Toms Finger bebten, als er sie dem Tastenfeld näherte. Er schüttelte sie, dann tippte er Isabelles Nummer ein. Er hatte sie eben in der U-Bahn nicht auswendig lernen müssen wie die von Nina oder Max, denn er hatte sie immer im Kopf für den Fall, dass er irgendwo in der Sahara oder im Dschungel kein Handy, dafür aber einen uralten Münzfernsprecher zur Verfügung hatte. Er hoffte, Isabelle würde rangehen. Was für eine Nummer wurde einem eigentlich angezeigt, wenn man einen Anruf von einer Telefonzelle erhielt? Er stellte fest, dass er keine Ahnung hatte. Wann hatte er das letzte Mal hier in Deutschland von einem öffentlichen Fernsprecher aus telefoniert? Auch das wusste er nicht.
»Nimm ab!«, murmelte er durch zusammengebissene Zähne. »Mach schon!«
Es klingelte viermal, fünfmal, sechsmal. Nach dem neunten Klingeln würde der Anruf auf Isabelles Sprachbox umgeleitet werden.
»Ja?«
Die Stimme seiner Frau ließ sein Trommelfell schmerzen. »Isabelle! Gott sei Dank!«
»Tom!« Sie stieß einen sonderbaren, kleinen Laut aus. »Was zur Hölle …«
»Isa, hör zu!« Er stützte den Ellenbogen gegen die Wand und kniff sich in den Nasenrücken. Isa. So hatte er sie früher immer genannt. Als ihre Beziehung noch intakt gewesen war.
»Was ist los bei dir?«, stieß sie hervor. »Du wirst von der Polizei gesucht!«
Scheiße. Er hatte gehofft, dass sie es noch nicht wusste und er sie leicht dazu bringen würde, Dr. Heinemann anzurufen und ihn über Nina zu informieren. Wie er seine Frau allerdings kannte, würde das jetzt schwierig werden. Ihm wurde gleichzeitig heiß und kalt, als ihm noch ein Gedanke durch den Kopf schoss: Isabelle würde vermutlich bald zu Sylvie fahren. Oder war sie sogar schon dort? Wusste Sylvie es etwa auch schon …?
Der Gedanke ließ seine Knie weich werden. Er stützte sich neben dem Telefon an der Wand ab. »Es ist eine Verwechslung, Isabelle! Ich habe nichts mit irgendwelchen Morden zu tun, im Gegenteil!«
»Was heißt im Gegenteil?«, zischte sie, ein scharfes, bedrohliches Geräusch. »Die Polizei war gestern Abend bei mir und hat nach dir gefragt! Ich versuche seitdem andauernd, dich zu erreichen!«
Andauernd? Ganze zwei Mal hast du es versucht, während Nina … Isabelles Stimme rauschte in diesen Gedanken und zerpulverte ihn.
»Und nun das, Tom? Mord? In was für eine Sache bist du jetzt schon wieder verstrickt?«
Natürlich. Für seine Noch-Ehefrau war er Staatsfeind Nr. 1. Tom bezähmte seine Verdrossenheit nur mit Mühe. »Keine Ahnung, ehrlich!«
»Klar.« Sie klang sarkastisch.
»Scheiße, du hältst mich nicht im Ernst für einen Mörder? Denkst du …«
»Ich weiß nicht, was ich denken soll, Tom! Alles, was ich weiß, ist, dass du versprochen hattest, deine kranke Tochter zu besuchen, und seit Tagen nicht da warst und dass du von der Polizei gesucht wirst.« Sie schwieg plötzlich, und er wusste, dass sie neuen Anlauf nahm. »Ich habe deine ständigen Eskapaden so was von satt, Tom! Deine Tochter ist schwer krank, und du jagst da draußen … was immer es auch ist nach …«
»Isa…«
»Nein, Tom! Du …« Ihr ging die Luft aus. Die Stille in der Leitung zwischen ihnen knisterte.
Er fasste sich ein Herz. Er musste zumindest versuchen, sie auf Dr. Heinemann anzusetzen. »Isa, ich muss dich um einen Gef…« Er verschluckte sich fast an dem letzten Wort. Direkt neben ihm stand plötzlich jemand. Die Russen? Sein Herz machte einen Satz, doch es war keiner seiner Verfolger, sondern ein Obdachloser, der sich an einem Mülleimer zu schaffen machte. Als der Mann bemerkte, dass Tom ihn musterte, schaute er auf und grinste ihn konspirativ an. Unwillkürlich schaute Tom an sich herunter, an seiner zerschundenen Gestalt und seinen schmutzigen Klamotten. Er sah selbst wie ein Penner aus.
Er drehte dem Mann den Rücken zu. »Du musst mir einen Gefallen tun, Isabelle!«
»Ich wüsste nicht, wieso!«
»Doch Isa, du musst Dr. Hein…« Diesmal schnitt das Schrillen des Wähltons ihm das Wort ab.
Isabelle hatte aufgelegt.
Fassungslos starrte Tom den Hörer an. »Fuck!«, schrie er. Eine ältere Frau, die gerade an ihm vorbei zu den Schließfächern gehen wollte, blieb erschrocken stehen. Er lächelte ihr beruhigend zu, dann wählte er noch einmal Isabelles Nummer. Diesmal ging sie nicht mehr ran.
Er brauchte einige Minuten, bis er es schaffte, sein jagendes Herz zu beruhigen. Gut. Das war nichts gewesen. Also Plan B. Er steckte einen Euro in den dafür vorgesehenen Schlitz des Telefons, überlegte kurz, bis ihm die seit Ewigkeiten nicht mehr benutzte Nummer der Auskunft einfiel. Eine Frauenstimme fragte ihn, womit sie helfen könne, und er bat darum, mit Dr. Heinemanns Institut in der Loring-Klinik verbunden zu werden. Nur Sekunden später hatte er eine zweite Frau am Apparat, die ihm allerdings erklärte, dass Dr. Heinemann im Moment unabkömmlich wäre, weil er gerade operierte. »Richten Sie ihm bitte etwas von mir aus«, bat Tom.
»Natürlich.«
»Ich habe eine gewisse Dr. Nina Falkenberg gebeten, für meine Tochter Sylvie nach alternativen Behandlungsmethoden zu suchen …« Heinemanns Sekretärin kommentierte das mit einem leisen »Tz«, um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, was sie von solchen Abweichungen von der Schulmedizin hielt. Tom ignorierte es. »Wenn Dr. Falkenberg sich meldet, möchte ich, dass Sie ihr alle verlangten medizinischen Unterlagen meiner Tochter zukommen lassen.«
»Wie ich bereits sagte, befindet sich Dr. Heinemann gerade im OP, und alternative Behandlungsmethoden sind …«
»Gute Frau!«, fiel Tom ihr ins Wort, weil ihn ihre Art zu mauern nervte. »Dr. Heinemann persönlich hat mir geraten, Alternativen zu suchen. Sagen Sie ihm bitte …« Er hielt inne, als ihm bewusst wurde, dass er den Arzt damit möglicherweise reingeritten hatte. Das haben Sie nicht von mir, hatte der gesagt, als er Tom kürzlich auf die Phagentherapie angesetzt hatte. Verdammt!
Die Stimme der Frau wurde noch ein wenig kühler. »Vielleicht versuchen Sie es einfach später noch einmal und sprechen dann direkt mit ihm.«
Das war doch unfassbar! Tom musste sich beherrschen, um die arrogante Ziege nicht anzufauchen. »Es ist …« Auf dem öffentlichen Monitor erschien erneut der Nachrichtenbeitrag mit seinem Foto, und Tom blieb bei dem Anblick der Atem weg. »Vergessen Sie ’s!«, knurrte er. »Ich melde mich wieder.« Er wartete die Antwort der Frau nicht ab, sondern knallte den Hörer so fest auf die Gabel, dass es krachte.
Nina war gerade vor YouGen aus dem Auto gestiegen, als ihr Handy klingelte und eine private Nummer anzeigte. »Schalten Sie den Fernseher an!«, sagte Tom, bevor sie sich melden konnte. Er nannte ihr den Namen eines Regionalsenders.
Sie wandte sich an Ethan. »Hast du einen Fernseher?«
»Klar. In unserem Freizeitraum.«
»Warten Sie«, sagte sie zu Tom. Mit dem Telefon am Ohr folgte sie Ethan die Treppe hinauf. »Was ist denn eigentlich los?«, fragte sie.
»Machen Sie einfach diesen Scheiß-Sender an!«
Das klang nicht gut! Nina stolperte bei Toms angespanntem Tonfall fast über die Kante einer Treppenstufe, konnte sich aber gerade noch fangen. Maren nahm ihre Hand und hielt sie fest. Nina versuchte sich an einem Lächeln, das allerdings kläglich misslang.
Max stand in dem Freizeitraum am Kicker, als habe er gerade eine Partie gespielt und sei dabei von einem Anruf unterbrochen wollen. Er hatte das Handy am Ohr. »Himmel!«, polterte er. »Ich habe Ihnen jetzt schon dreimal gesagt, dass die Fighters nichts dafür können, dass ein paar fehlgeleitete Typen unsere Initiative für ihre terroristischen Zwecke missbrauchen …« Sein Blick fiel auf Ethan und Nina und Maren in seinem Schlepptau. Fragend schaute er sie alle drei an.
Ethan marschierte wortlos an ihm vorbei zum Fernseher, griff nach der Fernbedienung. »Welcher Sender?«
Nina nannte ihm den Namen.
Er schaltete ein, und sie blickte direkt in Toms lachendes Gesicht. Das Bild gehörte zu einem Beitrag über den Doppelmord an den zwei Polizisten, von dem Kommissarin Voss ihr erzählt hatte. Offenbar wurde Tom verdächtigt.
»Shit!«, hörte sie Max murmeln, und das war exakt das, was sie selbst dachte.
Ethan drückte auf die Pausentaste, und das Bild der Kommissarin mit dem Mikro vor der Nase fror ein.
»Was hat das zu bedeuten, Tom?«, flüsterte Nina. Ihre eigene Stimme kam ihr fremd vor.
Maren, die ihre Hand beim Betreten der Firmenräume wieder losgelassen hatte, berührte sie jetzt an der Schulter. Ihr Gesichtsausdruck war voller Empathie, doch Nina kam es vor, als hätte das nichts mit ihr zu tun. Es war, als liefe rund um sie ein Film auf einer Leinwand ab. Alles schien plötzlich flach und zweidimensional.
»Ich habe Sie gebeten, sich das anzusehen, weil ich Ihnen beweisen will, dass ich auf Ihrer Seite bin«, sagte Tom. »Hören Sie zu, das ist jetzt wichtig. Die Russen …« Sie konnte ihn leise ächzen hören. »… haben die beiden Polizisten ermordet, um mich in die Finger zu bekommen. Ich bin auf dem Weg zur Polizei, um die Sache klarzustellen, aber es kann sein, dass mich das für eine ganze Weile außer Gefecht setzt. Ich gebe Ihnen jetzt die Nummer meiner Frau Isabelle. Bitte rufen Sie sie an und reden Sie mit ihr. Sie muss Dr. Heinemann sagen, dass er mit Ihnen und Max kooperieren soll. Haben Sie das verstanden?«
»Ja. Ja, natürlich.« Nina griff nach der Hand von Maren auf ihrer Schulter, klammerte sich daran fest. Wieder ächzte Tom unterdrückt, und sie stellte sich vor, wie er sich krümmte. Was hatten die mit ihm gemacht?
»Die ganze Sache ist offenbar noch viel größer, als wir gedacht haben, Nina! Wenn diese Russen wirklich die Kerle sind, die Ihren Ziehvater auf dem Gewissen haben, dann haben sie mittlerweile drei, nein vier Morde …« Er verstummte mit einem Geräusch, das wie ein Würgen klang.
»Bist du okay?«, wisperte sie. Plötzlich hatte sie den Wunsch, ihm nahe zu sein, und ihr alberner Versuch, ihn sich auf Abstand zu halten, indem sie ihn immer noch siezte, kam ihr völlig bescheuert vor.
Er schwieg einen Augenblick, und sie hätte zu gern gewusst, was er dachte.
»Ja«, sagte er dann schlicht.
»Was wirst du jetzt tun?«
»Diese Kommissarin aus dem Interview. Ich werde sie anrufen und ihr erklären, was wirklich passiert ist. Du musst irgendwie meine Frau dazu bringen, dass sie Heinemann anruft und ihm die Erlaubnis gibt, euch Sylvies Daten und Proben zum Testen zu geben.«
Sie schluckte. »Du solltest das selbst …«
»Hab ich probiert. Sie hat aufgelegt und geht nicht mehr ran.«
»Okay. Ich versuche es.«
»Danke.« Er gab ihr Isabelles Nummer. »Ich melde mich wieder«, sagte er.
In ihrem Büro streckte Voss ihren schmerzenden Rücken und unterdrückte ein Gähnen. Nach dem Treffen mit Oberkommissar Reiffenberg waren sie und Lukas zurück zum Tempelhofer Damm gekehrt.
Dort hatte sie einen Bericht der Ballistik vorgefunden. Die Projektile, mit denen Heller und Oberau getötet worden waren, stammten aus einer anderen Waffe als die Kugel, die man im Putz des Treppenhauses von diesem Dr. Seifert gefunden hatte. Immerhin: Beide Waffen hatten dasselbe ungewöhnliche Kaliber: 9x21, das seit ein paar Jahren in russischen Armeepistolen verwendet wurde.
Russland.
Sie sah nach, ob sie schon eine Reaktion auf ihr internationales Amtshilfeersuchen bei den Kollegen in Tiflis hatte. Natürlich nicht. Dann rief sie Ben an, und er erklärte ihr, dass die Gesichtserkennung keinen Treffer geliefert hatte. Sie hatten den Glatzkopf, der die Quarkspeise vergiftet hatte, nicht in ihrem System.
Wäre ja auch zu einfach gewesen, dachte Voss.
Der Ring an dem Finger des Typen. Das blau-rote Symbol darauf, das hatte Lukas recherchiert, war das Zeichen des FSB, des russischen Geheimdienstes. Wieder Russland. Gab es die Pandemic Fighters auch da?
Steht auf! Ihr habt ein Recht auf Leben! Sorgt dafür, dass die Verantwortlichen endlich handeln!
Die Worte von Prometheus’ Bekennervideo klangen genau so wie die allgegenwärtigen Forderungen der Pandemic Fighters. Voss biss sich auf die Lippe. Während sie noch über einen möglichen Zusammenhang zwischen den Morden, ihren beiden Altenheim-Attentaten und den Fighters nachdachte, stand Runge in der Tür. Er wirkte so müde, wie sie sich fühlte. Mit dem Unterarm lehnte er sich in den Rahmen. »Hey. Was ist mit deinem zweiten Anschlag?«
Sie erzählte ihm die Einzelheiten und spielte ihm den neuen YouTube-Film vor.
»Ein Typ mit Agenda also. Das sind die Schlimmsten.«
»Hmhm.«
»Der Kerl klingt, als käme er aus den Reihen dieser Möchtegernweltverbesserer, oder?«
»Die Pandemic Fighters«, murmelte Voss. »Wo soll man da, bitte schön, anfangen?«
»Das Labor hat noch keine Ergebnisse, was in der Spritze war, vermute ich?«, fragte Runge.
»Ist noch viel zu früh dafür.«
»Die Gesichtserkennung bei dem Glatzkopf?«
»Nichts. Wir kontaktieren gerade sämtliche Firmen, die Flyer drucken, aber wie es aussieht, läuft das ins Leere. Die Typen sind nicht doof. Und sie scheinen gut organisiert zu sein. Man kann solche Flyer mittlerweile überall im europäischen Ausland drucken lassen, und wir können unmöglich da überall Amtshilfe erbitten, um das Tracking-Dots-Muster des verwendeten Farblaserdruckers zurückzuverfolgen.« Sie fluchte unterdrückt. »Und bei euch?«
»Das Gleiche wie bei euch: Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen. Wir haben inzwischen sämtliche Zeugen befragt, die den Mord an Heller und Oberau mit angesehen haben, aber du kannst es dir denken: Ihre Aussagen widersprechen sich.«
Logisch, dachte Voss. Das war polizeilicher Alltag. Die Leute waren sich nicht einmal einig darüber, welche Farbe der Himmel hatte, wenn man sie im Zuge einer Mordermittlung befragte.
»Bisher ebenfalls nichts zu dem dunkelroten Van.«
»War zu erwarten.« Sie stellte sich vor, wie in den vergangenen Stunden alle Kolleginnen und Kollegen dort draußen jeden dunkelroten Van überprüft hatten. Wie viele von diesen Kisten gab es in Berlin? Sie hatte nicht die geringste Ahnung. Vielleicht sollte sie sich das auf ihre Visitenkarten drucken lassen.
»Wir werden morgen nochmal mit der Ehefrau von diesem Morell reden, vielleicht hat er sich in der Zwischenzeit bei ihr gemeldet.«
Wohl kaum, dachte Voss, wenn die Kerle, die in Seiferts Büro rumgeballert hatten, ihn entführt hatten. »Die Ergebnisse der Ballistik sind unbrauchbar«, erklärte sie. »Zwei verschiedene Waffen. Immerhin beide mit einem russischen Kaliber.«
»Russland.« Überrascht hoben sich Runges Augenbrauen.
»Sieht so aus.«
»Dieser Morell. Ich habe ein bisschen tiefer gegraben. Er war früher bei der Antifa. Hat Wände mit ACAB besprüht und antikapitalistische Parolen von sich gegeben, dass hinter jedem großen Vermögen ein großes Verbrechen steckt und so ’n Zeug.«
Sie sprachen kurz über diese neue Erkenntnis, die sie aber auch nicht weiterbrachte, dann verließ Runge Voss’ Büro, und sie rief im Labor an. Ein Mann, der sich mit Dr. Peters meldete, ging ran. Seine näselnde Stimme war ihr sofort unsympathisch.
»Ich brauche die Testergebnisse im Fall Heuersche Höfe«, sagte sie. »Das ist die Spritze, die die Jungs vom Kampf…«
»Ich bin nicht senil!«, unterbrach Peters sie kühl.
»Schön für Sie. Haben Sie schon Ergebnisse?«
»Moment.« Mit einem ohrenbetäubenden Krachen legte er den Hörer hin. Er musste nachsehen, was Voss spontan ein wenig entspannte. Wenn er wirklich Pest oder etwas Ähnliches gefunden hätte, würde er sich wohl daran erinnern, oder?
Mit einem weiteren hässlichen Krachen wurde der Hörer wieder aufgenommen. »Wir haben den Inhalt der Spritze untersucht, die der Kampfmittelräumdienst gebracht hat«, sagte Peters, als habe sie ihn nicht eben genau danach gefragt. Dann verstummte er, als wolle er gebeten werden weiterzusprechen.
Voss hatte keine Zeit und vor allem keine Nerven für solche Mätzchen. »Reden Sie, Herrgott!«, knurrte sie.
Er grinste, das konnte sie seinen nächsten Worten anhören. »Also gut. Wir haben ein paar PCR-Schnelltests gemacht. Soweit wir es bis hierher sagen können, waren in der Spritze Salmonellen.«
Salmonellen? Kein Anthrax oder Ebola. Keine Pest. »Aha«, sagte Voss.
»War’s das?«
»Nein. Moment noch. Salmonellen sind nicht so gefährlich wie Listerien, oder?«
»Wer bin ich, Ihr persönlicher Biologieprofessor, oder was?« Ohne ein weiteres Wort legte Peters auf.
»Arschloch!«, murmelte Voss.
Also. Erst Listerien. Dann Salmonellen. Warum wählte Prometheus beim zweiten Anschlag ein harmloseres Mittel als beim ersten? Stimmte etwa ihre Vermutung nicht, dass er die Sache eskalieren lassen wollte? Oder lag sie mit etwas anderem falsch? Waren Salmonellen vielleicht doch gefährlicher als Listerien, und sie verwechselte da was? Verflixt, sie wusste einfach zu wenig über diesen ganzen Bioscheiß! Ihr schwirrte der Kopf. Sie verschränkte die Arme auf der Platte des Schreibtischs und legte die Stirn darauf. Vielleicht sollte sie langsam Feierabend machen. So matschig, wie ihr Hirn war, konnte sie es noch so sehr ausquetschen, es würde keine brauchbaren Ergebnisse mehr liefern. Eine heiße Dusche, ein Happen zu essen, dann ein paar Stunden Schlaf, und morgen würde sie wieder klarer sehen.
Sie unterdrückte ein Seufzen, sie kannte sich: Bevor sie nicht in dieser Salmonellen-Listerien-Sache Klarheit hatte, würde sie kein Auge zumachen, also suchte sie sich Nina Falkenbergs Nummer aus der Akte. Noch während sie blätterte, klingelte ihr Festnetztelefon.
»Voss?«, meldete sie sich.
Am Apparat war ein Kollege aus der Zentrale. »Wir haben hier jemanden, der behauptet, Tom Morell zu sein.«
Im ersten Moment schoss ihr Adrenalin bis in die Haarspitzen, aber gleich darauf dachte sie: Ja, klar! Das war vermutlich wieder einer dieser Spinner, die sich aus welchen Gründen auch immer mit fremden Taten brüsten mussten.
»Er meint, er würde Ihnen gern persönlich erzählen, wer den Kollegen je eine Kugel in den Kopf gejagt hat«, erklärte der Kollege aus der Zentrale.
Das Adrenalin schoss aus ihren Haarspitzen zurück, rann ihr als elektrisches Kribbeln bis hinunter zum Steißbein. Dass die Kollegen Heller und Oberau mit Kopfschüssen hingerichtet worden waren, hatten sie als Täterwissen zurückgehalten.
»Stellen Sie den Mann durch!« Auf einmal war sie wieder hellwach. Sie öffnete Morells Porträt auf ihrem Rechner. Sein lachendes Gesicht erschien vor ihren Augen gleichzeitig mit einer angenehm sonoren Stimme an ihrem Ohr. »Hallo, Frau Voss. Mein Name ist Tom Morell.«
»Ich höre«, sagte sie und in dieser Sekunde bedauerte sie es, dass Lukas schon Feierabend hatte. Wäre er noch da gewesen, hätte sie ihm durch ein Zeichen befehlen können, den Anruf zurückzuverfolgen.
Morell hüstelte. »Ich würde gern mit Ihnen reden.«
»Nur zu! Reden Sie!«
»Nicht am Telefon.«
Voss wartete.
»Ich weiß, dass Sie versuchen, diesen Anruf zurückzuverfolgen«, sagte Morell. »Aber das ist nicht nötig. Ich bin am Ostbahnhof. Ich warte bei Ihren Kollegen von der Bundespolizei auf Sie.«
Bevor sie noch etwas sagen konnte, hatte er aufgelegt. Fassungslos starrte sie sein Bild an. Dann legte sie selbst auf, aber nur für eine Sekunde. Sie wählte die Nummer der Abteilung Operative Dienste, und als am anderen Ende abgehoben wurde, sagte sie: »Ich brauche ein SEK am Ostbahnhof.«
»Wann?«
»Jetzt sofort.«
»Das ist aber nicht Ihr Ernst, oder?«
Voss bewegte die Schultern, um die Anspannung zu lockern. »Klinge ich, als wäre mir zum Scherzen zumute? Ich ermittle in einem Fall, der in Verbindung mit den Morden an den beiden Kollegen heute Morgen steht.« Sie wusste, dass das dem Kerl zuverlässiger Beine machen würde als alles andere, was sie hätte sagen können. Drohende Terrorgefahr eingeschlossen.
Wie erhofft seufzte er. »Also gut. Wir brauchen ungefähr eine halbe Stunde, dann machen wir uns auf die Socken. Wo treffen wir uns?«
»In der Polizeistation dort.«
»Wir kommen.«
»Gut. Danke.« Voss klickte Morells Bild zu, und der dämliche Spruch auf ihrem Desktop wurde sichtbar.
Knallhart und hoffnungslos sentimental …
Sie schnaubte. Dann informierte sie Runge über die unerwartete Wendung in ihrem Fall.
Die scharfzüngige Polizistin aus dem Fernsehbeitrag brauchte keine Stunde, bis sie da war. Tom sah sie durch die offen stehende Tür des kleinen Besprechungsraumes, in den die Bundesbeamten ihn gebeten hatten. Die Kommissarin war in Begleitung eines geschniegelten Typen, der einen schmalen dunkelblauen Anzug und affig spitze Stiefel trug. Sein sorgsam gestylter Dreitagebart ließ ihn eher wie einen Werbefuzzi als wie einen Kripobeamten aussehen. Tom fand ihn auf den ersten Blick unsympathisch, und das war nichts Neues für ihn. Schließlich fand er die meisten Polizisten unsympathisch. Was seltsamerweise für die Kommissarin aus dem Fernsehen nicht zutraf. Ihre taffe, hemdsärmelige Art, mit dem Bundesbeamten zu reden, weckte in ihm schon wieder so etwas wie Sympathie für sie. Er schnaufte. Jetzt wurde er wirklich langsam alt. Er hatte das kaum gedacht, da verflog jeder Anflug von positiven Gefühlen, denn die Kommissarin und der geschniegelte Typ hatten allen Ernstes ein SEK im Schlepptau. Tom glaubte, seinen Augen nicht zu trauen: Während Kommissarin Voss und ihr Lackaffenkollege den Besprechungsraum betraten, baute sich in der Tür ein Kerl in schwarzer Kampfmontur und mit Maschinengewehr in der Hand auf. Ein zweiter blieb inmitten der Polizeistation stehen.
»Sie haben wirklich die Kavallerie mitgebracht?«, rutschte es Tom heraus. Auch der Beamte hinter dem Tresen war überrascht. Nachdem Tom sich ihm vorgestellt hatte, hatte der Mann ihn freundlich gebeten, in dem Besprechungsraum zu warten, und er hatte ihn dort die ganze Zeit allein gelassen.
Tja, dachte Tom. Vielleicht solltest du dein Terroristenradar ein bisschen neu justieren. Der Gedanke amüsierte ihn irgendwie.
Die Kommissarin ging über seine verblüffte Frage hinweg. »Sind Sie Tom Morell?«
»Er hat keinerlei Anstalten gemacht …«, setzte der Bundesbeamte an, verstummte jedoch, als Mr. Lackaffe ihm zunickte.
Tom richtete den Blick erst auf das Maschinengewehr des SEK-Mannes, dann auf Voss’ linke Jackenseite, unter der er ein Waffenholster vermutete. Schließlich schaute er ihr ins Gesicht. Durch ihre Anspannung hindurch war Erschöpfung zu sehen, während Mr. Lackaffe ziemlich energiegeladen wirkte.
»Ich habe Ihre Kollegen nicht erschossen«, sagte Tom zu ihm.
»Wir werden sehen«, sagte Mr. Lackaffe.
Voss tauschte einen stummen Blick mit dem SEK-Beamten. Dann musterte sie die Blessuren in Toms Gesicht. Er ahnte, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete.
»Die stammen von den Kerlen, die Ihre Leute erschossen haben.« Er lächelte, um die Situation ein wenig zu entkrampfen. Es funktionierte nicht im Mindesten. »Sie haben mich entführt. Dabei wurden Ihre Kollegen getötet.«
»Gut«, sagte Mr. Lackaffe und setzte sich Tom gegenüber. Um der Form Genüge zu tun, stellte er sich als Kriminaloberkommissar Runge vor. »Sie haben am Telefon gesagt, dass Sie reden wollen. Also: Reden Sie.« Auch unter seiner Achselbeuge konnte Tom eine Waffe ausmachen.
Er legte beide Hände auf den Tisch vor sich und nickte bedächtig. »Die Männer, die Ihre Leute erschossen haben, waren dieselben, die gestern Max Seiferts Büro überfallen haben.«
»Erzählen Sie genau, was passiert ist.«
»Je eine Kugel. Bei der Frau auf dem Beifahrersitz ein aufgesetzter Schuss in die Schläfe, bei dem Fahrer ein Schuss aus kurzer Distanz mitten ins Gesicht. Der Schütze stand an der Beifahrertür. Er ist kurz vorher aus einem dunkelroten Van gesprungen, in den die Kerle mich dann gezerrt haben.«
Der SEK-Mann straffte unwillkürlich die Schultern. Toms Blick wanderte zu seiner matt schimmernden Waffe. Er schluckte. Und ärgerte sich darüber.
»Und Sie?«, ergriff Kommissarin Voss das Wort. »Wo waren Sie, als die Schüsse fielen?« Sie klang konzentriert und kühl. Äußerlich wirkte sie regungslos, aber Tom hatte das Flackern in ihren Augen gesehen, als er die Schüsse erwähnt hatte. Du bist weitaus empathischer, als du dir selbst eingestehen willst, dachte er.
»Auf dem Rücksitz. Ihre Kollegen …« Er legte den Kopf schief und versuchte, sich an ihre Namen zu erinnern. »… Heller, nicht wahr?« Der Name der Frau fiel ihm nicht mehr ein. Typisch.
»Ja«, sagte Runge und zog das Gespräch damit wieder an sich.
»Heller hatte mich kurz vorher in der Schönhauser Allee aufgefordert, mit ihm zu kommen. Er sagte mir, ich sei nicht festgenommen, aber sie wollten mir einige Fragen stellen, und dann …« Er unterbrach sich, wandte die Handflächen nach oben.
Voss’ Unterkiefer verhärtete sich. Sie hatte einen klaren Blick. Hellgraue Augen mit blonden Wimpern. Kein Make-up. Ihre Haare waren lang und dicht.
»Hören Sie«, sagte Tom. »Ich habe keine Ahnung, was genau hier vorgeht. Aber ich möchte Ihnen helfen, die Mörder zu finden.«
»Das ist gut. Das Beste wird sein, Sie folgen uns jetzt erstmal auf unser Revier.« Runge gab dem SEK-Mann einen Wink. Der Mann trat vor und machte Anstalten, unter Toms Achsel zu greifen.
Tom wehrte ab. Langsam erhob er sich. »Sie müssen mich nicht fest…«
»Herr Morell!«, fiel Runge ihm ins Wort. »Sie werden Verständnis dafür haben, dass wir Sie nicht in ein polizeiliches Fahrzeug setzen, ohne dafür zu sorgen, dass Sie gut bewacht und handlungsunfähig sind.« Ein feines Lächeln glitt über sein Gesicht.
Tom forschte in Voss’ Gesicht nach Anzeichen dafür, was sie über die Maßnahme dachte. Vergeblich. Ihre Miene war undurchdringlich.
»Sehen Sie es einfach als Schutzmaßnahme, damit Ihre Entführer Sie nicht erneut rausholen.« Runge nickte dem SEK-Mann zu.
»Drehen Sie sich um!«, befahl der und Tom unterdrückte den absurden Impuls, »Yes, Sir!« zu bellen. Mit zusammengebissenen Zähnen gehorchte er. Ein leises Ratschen ertönte, dann wurde ihm etwas um die Handgelenke geschlungen und festgezogen. Sehr fest.
Er musste an sich halten, um keinen Schmerzenslaut auszustoßen. Es war das zweite Mal innerhalb kurzer Zeit, dass ihn jemand fesselte, und seine Handgelenke waren noch von dem Kabelbinder der Russen wund und empfindlich. Er wurde am Arm gepackt und ruppig wieder herumgedreht. Ein saftiger Fluch lag auf seiner Zunge.
Die letzten achtundvierzig Stunden waren ziemlich beschissen gewesen. Und wie es aussah, würden auch die kommenden nicht besonders angenehm werden. Gut, dass er Nina gebeten hatte, sich um Isabelle und Dr. Heinemann zu kümmern.
»Park irgendwo in einer Seitenstraße!«, befahl Jegor Misha, als sie an dem Antiquariat Stockhausen vorbeirollten. Auf das Schaufenster war dieselbe stilisierte Darstellung eines Steinbocks gemalt, die er schon auf dem VW der alten Frau und auch auf ihrer Website gesehen hatte.
Sie bogen um eine Ecke.
»Halt da am Bordstein!« Jegor konnte das Unbehagen in Mishas Augen sehen, diese leise Beklommenheit, die die Leute oft in seiner Gegenwart zeigten. Er verscheuchte die kurze, schwächliche Empfindung von Einsamkeit, die damit einherging. Er hatte früh und auf die harte Tour gelernt, dass es besser war, wenn die Menschen ihn fürchteten. Angst verbreiten ist besser, als Angst haben. Kapiert hatte er das, als er sich das erste Mal gegen seinen Vater, diesen versoffenen, prügelnden Mistkerl, gewehrt hatte. Die Zeit vor diesem einen alles verändernden Tag waren in seiner Erinnerung nur ein verschwommener Nebel aus Angst, aus dem ab und zu der blau-rote Siegelring seines Vaters hervorblitzte. Und der Geschmack von Blut auf den Lippen. Aber dieser eine Tag, diese eine Sekunde, als er zum ersten Mal nicht vor seinem geifernden alten Herrn zurückgewichen war, an diesen Augenblick erinnerte er sich glasklar. Genauso wie an die Dämmerung in den Augen seines Alten. An seine Verblüffung. Und dann an seine Angst. Es hatte sich geradezu berauschend angefühlt, dass der Alte endlich Angst vor ihm hatte statt umgekehrt. Er war an diesem Tag gerade zwölf geworden, und sein Leben hatte sich von da an völlig verändert …
Jegor wurde bewusst, dass er an dem Siegelring drehte. Sein Alter hatte einfach beschissen schmale Finger gehabt, dachte er, darum musste er das Ding wie eine Tunte am kleinen Finger tragen …
Misha hatte den Wagen in eine Parklücke bugsiert und wartete geduldig darauf, dass Jegor aus seinen Grübeleien auftauchte.
Energisch wischte Jegor die Erinnerungen an die Jahre nach seinem zwölften Geburtstag fort, und auch die an den Schlagring, den er sich mit vierzehn gekauft hatte. Er hatte hier einen Job zu erledigen. Besser, er blieb konzentriert. Er nickte Misha zu, und gemeinsam stiegen sie aus.
Er tastete in seiner Jackentasche nach der Maske und war zufrieden, als seine Finger den warmen Strickstoff berührten. Seit er vierzehn war, hatte er alles im Griff.
Er lächelte.
Misha warf ihm im Gehen einen sonderbaren Blick zu.
Jegor konnte nicht anders. Er zwinkerte ihm zu, und er hätte fast aufgelacht, als er Mishas Kehlkopf zucken sah. Es stimmte. Angst verbreiten war wirklich besser, als Angst haben. Mit dem Kinn deutete er auf die Ladentür des Antiquariats. »Wenn ich richtigliege«, sagte er, »dann hat Morell das Laborjournal hier in Sicherheit gebracht.«
Das Antiquariat war leer, das ließ sich mit einem Blick durch das kleine, mit alten Schinken vollgestellte Schaufenster feststellen. Jegor sammelte sich, dann betraten sie nacheinander den kleinen, staubig riechenden Laden. Eine Glocke über der Tür bimmelte, die Tür selbst machte ein trockenes Flüstergeräusch, als sie wieder ins Schloss fiel und sich der Geruch nach Papier und Staub um Jegor schloss.
Er konnte nichts dagegen tun, dass sich sein Magen verkrampfte. Im Arbeitszimmer seines Vaters hatte es genauso gerochen wie hier. Er schob die Hand in seine Hosentasche und tastete nach dem Griff des Schlagrings. Wie immer ging es ihm auf der Stelle besser.
Leichte Schritte ertönten, und Jegor wandte sich dem rückwärtigen Teil des Ladens zu. Ein Vorhang wurde zur Seite geschoben und eine schmale, ältliche Frau stand vor ihm. Er erinnerte sich an ihr Gesicht. Sie war gestern an den Postfächern gewesen. Sie lächelte ihn freundlich an. »Was kann ich für Sie tun?«
Jegors Hand in der Tasche krampfte sich um den Schlagring.