8

Tom sprang auf. Das Brennen in seinem Magen hatte sich in grelle Übelkeit verwandelt. Er hob die Arme, umklammerte seinen Hinterkopf und marschierte die zwei Schritte bis zur Wand, um dem Entsetzen zu entkommen, das ihn beim Anblick der toten Frau ergriffen hatte.

Die Antiquarin, der er das Laborjournal untergeschoben hatte. Sie war tot. Jemand hatte sie auf dieselbe Weise umgebracht wie die beiden Polizisten.

Ihm wurde übel. War es seine Schuld? Wenn er dieser Frau nicht das Journal untergeschoben hätte … Seine Beine drohten unter ihm nachzugeben, und er stützte sich an der Wand ab.

»Setzen Sie sich wieder«, hörte er Voss sagen.

Er ließ den Kopf zwischen den Armen hängen.

»Setzen Sie sich wieder.« Ihr Tonfall war ruhig, aber bestimmt. Unter seiner Achsel hindurch warf Tom ihr einen Blick zu.

»Bitte, Herr Morell«, sagte sie.

Er kam ihrer Bitte nach. »Ich habe diese Frau nicht …«

»Das wissen wir«, fiel Runge ihm ins Wort.

Tom versuchte, in seiner Miene zu lesen, aber vergeblich. Ein saurer Geschmack stieg in seiner Kehle auf. Er krümmte sich. Und dann schoss ihm ein schockierender Gedanke wie Eiswasser durch den gesamten Körper. »Das Laborjournal … wo …?«

Voss stand auf und nahm einen großen Plastikbeutel aus dem Karton, den sie beim Eintreten auf den Aktenschrank gestellt hatte. In dem Beutel befand sich das Laborjournal.

Erleichterung ersetzte Toms Schock. Es fühlte sich an, als würde in seinem Inneren alles nachgeben.

»Wir haben es in dem Tresor von Frau Stockhausen gefunden«, erklärte Voss und erntete dafür einen strafenden Blick von Runge. »Die Männer, die Frau Stockhausen erschossen haben, haben es nicht an sich bringen können, weil ein Nachbar gehört hat, dass etwas nicht stimmte, und uns angerufen hat. Leider kamen die Kollegen zu spät, um den Mord an der Frau zu verhindern. Sie konnten die Männer, die das getan haben, auch nicht dingfest machen.«

Die Übelkeit verging und machte kalter Betäubung Platz. Tom wusste aus Erfahrung, dass es sich so anfühlte, wenn man zu viel Schlimmes auf einmal zu verarbeiten hatte. »Frau Falkenberg braucht das Buch, um meine Tochter zu retten!«, krächzte er.

Ohne darauf einzugehen, zog Runge ein weiteres Foto aus seiner Mappe. Es zeigte in Farbe einen Kerl, bei dessen Anblick sich Toms Herzschlag beschleunigte.

»Sie kennen diesen Mann?«, fragte Runge.

Tom deutete auf die Blessuren in seinem Gesicht. »Ihm verdanke ich das hier.«

»Die Verletzungen, die Sie bei Ihrer angeblichen Entführung davongetragen haben?«

»Es war keine angebl…«

»Bitte beantworten Sie mir meine Frage: Sie kennen den Mann auf diesem Foto?« Runge tippte auf das Bild.

Tom nickte mit zusammengebissenen Zähnen. »Sein Name ist Jegor. Er ist der Kerl, der mich entführt hat, und sein Partner hat Ihre beiden Kollegen erschossen.«

Voss konnte einen triumphierenden Ausruf nur mit Mühe unterdrücken. Das Attentat in St. Anton und der Doppelmord an Heller und Oberau – in beides war derselbe Mann verstrickt! Sie betrachtete Morell. Er tat ihr schon die ganze Zeit über leid. Runge und sie drehten ihn hier durch die Mangel, während er versuchte, damit klarzukommen, dass diese Antiquarin tot war. Der Schock, der sich in seiner Miene spiegelte, konnte auf keinen Fall gespielt sein. Scheiße, der Mann war so fahl, als hätte er keinen Tropfen Blut mehr in den Adern! Und in seinen Augen konnte sie sehen, wie verzweifelt er versuchte, nicht in die Knie zu gehen. In ihr wuchs die Neugier, wie er in einen Fall wie diesen hineingeraten war.

Sie betrachtete das Foto von diesem Jegor, das von Grubers illegal installierter Kamera stammte. Der Überfall auf Max Seiferts Büro, die Ermordung von Heller, Oberau und die Anschläge von Prometheus hatten eine Verbindung.

Und diese Verbindung war Jegor.

War er Prometheus?

Das würden sie herausfinden müssen. Sicher war an dieser Stelle allerdings eines: Morell war wirklich ein Opfer und nicht ihr Täter.

Sie wechselte einen längeren Blick mit Runge und wusste, dass ihr Kollege genau das Gleiche dachte. Aber sie wusste auch, dass in seinem Kopf noch immer Morells Antifa-Vergangenheit herumgeisterte. Runge gehörte zu jenen Polizisten, die eine Mitgliedschaft bei der Antifa – und sei sie auch nur eine lang zurückliegende Jugendsünde – nicht so einfach beiseitewischen konnten.

Tom sah mit an, wie Voss und Runge sich eine Weile lang schweigend anstarrten.

»Okay«, ergriff schließlich Runge wieder das Wort. »Wir wissen, dass Sie Frau Stockhausen nicht getötet haben, weil Sie sich da schon in unserem Gewahrsam befanden.«

Tom schnaubte höhnisch. »Da bin ich ja froh!«

Runge ließ sich von seinem Sarkasmus nicht beeindrucken. »Und die Blutspurenanalyse in dem Streifenwagen zeigt, dass Sie auch die beiden Polizeibeamten nicht erschossen haben.«

Tom hatte den Mund schon auf, um etwas zu erwidern, was erneut sarkastisch gewesen wäre. Aber diesmal entschied er sich dagegen. »Warum sitze ich dann noch hier?«

Als Reaktion auf diese Frage flippte Voss ihm Jegors Bild über den Tisch. »Sagt Ihnen Prometheus etwas?«

»Der Typ, der überall diese Botschaften verteilt? Ihr werdet lernen, mich zu fürchten, und so? Glauben Sie etwa, dass Jegor dieser Prometheus ist?«

Voss tippte auf das Foto. »Durch Sie wissen wir jetzt nicht nur, dass dieser Mann mit der Ermordung unserer beiden Kollegen zu tun hat, sondern wir haben auch den Beweis dafür, dass er verantwortlich ist für einen bioterroristischen Anschlag auf ein Berliner Altersheim.«

»Oha«, sagte Tom.

»Ich denke, Sie verstehen jetzt, Herr Morell.« Sie tippte erneut auf das Foto. »Wir müssen diesen Mann schnellstens stoppen. Und Sie können uns dabei vermutlich helfen.«

Toms Mundwinkel hoben sich zu einem düsteren Lächeln. »Na da bin ich aber froh, dass Sie das endlich einsehen«, sagte er trocken.

»Na dann«, murmelte er, als er sich eine Viertelstunde später wieder setzte. Nachdem Voss vor ihm die Hosen runtergelassen hatte, hatte er eine Pause verlangt, um auf die Toilette gehen und eine rauchen zu können. Es war ihm gewährt worden, und jetzt, das wusste er, würde die Befragung noch eine ganze Weile weitergehen – auch wenn er nicht mehr als Verdächtiger, sondern nur noch als Zeuge galt. Als er sich wieder auf seinen alten Platz gesetzt hatte, stellte ein sehr jung aussehender Polizist ihm einen Becher Kaffee hin.

»Also gut.« Voss wies auf das Foto auf dem Schreibtisch. »Sie sagten, der Name dieses Mannes ist Jegor«, begann sie noch einmal von vorn.

»So haben die anderen ihn genannt, ja.«

»Die anderen?«

»Ja. Der Typ, der mich in den Van gezerrt hat. Misha. So haben die beiden sich angeredet. Jegor und Misha. Misha spricht Russisch, genau wie der Dritte im Bunde, ein Mann namens Victor.« Er straffte sich unwillkürlich, als er daran dachte, wie Jegor Victor mit zwei aufgesetzten Schüssen ermordet hatte. Noch eine Hinrichtung. Er vermied den Blick auf das Foto der Antiquarin, das noch immer vor ihm auf dem Tisch lag.

Voss bemerkte, was in ihm vorging. Sie nahm Frau Stockhausens Foto und drehte es um.

Tom unterdrückte ein Gefühl der Dankbarkeit. Lass dich nicht einwickeln!, flüsterte sein alter Antifa-Instinkt. »Victor ist tot. Jegor hat ihn erschossen.« Er berichtete in möglichst detaillierten Einzelheiten, was geschehen war. Ihm wurde immer wieder schlecht dabei, aber er kämpfte gegen den Brechreiz an. »Sie müssten Spuren von alldem in diesem Gewerbegebiet finden, in dem die Kerle mich festgehalten haben.«

»Das Gewerbegebiet«, murmelte Voss. »Können Sie uns sagen, wo das ist?«

»Nicht wirklich, nein. Ich war betäubt, als sie mich da hingebracht haben, und auch, als sie mich nach Karlshorst gef…« Er unterbrach sich, weil ihm eine Idee kam. Er beugte sich zur Seite und nestelte die SIM-Karte aus der Münztasche seiner Jeans. Der Beamte, der ihn gestern Abend in die Zelle verfrachtet hatte, hatte ihm zwar alle persönlichen Dinge abgenommen, aber beim Abtasten seines Körpers hatte er die winzige Karte nicht bemerkt, und Tom hatte schlichtweg nicht an sie gedacht. Jetzt legte er sie auf die Kante des Schreibtisches und schnippte sie zu Voss hinüber. »Die stammt aus meinem Handy. Sie können damit doch bestimmt ein Bewegungsprofil von mir anstellen, oder? Sie müssen einfach nur nachsehen, wo ich in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag gewesen bin.«

Voss nahm das winzige Ding und starrte es an. Dann starrte sie ihm ein paar Sekunden lang in die Augen, als versuche sie herauszufinden, was sie von ihm halten sollte.

Er zuckte die Achsel. »Ich habe von Anfang an gesagt, ich möchte Ihnen helfen.«

Sie griff zum Telefon. »Ben! Ich habe hier eine SIM-Karte, von der ich so schnell wie möglich wissen muss, wo sie in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag war.« Sie hörte kurz zu. »Ja, danke«, bestätigte sie dann und legte auf. »Er schickt gleich jemanden vorbei, der das Ding abholt.« Erneut wandte sie sich an Tom. »Gut. Gehen wir das Ganze nochmal von vorne durch.«

Tom unterdrückte ein Seufzen. Warum hatte er das kommen sehen?

Nina war gerade dabei, einen SPIEGEL-Artikel über die Gesundheitspartei Deutschlands und ihren Frontmann Volker Ahrens zu lesen, als ihr Handy klingelte. Maren war dran.

»Bist du gerade mit was Wichtigem beschäftigt?«, fragte sie.

Nina klappte das Magazin zu. »Nicht wirklich, warum?« Wenn sie ehrlich mit sich selbst war, hatte sie von dem Artikel kaum etwas kapiert, weil ihre Gedanken immer wieder zu Sylvie – und auch zu Tom – abgeschweift waren.

»Du könntest ins Labor kommen und zusehen, wie wir die Kultur mit den Phagen impfen.«

Als Nina kurz darauf das Labor betrat, war nicht nur Maren da, sondern auch Ethan und zwei seiner Labortechnikerinnen, deren Namen Nina sich nicht gemerkt hatte.

»Danke, dass du Bescheid gesagt hast!« Sie trat zu Maren, die gerade die am Morgen präparierten Agarplatten aus einem der Brutschränke nahm. Ein schwacher Geruch nach Lindenblüten strömte aus dem kühlschrankgroßen Gerät – der typische Geruch von Pseudomonas in Kultur. Nina faszinierte es jedes Mal wieder, dass ein potenziell so gefährlicher Keim so lieblich riechen konnte.

Mit den Platten in der Hand ging Maren zu einer der Clean-Benches, einem speziellen Labortisch mit einer gläsernen Abzugshaube darüber, auf dem es möglich war, die Platten steril zu öffnen.

Nina reckte den Hals und sah, dass die gelbliche Agarsubstanz mit einem dünnen grünlichen Bakterienrasen bewachsen war.

Maren öffnete ein weiteres steriles Gefäß, in dem sie bereits vorher runde Scheiben aus Filterpapier vorbereitet hatte. Mit einer Pinzette legte sie die fingernagelgroßen Papiere auf den Bakterienrasen, griff zu einer Pipette und tropfte ebenfalls vorbereitete Phagenlösung darauf.

Ethan nickte zufrieden. »So«, meinte er. »Jetzt müssen wir nur abwarten, ob die Schätzchen ihren Job machen.«

Er sah zuversichtlich aus, und Nina hoffte, dass der Optimismus, den er ausstrahlte, berechtigt war. Wenn alles gut lief, dachte sie, wenn die Phagen tatsächlich gegen Sylvies Keim wirkten, dann sahen die Platten bald aus wie ein Schweizer Käse – gespickt mit Löchern.

Tom atmete tief durch, als er nach endlosen Stunden endlich das piefige Gebäude des LKA am Tempelhofer Damm verlassen konnte.

Er ging ein Stück in Richtung Süden, bis die tiefstehende Sonne zwischen den Gebäuden auftauchte. Mit geschlossenen Augen genoss er die Wärme auf der Haut und überlegte, was er jetzt machen sollte. Die Nacht in der Zelle und das darauffolgende stundenlange Gespräch mit Voss und Runge hatten sein Nervenkostüm in hauchdünne Fetzen verwandelt, auch wenn er am Ende von dem Vorwurf des Doppel- oder gar Dreifachmordes entlastet worden war. Trotzdem fühlte es sich an, als hätten die beiden Kommissare ihn erfolgreich durch den Fleischwolf gedreht. Er kam sich schmutzig vor und auf seltsame Art und Weise elend. Verunsichert, dachte er. Und voller Schuldgefühl.

Er hasste es, verunsichert zu sein.

Im Grunde wollte er jetzt nur noch in sein eigenes Bett. Er wollte sich die Decke über den Kopf ziehen und eine Weile lang nichts und niemanden mehr sehen …

Mit einem Ruck riss er die Augen wieder auf. Dann suchte er sich eine Telefonzelle und rief Nina an. »Die Polizei hat mich laufen lassen«, war das Erste, was er sagte.

»Tom! Endlich! Geht es dir gut?« Er konnte hören, wie Stuhlbeine über Fliesen schrammten.

»Ja. Ich bin in Ordnung«, log er. »Ich konnte die Polizisten davon überzeugen, dass ich mit den Morden nichts zu tun habe.«

Es dauerte mehrere Sekunden, bis Nina antwortete. »Ich habe es nie geglaubt, Tom.«

Ihm wurde bewusst, dass er die Luft angehalten hatte. »Das ist gut.« Plötzlich war da etwas zwischen ihnen, das er nicht deuten konnte. Er hatte den Drang, zu Nina zu fahren und sie in den Arm zu nehmen. Und gleich darauf spürte er das Bedürfnis, Abstand zu ihr zu halten. »Wo bist du?«

Sie erzählte ihm irgendwas von einem Industriepark und dem Start-up dieses Ethan Myers, von dem Max in Bos Wohnung gesprochen hatte. Und dann erzählte sie ihm, dass Dr. Heinemann ihnen Sylvies Proben geschickt hatte und sie schon dabei waren zu testen, ob die Phagen seiner Tochter helfen würden.

Tom hätte sie küssen können. »Danke.«

»Sei nicht albern!« Er konnte sie atmen hören. »Was ist mit dem Laborjournal?«, erkundigte sie sich.

Er musste sich an eine Hauswand lehnen, weil das Bild der toten Antiquarin vor seinem geistigen Auge aufblitzte. »Ich fürchte, die Polizei hat es beschlagnahmt.«

Nina zog Luft durch die Zähne. »Das ist nicht gut! Zum Glück brauchen wir es aber für Sylvies Therapie im Moment nicht.«

»Kommissarin Voss hat mir versprochen, dass du es wiederbekommst, sobald der Fall gelöst ist.«

»Dann hoffen wir das Beste.« Eine Pause entstand. »Tom?«, fragte Nina dann.

»Ja?«

»Du klingst maximal erschöpft. Warum fährst du nicht nach Hause und ruhst dich aus? Im Moment kannst du hier nichts tun.« Zögern. Wollte sie, dass er widersprach?

Er wusste es nicht, und das verunsicherte ihn zusätzlich. »Ich komme morgen, okay?« Er hatte es nicht sagen wollen, aber als die Worte raus waren, fühlten sie sich richtig an. Er starrte auf seinen Ehering und legte die Hand dann auf den Rücken.

»Okay.« Sie nannte ihm die Adresse und verabschiedete sich. »Pass auf dich auf, Tom!«

Er hielt den Hörer noch volle zehn Sekunden in der Hand, bevor er es schaffte, ihn zurück auf die Gabel zu legen.

Kurz darauf stoppte er ein Taxi. Er nannte dem Mann am Steuer die Adresse seiner Pension, und der Fahrer warf ihm im Rückspiegel einen Blick zu. »Harte Nacht gehabt?«

Tom konnte nicht anders, er musste grinsen. Es fühlte sich an, als habe er urplötzlich den Verstand verloren. »Sie machen sich keine Vorstellung.«

Er war drauf und dran, den Taxifahrer zu bitten, ihn zu seiner Tochter ins Krankenhaus zu fahren, aber als er bemerkte, wie skeptisch der Fahrer seine Erscheinung musterte, entschied er sich dagegen. Er ließ den Taxifahrer bei einem dieser türkischen Telefonläden anhalten, die beinahe rund um die Uhr geöffnet hatten, besorgte sich ein neues Telefon samt Vertrag, und zurück in seinem Zimmer rief er auf der Station seiner Tochter an.

Eine Schwester versicherte ihm, dass es Sylvie den Umständen entsprechend gut ginge und dass sie gerade schlafe. Während er den Worten der Frau lauschte, starrte Tom auf sein eigenes Bett. Der Sehnsucht, sich darauf fallen zu lassen, widerstand er, denn dann wäre er die nächsten Stunden nicht mehr aufgestanden, nicht einmal, um sich Stiefel und die verdreckten Klamotten auszuziehen. Also zwang er sich, ins Bad zu wanken, wo er sich vorsichtig auszog.

Die Prellungen in seinem Gesicht und an den Rippen hatten sich mittlerweile dunkelviolett verfärbt. Vorsichtig betastete Tom eine nach der anderen. Seine Augen waren gerötet und eines fühlte sich unangenehm sandig an. Eine Nachwirkung von Jegors unsanfter Behandlung. Er konnte es nicht verhindern, dass er lachen musste, auch wenn er nicht wusste, wieso. Nachdem er sich vollständig entkleidet hatte, stellte er sich unter die Dusche und ließ heißes Wasser auf sich niederprasseln.

Danach fühlte er sich zwar sauberer, aber immer noch wie durch den Fleischwolf gedreht. Gerade noch schaffte er es, sich abzutrocknen und zum Bett zu stolpern. Der Schlaf, in den er sank, glich einer Ohnmacht.

Als er von innerer Unruhe erfüllt hochschreckte, zeigte ihm ein Blick auf die Uhr, dass er ein paar Stunden geschlafen hatte. Mittlerweile war es dunkel draußen. Was hatte ihn geweckt? Da war das vage Gefühl, dass jemand an die Tür geklopft hatte. Lauschend lag er da und starrte in die Dunkelheit.

Nach ein paar Sekunden klopfte es erneut.

Mit einem Ächzen rollte er sich aus dem Bett. Wer wollte um diese Zeit etwas von ihm? Mit seinem vernebelten Verstand hatte er schon die Hand an der Klinke, bevor ihm bewusst wurde, dass er noch immer völlig nackt war. »Moment!«, brummelte er, zerrte eine Boxershorts und ein T-Shirt aus dem Schrank und streifte beides über.

Als er die Tür einen Spalt breit öffnete, weiteten sich seine Augen.

»Isabelle!«, entfuhr es ihm.

Die Decke über dem Bett in Ethans Gästewohnung bestand aus weißen Paneelen, in die winzige, dimmbare Spots eingelassen waren. Nina hatte die Lämpchen so weit wie möglich heruntergedreht, und nach einer Weile begann sie, Sternbilder in den Lichtpunkten zu sehen. Seufzend legte sie sich auf die Seite und schloss die Augen. Wie viele Stunden versuchte sie jetzt schon zu schlafen?

Sie verzichtete darauf nachzuschauen.

So langsam und tief, wie sie konnte, atmete sie ein. Hielt die Luft an. Atmete wieder aus. Ein. Pause. Aus. Wie immer hielt sie das nur ein paar Minuten lang durch, dann wurde es ihr zu blöd, und das Gedankenkarussell, das sich in ihrem Kopf drehte, nahm wieder Fahrt auf.

Tom hatte wirklich extrem erschöpft geklungen, als er sie vorhin angerufen hatte. Am liebsten hätte sie ihn gefragt, ob sie kommen und sich um ihn kümmern sollte. Aber natürlich hatte sie es nicht getan. Da war schließlich immer noch dieser Ring an seinem Finger … Mit einem unterdrückten Fluch griff sie nun doch nach dem Handy. Das Ladekabel war zu kurz, darum musste sie sich bis an den Rand der Matratze rollen, um einen Blick auf die Uhrzeit zu werfen.

Halb eins.

Seufzend drehte sie sich wieder auf den Rücken. Ihre Gedanken kehrten zu Tom zurück, dann zu Sylvie und zu der Frage, ob es ihnen gelingen würde, das Mädchen zu retten. »Verflixt nochmal!«, murmelte sie und schlug sich gegen die Stirn. Zehn Minuten später schickte sie eine Nachricht an Maren.

Schläfst du?

Offenbar. Im Gegensatz zu der Nacht in Bos Wohnung antwortete Maren diesmal nicht. Ob sie gerade bei Ethan war? So wie Nina ihre Freundin kannte, war das durchaus möglich. Sie dachte daran, wie die beiden ständig die Nähe des anderen suchten, aber auch dieser Gedanke wurde überlagert von der Erinnerung an Toms Augen. Dieser ernste Ausdruck in ihnen, der so gar nicht zu den Scherzen passte, die er ständig machte. Sie verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte gegen die Lichtpunkte an der Decke.

Verdammt!