Samstag.

9

»Alter! Papa!« Sylvies Stimme drang hinter der Sauerstoffmaske hervor. Sie klang entsetzt und gleichzeitig fasziniert. »Wie siehst du denn aus?«

Tom schloss die Zimmertür hinter sich. Weil es schon immer am besten gewirkt hatte, seine Tochter durch Albernheiten abzulenken, machte er einen Buckel und schlurfte wie Quasimodo ein Bein nach sich ziehend auf ihr Bett zu. Der Schatten, der über Sylvies Gesicht huschte, machte ihm klar, dass dies vermutlich nicht der beste aller Scherze gewesen war. Er richtete sich auf und straffte sich. »Sieht schlimmer aus, als es ist.«

»Echt? Kann ich mir irgendwie nicht vorstellen.« Sie blinzelte mehrfach, und er wusste, sie wollte nicht, dass er die Tränen in ihren Augen sah. Sie war schrecklich bleich. »Dr. Heinemann hat mir erzählt, dass du unterwegs bist, weil du vielleicht eine neue Heilmethode für mich gefunden hast?«

Das klang, als sei er auf der Jagd nach einem seiner exotischen Lebensmittel, dachte er. Er nickte und klammerte sich an die Plastiktüte, die er in Händen hielt. Und an die Hoffnung, dass Nina und die anderen erfolgreich sein würden.

»Bist du dabei so verletzt worden?«, fragte Sylvie.

Was sollte er darauf antworten? Er zuckte mit den Schultern, und da lächelte sie wehmütig.

»Mein Papa, der Superhero! Ich kann echt nicht verstehen, warum Mama das nicht sieht.«

Statt darauf zu reagieren, zog er sich einen Stuhl ans Bett, setzte sich aber noch nicht. Er wollte jetzt nicht über seine kaputte Ehe reden und schon gar nicht darüber, wie sehr Sylvie hoffte, dass er und Isabelle wieder zusammenkommen würden. »Superhelden taugen nicht besonders gut zum Familienvater«, sagte er so leichthin wie möglich.

»Du bist ein toller Vater, Paps!« Das Kompliment klang in seinen Ohren beängstigend, und darum zog er mit einem Lächeln das neueste Buch ihrer derzeitigen Lieblingsreihe aus der Plastiktüte und legte es auf den Nachttisch. Er hatte den Band eigens heute Morgen besorgt und die Plastikfolie, in die es eingeschweißt war, draußen auf dem Flur sorgfältig desinfiziert.

Sylvie betrachtete das Cover. »Danke!« Sie bemühte sich, begeistert zu wirken, aber es gelang ihr nicht so recht.

»Magst du die Reihe etwa nicht mehr?« Sein hellblauer Kittel knisterte, als er sich setzte.

»Doch! Doch, es ist nur …« Sie presste die fahlen Lippen aufeinander. »Es ist nur so, dass ich mich kaum noch aufs Lesen konzentrieren kann«, sagte sie leise. Es fuhr ihm schmerzhaft durch die Brust, doch bevor er wieder Luft bekam, meinte sie: »Es wäre schön, wenn du mir was vorlesen könntest.«

Mit wundem Herzen nahm er das Buch zur Hand und schlug es auf. »Erstes Kapitel«, las er und musste sich räuspern, bevor er weitersprechen konnte.

Sylvie schloss die Augen. Ein fernes Lächeln glitt über ihre Lippen. »Mama hat mir die letzten Tage auch immer vorgelesen.«

Tom krampfte die Hände um die Seiten des Buches. Natürlich. Seine Frau hatte hier genauso verzweifelt gesessen wie er in diesem Moment. Er dachte an die vergangene Nacht, als Isabelle vor seiner Zimmertür gestanden und er sie angestarrt hatte. Daran, wie er hervorgestoßen hatte: »Woher weißt du, wo ich wohne?«

Sie hatte ganz kurz gelächelt, aber dann war das Lächeln einem Ausdruck von Schrecken gewichen. »Oh Gott, Tom!«, stieß sie hervor. »Wie siehst du aus?«

Er ließ sie ein, sie betrat das Zimmer und wandte sich zu ihm um. Sie wollte die Platzwunde in seinem Gesicht berühren, aber er drehte den Kopf zur Seite, und sie zuckte zurück, als habe er nach ihrer Hand geschlagen. »Die Polizei hat mir verraten, dass du in einer Pension wohnst. Na ja, und da ich weiß, welche Art von Etablissement du bevorzugst, habe ich einfach der Reihe nach ein paar angerufen und nach dir gefragt.«

»Okay«, sagte er gedehnt. Es fiel ihm schwer zu atmen. Die Mühe, die sie sich seinetwegen machte, berührte etwas in ihm. Darum gab er auch nach, als sie darauf bestand, ihn in eine Notaufnahme zu fahren und bei ihm zu bleiben, bis alle Untersuchungen abgeschlossen waren. Bis ein Arzt erklärt hatte, keine von Toms Verletzungen würde bleibende Schäden hinterlassen und auch die leichte Hornhautverletzung, die ihm die Prügel der Russen beschert hatte, würde wieder heilen. Zurück in der Pension, zu der Isabelle ihn zu allem Überfluss dann auch noch zurückfuhr, standen sie sich ein paar äußerst unbehagliche Sekunden lang gegenüber und sahen sich in die Augen. Und dann war es einfach passiert. Isabelle hatte ihn geküsst. Er hatte sie mit einem gierigen Ruck an sich gezogen, sie gegen die Wand gepresst und … von diesem Moment an erinnerte er sich nur noch an den Geruch von Isabelles Parfüm, an das Gefühl ihrer Haut unter seinen Händen, ihr Haar, das durch seine Finger rann … der Schweiß zwischen ihren Brüsten … Die vertraute Wärme ihres Körpers an seiner Seite, die die Albträume ferngehalten hatte …

»He, warum liest du gar nicht mehr?« Sylvies schläfrige Stimme ließ die Bilder zerstieben.

Er kehrte aus seinen Erinnerungen zurück in das Krankenzimmer, senkte den Blick auf das Buch und konzentrierte sich auf die Geschichte. Schon kurz darauf jedoch war Sylvie eingeschlafen, und er wachte an ihrem Bett, bis Isabelle kam. Die Begrüßung zwischen ihnen war kurz und so voller Befangenheit, dass Tom beinahe froh war, als seine Frau ihn bat zu gehen. Er verließ das Krankenhaus, schwang sich auf seine Crossmaschine und machte sich auf den Weg zu dem Start-up, dessen Adresse Nina ihm gestern Abend gegeben hatte. Als er vor dessen stylischen Empfangstresen trat, musste er der jungen Frau dahinter nicht sagen, zu wem er wollte, denn zufällig kam Nina genau in dieser Sekunde aus einem der Räume.

Als sie ihn sah, wurde sie blass. »Tom! Um Himmels willen!« Sie trat vor ihn hin, streckte die Hand nach seiner Wange aus, und anders als bei Isabelle drehte er bei ihr den Kopf nicht weg. Ein feines Kribbeln ging von ihren Fingerspitzen aus, als sie ihn berührte. »Haben die Russen dir das angetan?« Ihre Pupillen waren dunkel und so weit, dass er fürchtete hineinzustürzen.

»Sieht schlimmer aus, als es ist.« Seine Mundwinkel weigerten sich zu lächeln. Genau das Gleiche hatte er vorhin auch zu Sylvie gesagt.

»Red keinen Unsinn!« Nina wollte etwas hinzufügen, aber sie überlegte es sich anders. Sie schüttelte ihre Betroffenheit ab, und dahinter blitzte Eifer auf. »Komm!«, meinte sie. »Wir sind gerade dabei nachzusehen, ob die Phagen wirken!« Sie packte ihn am Arm und zog ihn zu einem der Labore, wo sie einen Laborkittel vom Haken nahm und Tom bat, ihn überzuziehen. Anschließend führte sie ihn in das Labor. Die Luft, die ihn umfing, war kühl und roch nach irgendwas Gekochtem. Kurz hatte Tom die Assoziation von Fleischbrühe. Lange Reihen gefliester Labortische teilten den Raum. Mehrere große Kühlschränke mit gläsernen Fronten flankierten die Tische. Ein Gerät summte in einem hohen Ton vor sich hin.

An einem der Labortische standen eine Frau, unter deren Kittel ein Kostüm hervorschaute, und ein sportlich wirkender blonder Mann, dessen gepflegter Vollbart rötlich schimmerte. Die Frau war dabei, mehrere übereinandergestapelte flache Schalen mit durchsichtigen Deckeln zu begutachten. Auf ihren Lippen lag ein zufriedenes Lächeln.

Als Tom und Nina sich näherten, stellte sie die Schale, die sie gerade in der Hand hatte, auf dem Labortisch ab. »Das sieht alles sehr gut aus, Nina!«

»Wirklich?« Nina strahlte.

Tom reckte den Hals. Der grüne Belag in den Dingern sah aus wie Götterspeise in der Farbe von Limettensorbet. Kleine, runde Papierstücke lagen darauf, und um sie herum hatten sich in dem Belag durchsichtige Kreise gebildet.

Nina zeigte darauf. »Das Grüne ist Sylvies Pseudomonas, auf dem Filterpapier befindet sich der Phagencocktail, mit dem wir die Kultur geimpft haben. Überall, wo du diese hellen Kreise siehst, haben die Phagen den Keim lysiert.« Sie bemerkte seine Irritation und ergänzte: »Das bedeutet, die Phagen zerstören die Bakterien.«

Hoffnung schoss Tom durch den Körper. »Heißt das …«

»Dass die Phagen gegen Sylvies Erregerstamm wirken, ja!« Ninas Augen leuchteten sehr viel intensiver, als er es für möglich gehalten hätte.

»Das sind gute Neuigkeiten«, murmelte er und fühlte sonderbarerweise auf einmal gar nichts mehr außer großer Betäubung.

Nina lachte auf. »Und was für gute Neuigkeiten!«

»Lasst uns realistisch bleiben!«, mahnte der bärtige Mann. »Das ist erst der Anfang. Wir haben noch viel zu tun.« Er wandte sich an Tom. »Sie müssen unser strahlender Held sein!« Er wirkte frisch und voller Energie, geradeso, als habe er sich kurz zuvor an einer Steckdose aufgeladen. Tom fand ihn unsympathisch. Ihn störte das Generöse in der Haltung des Mannes, seine selbstbewusste Herablassung, das strahlende, aber irgendwie aufgesetzt wirkende Lächeln.

»Zu viel der Ehre.« Er ergriff die ausgestreckte Hand des Mannes und erwiderte den eine Spur zu kräftigen Händedruck. »Tom Morell.«

»Ich weiß. Ethan Myers. Der Eigentümer all dieser kleinen, hm, Spielsachen hier.« Er umschrieb das Labor und alles andere mit einer weit ausgreifenden Armbewegung.

Tom konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Geste auch die Frauen mit einschloss. »YouGen«, sagte er.

Myers grinste breit. »Ja. Ich wollte die Firma eigentlich MyGen nennen, Sie verstehen schon, wegen Myers, aber dann dachte ich mir, wir forschen hier ja nicht für mich, sondern für die Menschen.«

Klar, dachte Tom. Immer schön bescheiden bleiben. Genau so siehst du aus! Aber weil hier vor ihm der Mann stand, der dabei mithalf, seiner Tochter das Leben zu retten, verbiss er sich eine spöttische Bemerkung und wandte sich der Frau im Kostüm zu. Auch sie reichte ihm die Hand. »Ich bin froh, dass es Ihnen gutgeht«, sagte sie. Er erkannte sie an der Stimme – und an der Platzwunde an ihrer Stirn, die man dreifach geklammert hatte.

»Dr. Conrad, oder?«, fragte er so überrascht, dass sie auflachte.

»So, wie Sie gucken, haben Sie nicht geglaubt, dass ich wirklich kommen würde.«

Er grinste schwach. »Ertappt!«

Bevor er es verhindern konnte, tätschelte sie seine Wange. »Glauben Sie mir: Selbst wenn Sie Nina nicht das Leben gerettet hätten, würde ich mich darum reißen, bei dieser Sache dabei zu sein. Wenn es uns nämlich gelingt, Ihre Tochter zu heilen – und die lysierten Bakterienrasen in diesen Schalen deuten darauf hin, dass uns das gelingen könnte –, dann ist es genau das, was Dr. Anasias gewollt hätte.« Sie war nicht ein bisschen peinlich berührt, dass er vor ihrer Berührung zurückgezuckt war. Sie tat einfach so, als sei es nie geschehen.

Tom wusste nicht, was er erwidern sollte, also sagte er: »Danke.« Und dann, nach einer kurzen, unbehaglichen Pause: »Wie geht es nun weiter?«

»Wir müssen noch ein paar Tests machen«, erklärte Maren. »Und wir experimentieren parallel schon mit der Aufreinigung der Phagen.«

»Aufreinigung?«

»Ja, damit wir Sylvie die Phagen intravenös verabreichen können, muss der Endotoxin-Level runter, sonst riskieren wir, dass Ihre Tochter mit einem septischen Schock reagiert.«

Tom war schon drauf und dran, erneut nachzufragen, wovon Maren sprach, aber Nina kam ihm zuvor. »So schlecht, wie es Sylvie zurzeit geht, müssen wir ihr die Phagen intravenös verabreichen, wenn sie wirken sollen. Intravenöse Phagen sind so was wie ein Heiliger Gral der Medizin, aber ihre Herstellung ist aufwändig und kostet Zeit.«

»Wieso?«, fragte Tom.

Nina lächelte. »Weißt du noch, was ich dir in der U-Bahn erzählt habe? Über Phagen und dass sie wie Viren agieren?«

Er nickte. »Phagen kapern Bakterien und manipulieren sie, sodass sie in ihrem Inneren so lange neue Phagen bauen, bis sie platzen.«

»Genau. Und wenn die Bakterien platzen, hinterlassen sie einen Haufen Müll: tote Zellwand-Bestandteile. Um die Phagen in hoher Dosis herzustellen, haben wir sie zusammen mit verschiedenen Pseudomonas-Stämmen in unseren Fermentern angesetzt.« Sie deutete auf einige silberne Säulen im Nachbarraum, die durch eine offen stehende Tür zu sehen waren und die in Toms Augen aussahen wie kleine Raketen. »Pseudomonas dient in diesen Fermentern also quasi als Futter für die Phagen. Das ist natürlich nur im übertragenen Sinne gemeint. Jedenfalls schwimmt in der Lösung außer unseren benötigten Phagen auch ein Haufen Zellmüll.«

»Die Endotoxine«, warf Tom ein.

»Genau. Die wollen wir natürlich Sylvie nicht mit spritzen, darum müssen wir sie erst aus der Lösung entfernen, und das dauert, weil wir nach den Arzneimittelvorgaben der Zulassungsbehörden vorgehen müssen.«

»Verstehe. Und wie lange genau wird das dauern?«

An dieser Stelle zögerte Nina, darum gab ihm Ethan die Antwort: »Im Grunde weiß keiner genau, wie rein die Phagen wirklich sein müssen, um intravenös verabreicht zu werden. Je höher der Reinheitsgrad, desto besser natürlich! Better safe than sorry or dead!« Er sah Tom direkt in die Augen bei dem letzten Satz.

Tom kam um eine Antwort herum, weil Ninas Handy klingelte.

Nina verspürte eine seltsame Erleichterung, dass sie das Labor kurz verlassen konnte, um den Anruf anzunehmen. Der Anblick von Toms Blessuren hatte sie stärker mitgenommen, als sie sich eingestehen wollte. Und die Tatsache, dass keiner von ihnen wusste, ob sie mit der Aufreinigung der Phagen schnell genug sein würden, um Sylvie wirklich das Leben zu retten, fühlte sich an wie ein Stachel in ihrem Herzen. Es war ein nahezu unerträglicher Gedanke, dass sie Sylvie vielleicht doch noch verloren, obwohl sie mit Georgys Phagencocktail das Mittel in der Hand hielten, um sie zu retten.

»Falkenberg!«, meldete sie sich.

»Frau Dr. Falkenberg, hier ist Kommissarin Tina Voss. Wo sind Sie gerade?«

Nina hob den Blick und schaute direkt auf das Bedard-Gemälde mit den Politikerköpfen hinter dem Empfangstresen. »In einem Labor«, antwortete sie ohne zu zögern. »YouGen. Warum?«

Kommissarin Voss schwieg einen Augenblick lang. »Ich würde gern noch einmal mit Ihnen sprechen. Um ehrlich zu sein: Ich könnte Ihre Expertise gebrauchen. Gibt es eine Möglichkeit, einen Videocall zu machen? Ich muss Ihnen was zeigen.«

»Natürlich.«

Gleich darauf saß Nina in einem Besprechungsraum vor ihrem Notebook, auf dem das Gesicht der Kommissarin zu sehen war. Voss hielt ihr zwei Laborberichte vor die Kamera, bei denen sie die Fallnummer und Namen abgedeckt hatte, sodass Nina nur die reinen wissenschaftlichen Fakten lesen konnte. Sie studierte beide Berichte. »Der eine besagt, dass die Proben, die untersucht wurden, mit Listerien verseucht waren. Bei dem anderen sind es Salmonellen.«

»Salmonellen sind weniger gesundheitsgefährdend als Listerien, oder?«

Diesmal hatte Nina den Eindruck, dass die Kommissarin sie testete. Hatte sie deshalb einen Videocall vorgeschlagen? »Es geht um die Anschläge in den beiden Altenheimen, nicht wahr?«, sagte sie Voss auf den Kopf zu.

»Ja.« Voss seufzte. »Also gut. Was wir uns fragen, ist: Warum verwendet der Attentäter bei seinem ersten Anschlag potenziell gefährlichere Erreger als beim zweiten? Gewöhnlich gehen Terroristen so vor, dass ihre Taten immer schlimmer werden, um die maximale Wirkung zu erzielen.«

»Darf ich die Berichte nochmal sehen?«

»Natürlich.« Voss hielt die beiden Blätter erneut in die Kamera.

Nina betrachtete beide jetzt genauer. »Er hat zuerst die Listerien eingesetzt?«

»Ja. Wir fragen uns, warum so harmloses Zeug und nicht Ebola oder so.«

»Oh«, meinte Nina. »So harmlos, wie Sie denken, sind die beiden Erreger nicht. Beide Bakterienstämme zeigen Multiresistenzen gegen die gängigen Antibiotika. Und was Ihre Eskalation angeht: Ihr Attentäter hat den zweiten Anschlag tatsächlich mit einem gefährlicheren Stoff durchgeführt, weil Salmonellen zu der Gruppe der gramnegativen Erreger gehören.«

»Ja, das habe ich gelesen. Können Sie mir erklären, was das genau bedeutet?«

Nina nickte. »Natürlich. Bakterien unterscheiden sich in grampositive und gramnegative. Erinnern Sie sich? Wir haben schon einmal kurz darüber gesprochen. Sie müssen sich das so vorstellen: Bei der Analyse im Labor werden die Bakterien mit der sogenannten Gram-Färbung blau eingefärbt, damit man sie unter dem Mikroskop besser untersuchen kann. Vereinfacht gesagt: Je nach Aufbau der Zellwände lassen sich Bakterien besser oder schlechter einfärben. Die, die sich gut blau färben lassen, nennt man grampositiv, die, die die Farbe nur schlecht annehmen, gramnegativ. Sie erscheinen unter dem Mikroskop rötlich. Das Ergebnis ist wichtig, um die Wirksamkeit von Antibiotika einzuschätzen. Die Zellwände von grampositiven Bakterien sind gut durchlässig für Antibiotika. Gramnegative Bakterien sind sehr schwer zu bekämpfen, da ihre Zellwand so anders aufgebaut ist – dagegen gibt es also viel weniger verfügbare Antibiotika als gegen grampositive.«

»Aha.« Voss brauchte einen Moment, um die Informationen für sich zu sortieren. »Das heißt also, Prometheus hat sich doch gesteigert in der Wahl seiner Waffen?«

»Ja. Er hat sich von noch gut bekämpfbaren resistenten Bakterien zu einem multiresistenten gramnegativen Erreger gesteigert.« Nina fröstelte, während sie das sagte.

Voss sah sie schweigend an, und auf einmal war Ninas Eindruck, sie würde hier auf den Prüfstand gestellt, völlig weg. Offenbar hatte sie gerade wirklich irgendeinen Test bestanden. »Wenn Sie einen Tipp abgeben müssten«, fragte Voss, »was, glauben Sie dann, ist der nächste Schritt von Prometheus?«

»Ich habe keine Ahnung. Ein Erreger vielleicht, gegen den wir nichts mehr in der Hand haben, also ein pan-resistentes Pathogen?«

Diesmal war es Voss, die schauderte. »Es scheint ihm aber wohl nicht primär um das Töten zu gehen«, sagte sie. »Ich habe mich erkundigt: Nach dem Anschlag in St. Anton mussten zwei der Bewohner auf die Intensivstation, aber es ist gelungen, sie zu retten. Und die Salmonellen in dem zweiten Altersheim hat er nicht eingesetzt, sondern sie uns nur provokant oben auf einen Wasserspender gelegt.«

»Klingt, als wolle er Ihnen zeigen, dass er töten könnte

»Das ist auch unsere Vermutung.«

»Multiresistente Salmonellen sind keine Allerweltsware, die man im Kaufhaus kriegt«, sagte Nina. »Wenn Sie mich fragen, weist das auf jemanden hin, der im Forschungsumfeld unterwegs ist und mikrobiologische Expertise hat.«

»Was für eine Ausrüstung braucht man, um dieses Zeug in ausreichender Menge herzustellen?«

»Ein gut ausgerüstetes Labor der Sicherheitsstufe zwei. Dann Clean-Benches, das sind Labortische, an denen man unter sterilen Bedingungen arbeiten kann, Mikroskope, Brutschränke, Kulturmedien für die Anzucht …« Ninas Stimme verebbte. Während sie die Dinge aufzählte, starrte sie gegen die Wand des Besprechungsraumes, und ihr wurde bewusst, dass sich direkt dahinter – in den Laboren von YouGen – all die Dinge befanden, von denen sie hier gerade sprach.

»Hey!« Ben Schneider steckte einen leicht verstrubbelten Kopf durch den Spalt der Bürotür. »Hab ich mir doch gedacht, dass du kein Wochenende machst. Hast du mal ’ne Minute?« Er wedelte mit dem Ausdruck eines Fotos, das einen blonden Mann mit rötlichem Bart, Surferblick und unnatürlich weißem Lächeln zeigte.

»Klar«, sagte Voss nicht besonders enthusiastisch. Sie stand vor der Wand mit den Fotos und Ermittlungsergebnissen des Prometheus-Falles und starrte schon seit einer Weile diesem Jegor in die unheimlichen Augen. Das Gespräch mit Dr. Falkenberg soeben hatte ihr Magenschmerzen bereitet. Die Vorstellung, dass Prometheus da draußen hockte und seinen nächsten Schritt mit einem weiteren resistenten Zeug plante, war unheimlich. Was, wenn er sich entschied, das richtig gefährliche Zeug auszupacken und einzusetzen?

Ein pan-resistentes Pathogen, hatte Frau Falkenberg gesagt …

»Ui. Du sprühst ja vor Begeisterung.« Ben betrat den Raum und strahlte dabei so sehr, dass Voss die Nase rümpfte.

»Hör auf, so ekelig energiegeladen zu sein, und sag lieber, wer der Typ auf deinem Foto ist!«

»Wie wäre es mit einem Verdächtigen?« Er gab ihr das Foto, stellte sich breitbeinig hin und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Echt? Wer? Warum?« Sie wandte sich von Jegor ab und starrte stattdessen dem Mann auf Bens Bild in das lachende Gesicht.

Ben grinste. »Ich habe mal ein bisschen recherchiert, was man braucht, um diese beiden Bakterienkulturen herzustellen. Neben mikrobiologischem Expertenwissen ist das vor allem die Möglichkeit, an solch gefährliches Zeug ranzukommen.«

Genau das Gleiche hatte eben auch Dr. Falkenberg gesagt, dachte Voss. Vor ihrem Anruf hatte sie die Frau auf Herz und Nieren durchleuchtet und keinerlei Hinweise darauf gefunden, dass sie irgendwie mit Prometheus zusammenhing. Aber trotzdem hatte sie Nina Falkenberg ins Gesicht sehen wollen, während sie mit ihr sprach. Und während sie das getan hatte, war sie von Sekunde zu Sekunde sicherer gewesen, dass sie ihrem Gefühl vertrauen konnte: Diese Frau hatte nichts mit Prometheus zu tun. Zufrieden hörte Voss zu, was Ben zu sagen hatte.

»Die Spezialisten vom Labor meinen, wir suchen jemanden, der ein Studium der Mikrobiologie oder Biochemie hat. Und Zugang zu einem Sicherheitslabor mit der entsprechenden Ausrüstung.« An dieser Stelle reckte er den kleinen Finger in die Höhe. »Das wären die Mittel, diese Anschläge zu begehen.« Er klappte den Ringfinger neben dem kleinen hoch. »Das Motiv ist klar, weil es aus unserem Bekennervideo hervorgeht: Wir haben es mit ganz klarem Ökoterrorismus zu tun. Ich habe mir also das Ding nochmal angesehen und es auf Tonfall und Wortwahl untersucht, dabei hat sich rausgestellt, dass beides mit dem Duktus korrespondiert, den die Pandemic Fighters gewöhnlich haben.«

»Prometheus stammt aus den Reihen der Fighters«, murmelte Voss. Dieser Gedanke lag nahe, und natürlich war er ihr auch schon gekommen. »Aber damit laufen wir direkt vor eine Wand, schließlich sind die Fighters eine Riesenorganisation.«

»Stimmt. Darum habe ich mich auf Punkt drei aus dem Handbuch des kleinen Ermittlers konzentriert. Die Gelegenheit.« Er klappte kleinen und Ringfinger wieder ein und stieß stattdessen den Zeigefinger wie ein Ausrufezeichen in die Luft. »Erst dachte ich, das bringt nichts, schließlich kann jeder einigermaßen unbehelligt in ein Altersheim marschieren und da sogar in die Küche, wie unser guter Jegor ja eindrucksvoll bewiesen hat. Aber einen Punkt habe ich dann doch gefunden, an dem ich ansetzen konnte. Die Botschaft, die Prometheus in der Hochisolierabteilung der Charité hinterlassen hat.«

Dieser erste A4-Zettel, dachte Voss, der am Anfang dafür gesorgt hatte, dass die Polizei in dieser Sache überhaupt ermittelte. Gespannt wartete sie, wie es nun weiterging.

»Ich habe einen kleinen Algorithmus geschrieben, der einen Abgleich verschiedener Datenbanken und Adresspools macht. Das war ein bisschen kompliziert, weil Biowissenschaftler offenbar keine eigene unabhängige Interessenvertretung haben und es mehrere Berufsverbände gibt, in denen sie sich organisieren können. Aber letztendlich war es kein allzu großes Problem, deren Mitgliederverzeichnisse abzugleichen mit den Namen von Leuten, die in der letzten Zeit für die Fighters in die Öffentlichkeit getreten sind. Das wiederum habe ich – Tusch, bitte! – abgeglichen mit jenen Personen, die in den letzten Wochen irgendwie Zutritt zur Hochisolierstation der Charité hatten.«

Je länger Ben redete, umso kribbeliger wurde Voss. Sie wandte sich jetzt endgültig von ihrer Fallwand und dem Foto Jegors ab. »Und? Wie viele Namen hast du bekommen?«

»Einen.« Er deutete auf das Foto in ihrer Hand.

Voss spürte, wie sich ein Grinsen nun auch auf ihrem Gesicht ausbreitete. »Wie heißt der Typ?« Sie konnte die Ungeduld in ihrer Stimme hören.

»Ethan Myers«, sagte Ben. »Er leitet eine Biotech-Firma hier in Berlin.«

Nachdem Ben ihr den Namen genannt hatte, folgte Voss ihm in sein Reich. In seine Höhle, dachte sie, als sie sich in dem weitläufigen Kellerraum umsah, in dem Bens technische Abteilung residierte. Alles war mit Regalen vollgestellt, in denen sich elektronische Geräte, Kabel und Anschlüsse aller Arten knäuelten. Mehrere leistungsstarke Rechner liefen, und an zweien davon arbeiteten Männer, die nicht einmal aufsahen, als Voss sie grüßte.

In der Luft lag der süße, aber künstliche Geruch von Kirschen, und Voss wusste nicht, ob er von dem Energydrink kam, den einer von Bens Kollegen trank, oder aus der Teetasse auf Bens Schreibtisch.

Ben warf sich auf einen ausladenden Gamingstuhl und tickte die Maus neben seiner Tastatur an. Zwei Monitore, beide zusammen ungefähr so groß wie die Grundfläche von Voss’ Badezimmer, erwachten zum Leben. Auf dem rechten erschien das Foto, das Voss schon kannte: Ethan Myers, blond, vollbärtig, strahlend.

»Da haben wir ihn«, murmelte Ben. Mit dem Fuß schob er Voss einen Stuhl zu, wartete, bis sie sich gesetzt hatte, und begann dann zu referieren: »Ethan Myers, Inhaber eines 2016 gegründeten Biotech-Start-ups namens YouGen. Geboren 1981 in Dallas als Sohn eines Immobilienmaklers und einer deutschstämmigen Labortechnikerin. Mit seiner Mutter im Alter von acht Jahren nach Deutschland gekommen, als die Eltern sich scheiden ließen. Mittelmäßiger Schüler. Den Informationen auf der YouGen-Website zufolge hat er sein Faible für die Mikrobiologie erst spät entdeckt, es dann aber innerhalb von wenigen Jahren zu wahrer Genialität auf diesem Sektor gebracht.«

Voss beugte sich vor, um mitzulesen. »Was genau machen sie bei YouGen?«

»Hauptsächlich hochinnovative Antibiotikaforschung, Zeug, das seltsamerweise nicht viel einbringt, weswegen ein gewisser Frederic von Zeven offenbar eine Menge Geld in seine Firma gepumpt hat. Wenn ich diesen ganzen Biotech-Kram richtig verstanden habe, ist YouGen spezialisiert auf die gentechnische Veränderung von Mikroorganismen, macht aber auch Laboruntersuchungen für mehrere Krankenhäuser in der Stadt.«

»Er hätte also wirklich die Mittel und das Know-how für die Anschläge.«

»Definitiv!« Ben holte ein anderes Fenster in den Vordergrund. Es zeigte mehrere Zeitungsausschnitte und Internetartikel. Auf jedem war Myers Gesicht zu sehen. »Das sind alles Berichte darüber, wie Myers sich für die Pandemic Fighters einsetzt. Wenn man seiner Geschichte Glauben schenken kann, dann hat von Zeven ihn noch auf der Uni entdeckt und sein Potenzial erkannt und gefördert.«

»Von Zeven, das ist dieser Großindustrielle, der eine Tochter verloren hat und danach zum Philanthropen wurde, oder?«

»Genau. Emma von Zeven ist im Alter von neun Jahren an den Folgen einer Infektion mit einem MRSA-Keim gestorben. Danach hat ihr Vater große Teile seines Vermögens in die Erforschung von Strategien gegen Antibiotikaresistenzen gesteckt.«

»Könnte von Zeven selbst Prometheus sein?«

»Er hat keinerlei naturwissenschaftliche oder medizinische Expertise. Möglich natürlich, dass er der Finanzier des Ganzen ist, das musst du rausfinden. Dürfte aber vermutlich nicht einfach sein, an den Kerl ranzukommen. Er ist extrem gut vernetzt in die allerhöchsten politischen und wirtschaftlichen Kreise. Der hetzt dir ein Dutzend Anwälte auf den Hals, wenn du auch nur in seiner Nähe auftauchst.«

Voss rümpfte die Nase. Wie sie solche Typen hasste! »Konzentrieren wir uns erstmal auf Myers. Was muss ich noch über den Typen wissen?«

»Ich konnte einige Verbindungen zwischen ihm und Max Seifert finden. Offenbar kennen die beiden sich gut.«

»Okay.« Im Grunde hatte sie damit mehr, als sie brauchte, um diesem Myers einen Besuch abzustatten. Sie stand auf. »Danke!«

»Ich schicke dir alles, was ich habe«, versprach Ben.

Voss bedankte sich erneut. »Passt auf, dass ihr nicht quadratische Augen kriegt, Jungs!«, riet sie den beiden anderen Computerspezialisten. Nur einer von ihnen reagierte überhaupt darauf. Ohne den Blick von seiner Arbeit abzuwenden, zeigte er Voss den Mittelfinger.

Lachend verließ sie Bens Höhle. Auf dem Weg zurück in ihr Büro klingelte ihr Handy.

Runge war dran. »Morells SIM-Karte hat uns tatsächlich zu einem Gewerbegebiet geführt. Leider keine Spur von unserem Jegor, dafür haben die Kollegen von der Streife eine Leiche gefunden.«

Obwohl die Sonne durch die Fenster des Abbruchhauses fiel, hatten die Tatortermittler starke Lampen aufgestellt, die die Szene beleuchteten. Das Licht ließ das Blut auf dem Boden unecht und grell aussehen und alle anderen Farben ringsherum fahl. Die Gegenstände warfen scharf konturierte schwarz-weiße Schatten. Fast wie in einem Frank-Miller-Comic, dachte Voss.

Der metallische Geruch in der Luft prickelte auf ihrer Zunge wie Batteriesäure. Sie schluckte mehrmals, während sie erst den Toten betrachtete und mit dem Blick dann der breiten Schleifspur folgte, die aus diesem Zimmer hinaus und rüber in ein anderes führte.

»Sie haben die Leiche von einem Raum in einen anderen gezogen«, erklärte einer der Tatortermittler. »Warum auch immer.«

»Genau wie Morell ausgesagt hat«, murmelte Runge. Er stand neben Voss und betrachtete den Tatort mit zusammengekniffenen Augen.

Alles war so, wie Morell es ihnen erzählt hatte, korrigierte Voss in Gedanken. Jedes einzelne Detail. »Demnach ist das also hier Victor.« Sie kniete sich neben den Toten und blickte ihm ins Gesicht. Der Mann war durchschnittlich groß und schwer gewesen. Seine Haut sah aus wie Wachs. »Was glaubst du, warum die ihn erschossen haben?«

Runge zuckte mit den Schultern. »Morell meint, dass sie sich über die Vorgehensweise nicht einig waren. Der Typ, den er Jegor genannt hat, scheint beschlossen zu haben, den Platz als Anführer zu übernehmen.«

»Victor«, murmelte Voss. Der leere Blick des Toten war auf etwas gerichtet, das sie lieber nicht ergründen wollte. Mit einer federnden Bewegung stand sie auf.

Ein Mann von der Rechtsmedizin, der zurückgewichen war, als Voss und Runge den Tatort betreten hatten, räusperte sich vernehmlich. »Kann ich weitermachen?«

»Todeszeitpunkt?«, fragte Runge.

»Soweit ich es bis hierhin sagen kann, vor mindestens zwei Tagen. Aber das ist nur eine grobe Schätzung, die auf dem Grad der beginnenden Verwesung basiert.«

Zwei Tage. Auch das schien mit Morells Aussagen übereinzustimmen. Voss unterdrückte ein Seufzen.

»Sehen wir uns den Wagen an?«, fragte Runge.

Eine Minute später standen sie Seite an Seite im Innenhof des Gewerbegebietes, wo ein dunkelroter Van unter den ausladenden Ästen einer alten Linde geparkt stand. Auch hier waren bereits die Kollegen vom Erkennungsdienst dabei, Fotos zu machen und Spuren zu sichern.

Eine ganz in einen weißen Schutzanzug gehüllte Frau trat vor sie hin. »Wir haben Blut auf der Ladefläche gefunden.«

Runge bedankte sich für die Information und hörte sich an, was die Ermittlerin noch zu sagen hatte, während Voss sich den Wagen genauer ansah. Es war eindeutig jener, den sie auf dem Video der Dashcam gesehen hatten. Also gehörte das Blut darin vermutlich Morell. Sie würden ihn um eine DNA-Probe zum Abgleich bitten müssen.

»Dass sie den Wagen hier stehen gelassen haben, bedeutet das, dass sie jetzt mit einem anderen unterwegs sind?«, fragte Runge.

Vermutlich, dachte Voss. Sie wandte sich an den Kollegen von der Streife, der als Erster am Leichenfundort gewesen war. Es war ein gestandener Polizist in den Fünfzigern, den Voss schon bei früheren Fällen ab und an getroffen hatte. Sein Name war Stefan Zweig, das wusste sie noch, weil er sich ihr damals mit den Worten »Sie verstehen schon? Schachnovelle?« vorgestellt hatte.

»Schon klar«, hatte sie erwidert. Jetzt wandte sie sich an den Mann. »Haben wir irgendwelche Zeugen? Ein Nachbar, der vielleicht in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag etwas Ungewöhnliches gesehen oder gehört hat?«

Zweig schüttelte den Kopf. »Hier in der Gegend wohnt niemand – abgesehen vielleicht von Ratten und ein paar Hasen.« Er schnaufte. Seine Gesichtsfarbe sah nach nahendem Herzinfarkt aus. »Aber wir haben die Aussage eines Obdachlosen. Der Mann hat ausgesagt, dass die Typen, die mit dem Van gekommen sind, noch einen anderen Wagen hatten, so einen dunkelblauen BMW, offenbar allerneuestes Modell. Das Kennzeichen lautet, Moment …« Er zog einen Zettel aus der Uniformtasche und las ein Berliner Kennzeichen davon ab.

Vielleicht half ihnen das ja weiter. »Geben Sie den Wagen zur Fahndung raus!«, befahl Voss.

Gelangweilt warf Misha den Kopf gegen die Nackenstütze des gestohlenen BMW und fluchte leise vor sich hin. Über den leeren Beifahrersitz hinweg starrte er auf das Gebäude der Tankstelle in der Nähe des Schönefelder Sees, die Jegor angesteuert hatte.

Wie lange war der Kerl jetzt schon in diesem elenden Laden? So lange konnte es doch nicht dauern, pinkeln zu gehen!

»Mann!«, murmelte Misha, umklammerte das Lenkrad und rüttelte daran. »Mach hin, Alter!«

Immer wieder zog es seine Gedanken zurück zu der Antiquarin, zu der Sekunde, als sie die näher kommenden Martinshörner gehört und Jegor, ohne zu zögern, abgedrückt hatte … Misha schluckte. Es war eins, einem alten Knacker wie Anasias mit dem Messer ein paar Informationen aus dem Leib zu kitzeln, aber diese zierliche, ältere Dame rücklings stürzen zu sehen, mit einem kreisrunden Loch in der Stirn, hatte etwas mit ihm gemacht. Mehr sogar noch als Victors Hinrichtung, die schon ein Schock gewesen war.

Seit Jegor die Antiquarin getötet hatte, fror er.

Vielleicht sollte er einfach den Motor anlassen und von hier verschwinden, bevor der Mistkerl wiederkam! Er legte die Hand auf den Startknopf des Wagens, doch dann ließ er sie wieder sinken.

Weitere Minuten verstrichen.

Der Wagen war nagelneu. Er roch nach Fabrik. Tief sog Misha das Aroma von Geld und Macht ein. Früher hatte er oft davon geträumt, sich so eine Karre leisten zu können. Irinas beeindruckte Miene zu sehen, wenn er damit bei ihr zu Hause vorfuhr. Ihr Bruder, dieser arrogante Schnösel, würde dann nicht mehr behaupten, dass Misha ein Versager war. Misha fuhr sich mit der Zunge über die Zähne und stellte sich Irinas schlanke Taille und ihre kleinen, festen Brüste vor. Das Bild vertrieb für einen Augenblick das der toten alten Frau, also hielt er sich daran fest. Leise summte er das Lied, das er und Irina früher immer gehört hatten – damals, als sie noch Teenager gewesen waren und in seinem Kinderzimmer auf dem Bett geknutscht hatten. Mit einem Lächeln registrierte er, dass er einen Steifen kriegte. Er zog sein Handy aus der Tasche. Er hatte eine Playlist mit all den alten Titeln seiner wilden Zeit darauf, und nach ein bisschen Scrollen fand er das Lied. Als er es ablaufen ließ, klang die Musik aus dem kleinen Lautsprecher des Telefons allerdings blechern. Gar nicht so, wie er sie in Erinnerung hatte. Er knirschte mit den Zähnen. Sein Blick fiel auf das Radio, das wie in jedem modernen Auto eine Bluetooth-Schnittstelle hatte.

Sollte er?

Was konnte es schon schaden?

Er schaltete das Radio ein, und als er die Bluetooth-Einstellungen seines Handys aufrief, zeigte es ihm das neu erkannte Gerät sofort an. Er klickte auf Connect.

Auf dem blau leuchtenden Display des Radios erschienen Worte in deutscher Sprache. Misha starrte verständnislos auf die fremden Buchstaben. Selbst russische Schrift konnte er nur mühevoll lesen, laut Irinas Bruder war das der Beweis dafür, dass er ein Schwachmat war. Aber er war nicht dumm, nur weil er eine Leseschwäche hatte! Er kam sogar ganz gut zurecht, denn er hatte sich ein paar Strategien zurechtgelegt.

Die Symbole auf dem Monitor waren die gleichen wie zu Hause in Russland. Grüner Haken für Annehmen. Rotes Kreuz für Ablehnen.

Kurz schwebte Mishas Finger über dem grünen Haken, doch erneut zögerte er. Besser, er ließ die Finger von dieser Sache. Wer wusste schon, was dieses dämliche Auto ihn da gerade fragte? Er schaltete das Radio wieder aus und begnügte sich mit dem blechernen Ton des Handylautsprechers. Leise summte er mit und rieb sich dabei mit der Hand verträumt über den Schritt.

Er hatte das Lied zweimal durchlaufen lassen, und sein Schwanz war kurz vor dem Platzen, als Jegor endlich wieder aus der Tankstelle trat. Er hatte sein Telefon am Ohr und im Gesicht diesen konzentrierten, etwas unterwürfigen Ausdruck, den er nur bekam, wenn er mit ihren Auftraggebern redete.

Eilig nahm Misha die Hand aus der Hose und stoppte die Playlist. Auf keinen Fall wollte er, dass Jegor auch nur einen Ton von Irinas Lieblingslied hörte.

Jegor blieb neben dem Wagen stehen und beendete das Gespräch. Dann öffnete er die Beifahrertür und glitt auf den Sitz. »Wir sind raus aus der Sache«, erklärte er.

Misha runzelte die Stirn. »Wir haben weder das Buch noch …«

»Halt’s Maul!« So heftig fuhr Jegor ihn an, dass Misha erschrocken den Mund zuklappte.

»Schon gut! Was also jetzt?«

»Jetzt fahren wir zum Flughafen«, sagte Jegor. Er steckte das Handy weg, während Misha den Wagen startete. Als Misha auf der Beschleunigungsspur Gas gab und wieder auf die Autobahn fuhr, fiel Misha auf, dass Jegor die Hand noch nicht wieder aus der Tasche gezogen hatte.

Er dachte sich nichts dabei.