Montag. Tiflis.
Prolog

Die Stadt hatte Augen. So jedenfalls fühlte es sich an, wenn Georgy Anasias durch die Straßen ging.

Mit Schweiß auf der Stirn und klopfendem Herzen blieb er stehen. Die windschiefen Häuser der Altstadt von Tiflis mit ihren typischen weißen Holzbalkonen schienen sich einander zuzuneigen und miteinander zu tuscheln.

Unsinn!

Anasias zog ein Taschentuch hervor und wischte sich damit über das Gesicht. Seit mehreren Wochen schon hatte er das Gefühl, dass jemand ihn beobachtete. Es gab nur sehr subtile Anzeichen. Wenn er morgens in sein Labor kam, dann standen die Chemikalien nicht mehr exakt so, wie er sie am Abend zuvor zurückgelassen hatte. Probenröhrchen steckten anders. Seine Pipetten in der Schublade schienen von fremden Händen berührt worden zu sein. Die Leute vom Wachdienst des Instituts hatten versprochen, die Augen aufzuhalten – wie nett, schließlich bezahlte er sie ja genau dafür. Aber Anasias wusste, dass die Männer ihn für paranoid hielten. Paranoid! Er! Er zählte sich zu den rationalsten Menschen auf diesem Planeten. Nein, er war sich absolut sicher, dass er ausspioniert und bestohlen wurde. Irgendjemand war hinter seiner Forschung her, und das war ja auch kein Wunder …

Er steckte das Taschentuch ein. Die beiden Päckchen, die er zum Schutz vor dem Nieselregen – und vor feindlichen Blicken – unter seinem Mantel verborgen hatte, schienen sich in seine Brust zu brennen. Wenn er sie nur endlich los wäre!

Mit weit ausgreifenden Schritten ging er weiter. Raus aus den winkeligen Gassen, dann die Tashkentistraße hinunter in Richtung Medizinische Fakultät. Hier kannte er sich aus. Was nicht hieß, dass er sich hier sicherer fühlte. Seit Wochen fühlte er sich nirgendwo mehr sicher. Was, wenn der Unbekannte es nicht nur auf seine Forschung, sondern auch auf ihn abgesehen hatte?

Wie weit würde man gehen, um das in die Finger zu kriegen, was sich unter seinem Mantel befand?, fragte er sich.

Er hörte die kleine Versammlung schon von Weitem – das gellende Geräusch einer Handvoll Trillerpfeifen, eine durch ein Megafon verstärkte Stimme, die die Leute anwies, fleißig zu filmen und zu posten.

Die wöchentliche Demonstration der Pandemic Fighters. Dann musste heute Montag sein, dachte Anasias. Er hatte die letzten Tage fast rund um die Uhr gearbeitet und dabei jegliches Zeitgefühl verloren.

An der Kreuzung zur Vasha Pzavela Allee blieb er stehen. Rings um ihn herum standen junge Leute, die ganz offensichtlich auf dem Weg zu der Demonstration waren. Genau wie er warteten sie darauf, dass die Ampel auf Grün schaltete. Sein Herz war kurz vor dem Zerspringen.

Ein schwarzer SUV hielt neben ihm. Getönte Scheiben. Unmöglich zu sehen, wer in dem Wagen saß. Waren das seine Verfolger? Anasias wich einen Schritt zurück und rempelte aus Versehen dabei eine junge Frau an, die einen hellblauen Parka und zerrissene Jeans trug.

»Professor Anasias!« Die junge Frau schaute ihn verwundert an. »Wollen Sie mit uns demonstrieren? Wie wunderbar!« So, wie sie mit ihm sprach, war sie eine seiner Studentinnen, aber er konnte sich nicht an ihr Gesicht erinnern.

»Nein. Nein, eigentlich nicht.« Abwehrend hob er die Hände. Die Päckchen unter seinem Mantel kamen ins Rutschen, und er presste sie fester gegen seinen Körper. Mit einem flauen Gefühl im Magen spähte er an der jungen Frau vorbei in Richtung SUV.

Regentropfen rannen an dem glänzenden schwarzen Lack entlang nach unten. Eine weiße Wolke stieg aus dem Auspuff in die kühle Luft. Regungsloses Verharren.

Herzklopfen.

Dann schaltete die Ampel für die Autos auf Grün, der SUV fuhr los, bog keine anderthalb Meter neben Anasias nach rechts ab und war gleich darauf im fließenden Verkehr verschwunden.

Anasias atmete erleichtert aus.

»Geht es Ihnen nicht gut, Professor?«, fragte die Studentin. »Sie sehen sehr blass aus.«

»Alles gut.« Er zwang sich zu einem Lächeln, musste sich aber erneut den Schweiß von der Stirn wischen. »Ich bin nur ein bisschen zu schnell gegangen.« Er richtete den Blick auf die Menschen vor dem Universitätsgebäude. Knapp dreißig Demonstranten waren es mittlerweile, vermutlich wie immer hauptsächlich Medizinstudenten. Was vor der weltweiten Corona-Pandemie nur eine kleine Vereinigung von Medizinern gewesen war, hatte sich danach zu einer ernstzunehmenden Stimme des Protests erhoben. Weltweit gingen Menschen auf die Straßen, forderten die Regierenden in allen Ländern auf, etwas gegen …

Anasias kappte den Gedanken. Er hatte gerade andere Probleme. Naheliegendere. Er konzentrierte sich wieder auf seine Umgebung.

Die Blumenrabatten vor dem Unigebäude trieften vor Feuchtigkeit. In der Luft lag der Geruch, der so typisch für Tiflis war, eine Mischung aus Autoabgasen und dem würzigen Aroma der Pinien am Straßenrand. Die meisten Demonstranten hatten im Schatten eines der Bäume Schutz vor dem Nieselregen gesucht. Anasias’ Blick wanderte über die selbstgemalten Schilder, auf denen teilweise schon die Farbe verlief.

Be prepared!, stand auf einem, während alle anderen Schilder in Georgisch beschriftet waren: Infektionsforschung vorantreiben!, #bewarebadbugs #boostgoodbugs und Corona 2.0 verhindern und die Menschheit retten! Dazu immer wieder eine fast künstlerisch anmutende Welle, die sich schäumend brach – das Logo der Pandemic Fighters.

Anasias musste lächeln, als er auf einem der Schilder die Zeichnung eines Virus entdeckte, der einer Mondlandefähre ähnelte. Die junge Frau, die das Schild hielt, erkannte er wieder. Sie war wirklich eine seiner Studentinnen. Und auch die Darstellung des Bakteriophagen auf dem Schild, eines sogenannten »Bakterienfressers«, war ihm überaus vertraut, denn die Phagenforschung war sein Spezialgebiet, sein Lebensinhalt.

Noch einmal presste er die beiden Päckchen unter dem Mantel fester an seinen Körper.

»Schön, dass ihr alle da seid«, hörte er den jungen Kerl am Megafon sagen. Er wusste, dass der Mann sich bei Ärzte ohne Grenzen engagierte und so etwas wie der Anführer der hiesigen Pandemic Fighters war.

Die Fußgängerampel sprang auf Grün um. Die Menschen ringsherum setzten sich in Bewegung, und er ließ sich mit ihnen treiben. Etliche Autos fuhren vorbei. Keiner davon war ein schwarzer SUV.

Der Anblick der Demonstranten festigte etwas in Anasias. Plötzlich wusste er wieder, warum er sich von den subtilen Anzeichen der Bedrohung nicht einschüchtern lassen durfte. Seine Arbeit war wichtig. Immens wichtig sogar.

Er starrte auf die gemalte Welle. »… die Menschheit retten«, murmelte er. Die gesamte Menschheit würde er mit seiner Forschung zwar nicht retten können, aber wenigstens einem Teil konnte er helfen.

Der junge Mann mit dem Megafon zog einen zusammengefalteten Zettel aus der Tasche und warf einen Blick darauf. »Wir haben uns hier versammelt«, begann er, »weil die Mächtigen immer noch nicht aufgewacht sind. In den Jahren 2020 und 2021 hat die Corona-Pandemie weltweit Millionen Tote gefordert und der Weltwirtschaft weitreichende und existenzielle Schäden zugefügt. Wir alle hier wissen, dass die nächste Pandemie nur eine Frage der Zeit ist, und es werden von Tag zu Tag mehr, die deswegen beunruhigt sind. Was wir nicht wissen: inwieweit diese neue Pandemie von einem bis jetzt noch unbekannten Virus ausgelöst werden wird oder von einem Bakterium. Vielleicht, und das ist in meinen Augen das beängstigendste Szenario, liebe Freundinnen und Freunde, wird es auch ein Superbug sein, der …«

Anasias hörte den weiteren Ausführungen nur mit halbem Ohr zu, denn er kannte die Forderungen der Pandemic Fighters in- und auswendig. Spanische Grippe, SARS, Aids, Schweinegrippe, MERS, Ebola und Covid-19 – das waren die Schlagworte für die Epidemien des 20. und 21. Jahrhunderts. Und sie alle hatten eine Gemeinsamkeit: Sie waren Zoonosen. Zunehmende Umweltzerstörung, Klimawandel und weltweiter Hunger führten zu immer engerem Zusammenleben von Wildtier und Mensch. Was zur Folge hatte, dass es immer wahrscheinlicher wurde, dass ein Erreger die Artengrenze überwand und auch den Menschen befiel. Corona war da nur der Anfang gewesen.

»Zoonosen sind nicht die einzige Bedrohung«, führte der junge Mann weiter aus. »Wir alle hier wissen, dass wir kurz davor stehen, in eine Post-Antibiotika-Ära zu rasseln, in der Infektionen wieder wie im Mittelalter bekämpft werden müssen. Wir wissen, dass da etwas auf uns zukommt wie ein Tsunami. Ein Tsunami, den allerdings kaum jemand wahrnimmt, weil er im Zeitlupentempo heranrollt. Das Auftauen des Permafrostes in Sibirien durch den Klimawandel …«

Anasias’ Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, als er den schwarzen SUV wiederentdeckte. Oder war es ein anderer? Diese bulligen Dinger sahen doch alle gleich aus! Langsam rollte der Wagen an ihm vorbei und behinderte dabei den fließenden Verkehr.

Anasias sah die Reflexion der Pinien über den schwarzen Lack und die getönten Scheiben huschen. Unsichtbare Gestalten dahinter. Sein Herz setzte aus, als eine der Scheiben zwei Fingerbreit hinuntergefahren wurde. Würde man jetzt auf ihn schießen?

Er konnte sich nicht rühren, wartete einfach nur auf den Schuss. Ob es wehtat, wenn sich eine Kugel ins Herz bohrte?

Doch es fiel kein Schuss. Keine Waffe erschien in dem Fensterspalt, während der SUV vorbeirollte und zwischen den anderen Wagen des Stadtverkehrs verschwand. In Anasias’ Ohren rauschte es. Er hörte die Stimme des Redners, aber die Worte erreichten kaum seinen Verstand.

»… bereits vor Corona starben jährlich weltweit 700.000 Menschen an multiresistenten Keimen, aber …«

Mit dem Arm presste er die Päckchen fester an sich. Die junge Studentin, die ihn eben an der Ampel angesprochen hatte, warf ihm einen Seitenblick zu und lächelte.

Anasias wog seine Optionen ab. Er wollte diese junge Frau nicht in Gefahr bringen, aber was blieb ihm anderes übrig? »Dürfte ich Sie um einen Gefallen bitten?«, fragte er mit belegter Stimme.

»Klar.«

Anasias zog die Studentin mit sich, bis die Menge sich um sie beide schloss. Dann holte er die Päckchen unter dem Mantel hervor. Eines war mehr als dreißig Zentimeter groß und schwer, das andere kleiner. Die Adresse, die Anasias mit fahriger Hand auf beide gekritzelt hatte, befand sich im Ausland, genauer gesagt in Berlin.

»Würden Sie direkt im Anschluss an diese Demonstration diese Päckchen für mich bei der Post aufgeben?«, fragte Anasias.

Die Studentin sah ein wenig verwundert aus. »Natürlich, Professor!« Sie nahm die Päckchen, und genau wie er verbarg sie sie unter ihrem Parka, um sie vor dem Nieselregen zu schützen, der schnurgerade auf sie herabrieselte.

Sehr gut!

Anasias zog seine Geldbörse und gab der jungen Frau genug Geld, damit sie zweimal Luftfracht bezahlen konnte, und legte noch etwas drauf, sozusagen als Vergütung.

»Soll ich Ihnen die Quittung in Ihr Büro bringen?«, fragte sie.

»Das wird nicht nötig sein.« Anasias dankte der jungen Frau. Dann warf er einen letzten Blick auf den Redner und auf die Schilder mit der Welle.

Ein Tsunami in Zeitlupe, dachte er fröstelnd, während er die Demonstration verließ und sich auf den Weg zurück zu seinem Institut machte, dem Delbrück Phage Research Center.