flughafenparkplatz fuhr. Sie und Nina hatten gemeinsam im Fond Platz genommen. »Die georgische Polizei war mehrmals bei mir. Sie haben eine ganze Abteilung auf die Explosion im Institut angesetzt, und der Kommissar, der alles leitet, hat mich kurz vor meinem Abflug noch gebeten, ihn in Georgys Wohnung zu begleiten.« Sie hielt inne und forschte in Ninas Gesicht.

Nina verspürte einen leichten Stich, weil nicht sie es gewesen war, die nach Georgys Tod als Erste seine persönlichen Sachen sichten konnte.

»Ich konnte einen Blick in seine Tagebücher werfen«, sprach Maren weiter. »Besonders die letzten Wochen waren, hm, interessant.« Ihr Blick und der von Ethan begegneten sich im Spiegel. »Offenbar hat Georgy schon wochenlang gewusst, dass er verfolgt wird.«

Nina wusste nicht genau, was diese Information mit ihr machte. Sie dachte an die Atemlosigkeit ihres Ziehvaters, seine gedrückte Stimmung, die sie für ein Problem mit seinem Herzen gehalten hatte. Warum nur hatte er sich ihr nicht anvertraut? Weil er sie nicht hatte beunruhigen wollen? Ähnlich gesehen hätte es ihm. Warum hatte er sich Maren nicht anvertraut?

»Ist er mit diesem Verdacht bei der Polizei gewesen?«, fragte sie.

Maren schüttelte den Kopf. »Ich fürchte nicht.«

Nina senkte den Blick auf ihre Hände. Seit wann hatte sie sie so sehr verkrampft, dass ihre Knöchel weiß hervortraten?

»Gott!«, stieß Maren hervor. »Wenn ich das alles doch bloß früher geahnt hätte!« Sie lehnte den Kopf an. »Ich fühle mich so schuldig!«

»Du konntest es nicht ahnen.«

Mit wildem Blick starrte Maren Nina an. »Ich habe jahrelang eng mit ihm zusammengearbeitet! Und ich merke nicht, dass er Todesängste aussteht?« Sie schnaubte höhnisch.

Nina nahm ihre Hand. »Ich habe es auch nicht gemerkt, und er war Familie für mich.«

Darauf erwiderte Maren nichts, aber Nina wusste, dass sie sie nicht überzeugt hatte. Sie war froh, dass ihr Handy klingelte und sie von weiteren Selbstbeschuldigungen ihrer besten Freundin ablenkte.

Zu Toms Erleichterung gab sich der Typ mit den Dreadlocks damit zufrieden, dass er nicht den Helden spielen durfte. Und tatsächlich war er wirklich nicht beleidigt deswegen. Schon eine gute Minute später, als sie die Station Berlin Ostkreuz wieder verließen, siegte seine Neugier.

»Ist der Kerl zu Recht sauer auf dich?«, wollte er wissen und deutete auf Toms Ehering. »Ich meine, hast du wirklich eine andere geknallt?«

Tom lachte trocken. »Und wenn, ginge es dich nichts an.« Seine Gedanken wanderten allerdings plötzlich zu Nina. Sie musste vor Sorge um ihn nahezu wahnsinnig sein. Vor Sorge um das Laborjournal, wisperte eine Stimme in seinem Hinterkopf. Wie auch immer: Irgendwie musste er sie benachrichtigen, dass es ihm gutging und dass er das Buch in Sicherheit gebracht hatte. Max würde das mit Sicherheit auch wissen wollen. »Kann ich mir mal kurz dein Handy leihen?«, wandte er sich an den Dreadlocktypen.

Der fingerte ein älteres Modell eines Smartphones aus der Tasche und reichte es Tom. »Sperrcode ist viermal die Sechs.«

»Viermal sechs.«

Der Typ grinste. »Bin jetzt aber nicht so ’n Teufelsanbetertyp. Ist nur praktisch so.«

»Klar«, meinte Tom, entsperrte das Telefon und tippte Ninas vorhin auswendig gelernte Nummer ein. Hoffentlich ging sie ran, wenn sie den Anrufer nicht kannte.

Sie ging ran. »Ja?«, fragte sie. Er konnte hören, dass sie in einem Auto saß.

»Nina, ich bin’s!«

»Tom!« Ihre Stimme schraubte sich in solche Höhen, dass er das Telefon vom Ohr wegnehmen musste. »Gott sei Dank! Wie geht es Ihnen? Wo sind Sie? Sind Sie okay?« Drei Fragen, dachte er. Keine davon nach dem Journal.

Ein warmes Gefühl entstand in seiner Leibesmitte. »Es geht mir gut. Die Russen hatten mich …« Er hüstelte. … in ihrer Gewalt hatte er sagen wollen, aber das kam ihm zu krass vor. »Ich habe eine Weile gebraucht, um den Russen zu entkommen«, versuchte er es erneut.

»Russen?«, fragte der Dreadlocktyp dazwischen, aber seine Frage wurde überlagert von Ninas Stimme in Toms Ohr.

»Eine Weile? Tom, ich bin vor Angst fast gestorben! Die Polizei war bei mir. Sie haben gesagt, dass Sie entführt wurden, und Sie waren die ganze Nacht …«

»Ich weiß, Nina. Ich …«

»Haben Sie das Laborjournal?«

Also doch. Er hob die Hand und massierte sich die Stelle zwischen den Augenbrauen. Das Gesicht des Dreadlocktypen spiegelte Neugier wider, zu viel Neugier für Toms Geschmack. Er deutete auf das Handy an seinem Ohr. »Ich bringe das gleich wieder.« Er stand auf und entfernte sich weit genug von dem Kerl, damit der nicht mehr mithören konnte.

»Ich habe es in Sicherheit gebracht, ja. Aber wie geht es di… Ihnen? Sind Sie okay?« Fast hätte er sie mit dem vertrauteren Du angeredet, aber sie siezte ihn nach wie vor, und er war in dieser Hinsicht ziemlich altmodisch. Er fand, die Frau müsste das Du anbieten.

»Mir geht es gut, ja. Max und ich konnten diesem Russen entkommen. Ich habe ihm das Knie in die Eier gerammt.«

»Autsch.« Es tat gut, sie das sagen zu hören. »Ist Max auch okay?«

»Ja. Und wir haben die Phagen, Tom. Auch die aus dem Postfach. Jetzt fehlt nur noch das Journal. Wo ist es?«

Ein Instinkt riet ihm, das nicht am Telefon zu besprechen. »Ich hole es und dann bringe ich es Ihnen, versprochen! Aber vorher muss ich einen kleinen Abstecher machen.« Über seinem Kopf hing ein Plan der U-Bahn-Linie. Der übernächste Halt war am Ostbahnhof.

»Wohin?«, fragte Nina.

»Zur Polizei. Es ist dringend an der Zeit, dass diese Russen gestoppt werden.«

»Wie gesagt, die Polizei war bei mir, Tom. Eine Kommissarin Voss. Ich habe das Gefühl, sie war nicht sicher, ob Sie zu den Russen gehören.«

Es schmerzte, den Anflug von Zweifel auch in ihrer Stimme zu hören. »Ich denke, ich habe ein paar Beweise, die das Gegenteil belegen«, sagte er und legte eine Hand auf seine schmerzenden Rippen.

»Das ist gut.« Klang sie erleichtert? Er wollte, dass es so war. »Wir haben die Phagen bereits zur Vermehrung angesetzt, um Zeit zu sparen, für den Fall, dass sie wirken sollten. Aber wir kommen bald nicht mehr weiter, weil wir Sylvies Isolat des Keims brauchen. Da kommen wir ohne Ihr Einverständnis nicht ran.«

Die U-Bahn fuhr in eine Kurve, und er musste Halt an der Waggonwand suchen. »Sie wissen noch nicht, ob die Phagen wirken?«

»Nein. Wir brauchen, wie gesagt, eine frische Probe von Sylvies Pseudomonas-Stamm mit den aktuellen Resistenzen, um die Wirksamkeit der Phagen zu ermitteln. Ich habe mit Dr. Heinemann gesprochen, aber er darf sie natürlich nicht rausgeben, ohne dass Sie es ihm erlauben.«

»Ich kümmere mich drum«, versprach Tom.

»Das ist gut. Aber Tom? Sie sollten sich beeilen. Dr. Heinemann hat durchblicken lassen, dass Sylvie die Zeit wegläuft.«

Er hörte sie atmen. Er selbst konnte es plötzlich nicht mehr.

»Tut mir leid«, flüsterte sie.

»Die Antibiotika wirken nicht?«

»Es ist noch zu früh, das sicher zu sagen, aber ja, ich würde vermuten, darauf läuft es hinaus. Doch wie gesagt: Dr. Heinemann gibt mir nicht genug Informationen …«

»Ich kümmere mich!«, wiederholte Tom. Er drehte sich um und bemerkte, dass der Typ mit den Dreadlocks aufgestanden war. Die U-Bahn wurde langsamer. »Ich muss Schluss machen«, sagte er und nickte dem Typen zu.

»Passen Sie auf sich auf!«, sagte Nina.

»Sie auch.« Mit einem Gefühl von Verlorenheit legte er auf und reichte das Handy seinem Besitzer zurück.

Der hob die Hand zu einem High Five. Tom schlug ein. »Alles Gute, Mann!«, murmelte der Typ, dann stieg er aus. Tom sah ihm hinterher, wie er auf den Bahnsteig an der Warschauer Straße trat, und seltsamerweise traf ihn das, was Nina eben gesagt hatte, erst jetzt mit voller Wucht.

Die Antibiotika wirken nicht …

Er fuhr noch eine Station weiter und fand sich kurz darauf im Gewimmel in der großen Halle des Ostbahnhofs wieder. Aufmerksam ließ er seine Blicke schweifen. Kein Gesicht, das ihm bekannt vorkam oder schon einmal aufgefallen war. Und keine Spur von Jegor oder Misha.

Ohnehin waren die beiden in der Sekunde nicht mehr sein Problem, in dem er durch die Tür der Polizeistation getreten war, dachte er. Der Gedanke ging ihm irgendwie gegen den Strich. In seinem bisherigen Leben war er sehr gut klargekommen, ohne die Hilfe von Cops in Anspruch zu nehmen. Aber alles hatte eben mal ein Ende, und heute offenbar auch seine Anti-Bullen-Haltung.

Achselzuckend suchte er nach einem Hinweis auf die Polizeistation. Er befand sich direkt neben einem dieser Bildschirme, die hier überall herumhingen und auf denen gerade ein Werbespot für ein Shampoo lief. Dann wechselte das Bild, und die Nachrichtensprecherin eines Regionalsenders erschien. Die Schlagzeilen am unteren Rand des Bildes lauteten: Polizei vereitelt Terroranschlag in Seniorenheim. Und: Tödlicher Überfall auf zwei Polizisten. Die Sprecherin sagte ein paar Sätze, dann erschienen über ihrer rechten Schulter zwei Porträts. Eins davon zeigte ein Gesicht, das Tom nur zu gut kannte: Jegor. Das andere jedoch zog ihm komplett den Boden unter den Füßen weg. Seit ein paar Wochen hatte er es auf seinem Blog stehen. Es war am Loch Rannoch in Schottland aufgenommen worden, nach einer mehrtägigen Wanderung durch die Highlands. Völlig fassungslos starrte er sich selbst ins Gesicht, bevor er näher herantrat, sodass er hören konnte, was die Sprecherin sagte.

»… aus gut informierten Kreisen, dass die beiden Polizisten, die gestern auf offener Straße erschossen wurden, offenbar kurz vorher diesen Mann verhaftet hatten. Es handelt sich dabei um Tom M. Es scheint, dass der tödliche Überfall auf die beiden Polizisten dazu diente, diesen Mann zu befreien, aber man hüllt sich diesbezüglich in Schweigen.«

Tom spürte, wie ihm der Unterkiefer herunterklappte. »Scheiße, Leute«, murmelte er. »Ich bin das Opfer!« Schlagartig fühlten sich die Blicke sämtlicher Passanten bedrohlich an. Beobachtete die Frau in der Tür des Parfümladens dahinten ihn etwa misstrauisch? Und der junge Mann mit dem Skateboard? Starrte der ihn nicht schon seit ein paar Minuten an?

Hatten sie ihn erkannt?

Mit zusammengebissenen Zähnen richtete Tom den Blick wieder auf den Bildschirm. Dort war jetzt zu sehen, wie die Reporterin eine Frau mit hochgeschlagenem Hemdkragen und dickem blonden Pferdeschwanz ansprach. Kriminalhauptkommissarin Christina Voss äußert sich zu den Vorfällen, stand unter dem Bild. Tom konnte der Frau ansehen, dass sie von dem Mikrofon unter ihrer Nase überrascht und nicht besonders angetan war.

»Uns liegen Informationen vor«, sagte die Reporterin, »dass Sie im Fall des Doppelmordes an den beiden Polizisten gegen Tom M. ermitteln. Können Sie das bestätigen?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung, woher Sie immer Ihre Informationen bekommen, aber sollte ich Ihre Quelle jemals erwischen …«, antwortete Christina Voss. Tom fand sie auf Anhieb sympathisch, obwohl ihm das bei Polizisten eigentlich sonst nicht so ging. Und die Kommissarin war noch nicht fertig. Mit ruhiger Stimme fügte sie hinzu: »Und Sie schieben sich Ihre krankhafte Sensationsgier sonst wohin!«

Die war auf Zack, dachte Tom amüsiert. Er wandte sich von dem Bildschirm ab und war froh darüber, dass er noch immer die Kapuze tief ins Gesicht gezogen hatte. Wie es aussah, waren jetzt also nicht nur seine Entführer hinter ihm her, sondern offenbar auch die Gegenseite.

Er verschränkte die Arme im Nacken. Um sich den Blicken der Passanten nicht länger auszusetzen, ging er zu den Schließfächern am Ende der Bahnhofshalle. In ihrer Deckung blieb er stehen. Zwei Münzfernsprecher hingen hier, die vermutlich seit Jahren niemand mehr benutzt hatte.

Er wandte sich an einige Passanten und schnorrte sich ein paar Münzen zusammen.

Also gut. Dann würde er jetzt mal telefonieren.

Im Fernseher lief eine dieser Nachmittagssendungen, bei denen Sylvie immer nicht genau wusste, ob die Macher sich über die Darsteller oder doch eher über ihr Publikum lustig machten. Diesen unsäglichen gescripteten Müll konnte man doch einfach nicht ernst nehmen! Trotzdem war sie bei einem Beitrag hängen geblieben, in dem es darum ging, dass eine zu blonde Frau mit zu langen, rosa lackierten Fingernägeln ein Nagelstudio auf Ibiza aufmachen wollte und dabei grandios scheiterte. Alda schien ihr Lieblingswort zu sein.

Kopfschüttelnd schaltete Sylvie auf einen Stadtsender um, weil sie die Regionalnachrichten sehen wollte. Aber die hatten noch nicht angefangen. Es lief noch irgendeine uninteressante Polittalk-Sendung, und darum stellte sie den Ton ab und war drauf und dran, nach ihrem aktuellen Roman zu greifen, als die Zimmertür aufging und ihre Mutter reinkam. »Hallo, Mama«, begrüßte Sylvie sie und legte das Buch wieder hin.

Ihre Mutter trat ans Bett. »Hallo, Schatz!«, sagte sie mit diesem angespannten Lächeln, das sie immer hatte, seit Sylvie so krank war. In der hellblauen Schutzkleidung sah sie seltsam schmal und blass aus, fand Sylvie.

Sie wollte etwas sagen, aber in diesem Moment war die Talksendung vorbei und machte den Lokalnachrichten Platz. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Sylvie auf das vertraute Gesicht auf dem Fernsehschirm.

»Papa?«, rutschte es ihr heraus.

»Das ist doch …« Ihre Mutter war totenblass geworden. Sie nahm die Fernbedienung an sich und schaltete den Ton an, und gemeinsam hörten sie, wie die Reporterin von Mord sprach.

Sylvie wollte rausschreien, was sie dachte. Papa ein Mörder? Niemals! Die Worte blieben ihr jedoch im Halse stecken. Sie sah zu, wie ihre Mutter sich auf den Besucherstuhl sinken ließ und ihr Gesicht mit den Händen bedeckte. »Ach, Tom!«, sagte sie durch die Finger hindurch in einem Tonfall, der Sylvie einen kalten Schauder den Rücken hinunterjagte.

Ihre Mutter klang ja geradeso, als wüsste sie schon länger Bescheid darüber, dass die Polizei hinter Paps her war!

Really?