Voss kam gerade von ihrer morgendlichen Joggingrunde, als ihr Handy klingelte.
Ben war dran. »Guten Morgen. Du klingst, als wärest du einen Marathon gelaufen.«
Voss atmete durch. »Nur zehn Kilometer.« Sie war auf dem Weg zum Kühlschrank, um sich eine Wasserflasche rauszunehmen.
»Irgs«, machte Ben. »Und das vor dem Dienst!«
Voss warf einen Blick auf die Küchenuhr. Es war erst halb sieben. Wieso zum Henker war Ben schon bei der Arbeit? »Schläfst du eigentlich in deiner Höhle, oder was?«
»Nö, wieso?«
»Egal! Du hast mich bestimmt nicht zu Hause angerufen, weil du mit mir über die Vorzüge von Sport reden willst, oder?«
»Stimmt. Ich habe was für dich – Moment!« Ein schrilles Piepsen ertönte, und Ben knallte den Hörer auf die Tischplatte. »Bin gleich wieder da!«, hörte sie ihn rufen.
Kopfschüttelnd nahm sie einen Schluck von dem eiskalten Wasser, während sie wartete, bis Ben wieder an den Apparat kam. Der Durchbruch, an den sie alle nach der Ermittlung von Ethan Myers und dem Auffinden des roten Vans samt Victor Wolkows Leiche geglaubt hatten, war keiner gewesen. Im Gegenteil. Danach waren ihre Ermittlungen ins Stocken geraten. Weder hatten sie eine Spur von dem neuen Fluchtwagen der Täter gefunden, diesem blauen BMW, noch war es ihr gelungen, Ethan Myers eine Verbindung zu den Attentaten nachzuweisen. Das Gespräch, das sie mit dem Mann geführt hatte, war nicht nur unergiebig, sondern darüber hinaus auch äußerst unerfreulich gewesen. Myers hatte auf der Stelle seine freundlich-unverbindliche Attitüde abgelegt, als ihm klar geworden war, dass er verdächtigt wurde, etwas mit Prometheus zu tun zu haben. Dass er das Wissen und die Geräte für solche Anschläge hatte, war kein Beweis für seine Täterschaft, ebenso wenig wie sein Engagement für die Pandemic Fighters. Auch beides zusammen, das hatte er ihr überaus selbstsicher und kühl klargemacht, sagte nicht das Geringste aus. Womit er natürlich recht hatte. Und sogar für seinen Zutritt zur Hochisolierstation des zur Charité gehörenden Loring-Klinikums hatte er eine gute Erklärung gehabt. Wie es aussah, machte sein Labor mikrobiologische Diagnosen für dieses Krankenhaus, und manchmal fuhr er selbst dorthin und holte Probenmaterial ab. Als Voss ihn bewusst provokant gefragt hatte, warum er als Geschäftsführer von YouGen solche Botengänge selbst machte, hatte er maliziös gelächelt. »Weil ich an diesem Tag eine Besprechung mit der Klinikleitung hatte«, hatte er gesagt. »Da erschien es nur folgerichtig, die Proben gleich mitzunehmen und keinen meiner Mitarbeiter dafür von seiner Arbeit abzuziehen.«
Am Ende dieses frustrierend unergiebigen Verhörs hatte Voss Myers unverrichteter Dinge ziehen lassen müssen. Seitdem waren anderthalb Wochen vergangen.
Zum Glück hatte es keine weiteren Anschläge gegeben, was einerseits natürlich gut war, ihr auf der anderen Seite aber auch keine neuen Ansatzpunkte lieferte. Tannhäuser hatte auf ihr Drängen hin eine Handvoll Leute zur Verfügung gestellt. Voss hatte zusammen mit dem Team alle auch nur indirekt mit dem Fall in Verbindung stehenden Personen erneut befragt, darunter auch Max Seifert, der ihnen von sich aus eine Liste seiner Kontakte zu den Pandemic Fighters gegeben hatte. In akribischer Kleinarbeit hatten sie jeden einzelnen Namen auf dieser Liste überprüft, aber niemanden gefunden, den sie nachweislich mit den Anschlägen in Verbindung bringen konnten. Auch die Suche nach anderen Motiven für die Terroranschläge – hohe Schulden, radikal-nihilistische Weltsicht, Kontakte in gewaltbereite Milieus von ganz rechts bis ganz links und sogar in die islamistische Szene – hatte nichts ergeben, aber das war Voss sowieso von vornherein klar gewesen. Die beiden Bekennervideos wiesen viel zu deutlich auf eine Herkunft der Täter aus Fachkreisen hin.
Voss selbst hatte mehrfach versucht, an diesen Frederic von Zeven ranzukommen, auch das bisher völlig aussichtslos. Entweder er ließ sich von seiner Sekretärin verleugnen, oder aber der Mann war wirklich extrem umtriebig. Jedes Mal, wenn Voss vorstellig wurde, hieß es, von Zeven sei sehr beschäftigt und werde sich auf jeden Fall melden.
Was nichts anderes bedeutete als: Lecken Sie uns gepflegt am Arsch … Mit einem krachenden Geräusch nahm Ben endlich den Hörer wieder auf und riss Voss damit aus ihren Gedanken.
»Sorry, musste da eben nur einen Algorithmustestlauf für was anderes checken. Wo war ich? Ach so, ja: Sieht so aus, als hätten wir den Wagen gefunden, den deine drei Russen kürzlich geklaut haben.«
»Den BMW?« Voss stellte die Flasche auf die Arbeitsplatte und lehnte sich gegen den Kühlschrank. Der Schweiß an ihrem Rücken begann zu trocknen und juckte auf ihrer Haut.
»Ja. Hat auf einem abgelegenen Parkplatz am Flughafen gestanden, darum wurde die Flughafenaufsicht erst aufmerksam, nachdem das Parkticket abgelaufen war. Und jetzt halt dich fest!« Ben machte eine seiner üblichen dramatischen Pausen. »Ich habe das selbst gerade erst erfahren, aber im Kofferraum lag eine weitere Leiche! Tod durch aufgesetzten Kopfschuss, genau wie bei allen anderen. Nur dass bei diesem Typ auch noch etliche schwere stumpfe Traumata und Knochenbrüche festgestellt wurden. Sieht ganz so aus, als hätte da jemand gehörig Frust abgelassen, bevor er dem Kerl das Licht ausgeblasen hat.«
Das Jucken zwischen Voss’ Schulterblättern wurde zu einem Kribbeln. »Die Waffe?«
»Vermutlich die gleiche wie bei der Antiquarin. Die Kollegen haben den Toten als einen gewissen Michail Rassnow identifiziert. Warte, ich schicke dir sein Foto auf das Handy.«
Es piepste. Voss rief das Foto auf. Es zeigte ein Gesicht, das wohl ehemals gut ausgesehen hatte, feingeschnittene Züge. Bürstenhaarschnitt. Die Augen waren hellblau und leer.
»Man kann das auf dem Foto nicht sehen«, warf Ben ein, »aber der Typ ist riesig! Zwei Meter mindestens.«
Nummer zwei von den Typen, die Seifert und Nina Voss überfallen und Morell in die Mangel genommen hatten, dachte Voss. »Wenn das so weitergeht, brauchen wir bald gar nichts mehr zu unternehmen, weil die sich alle gegenseitig umgepustet haben.«
»Ja. Blöd nur, dass der Typ, der die beiden umgepustet hat, sich kaum selbst eine Kugel in den Kopf jagen wird.«
»Stimmt auch wieder.« Voss dachte an das Bild von diesem Jegor an ihrer Fallwand im Büro.
»Die Jungs vom Erkennungsdienst nehmen den Wagen gerade auseinander«, sagte Ben. »Ich melde mich, sobald ich mehr habe, okay?«
»Okay.« Voss war skeptisch, ob das Team vom Erkennungsdienst irgendwas Verwertbares finden würde. Sie hatten die Gesichter der Täter nicht im System, vermutlich galt das ebenso für ihre Fingerabdrücke. »Danke«, sagte sie.
»Da nich für«, gab Ben zurück.
Mühsam schlug Sylvie die Lider auf, weil sie spürte, dass jemand bei ihr im Zimmer war. Die Umgebung war verschwommen, die Sonnenstrahlen, die durch das Fenster fielen, sagten ihr, dass es früher Vormittag sein musste.
»Guten Morgen!« Die fröhliche Stimme einer der Schwestern.
Sylvie wandte den Kopf. Obwohl sie die ganze Nacht über geschlafen hatte und auch nach dem Frühstück wieder weggedämmert war, fühlte sie sich immer noch müde. Ihr ganzer Körper war schwer wie Blei. Das Atmen tat weh. »Guten Morgen«, murmelte sie. Ihre Lippen waren trocken und rissen beim Sprechen auf. Sie fuhr sich mit der Zunge über die kleine Wunde. Das Blut schmeckte bitter, und ihr wurde schlecht. Ihr war schrecklich heiß und gleichzeitig furchtbar kalt.
Die Schwester trat an ihr Bett. In Kittel, Haube und Mundschutz … sah sie aus wie … wie ein … der Gedanke entglitt ihr. Erschöpft schloss sie die Augen, versuchte, Luft zu bekommen. Ihr Vater kam ihr in den Sinn, und sie erinnerte sich daran, dass er erst vor Kurzem hier gewesen war und ihr vorgelesen hatte. Ganz besorgt hatte er ausgesehen, und das, obwohl die Leute, die ihm halfen, eine Therapie für sie zu entwickeln, offenbar gut vorankamen. Jedenfalls hatte er das gesagt. Hatte er sie angelogen, um ihr keine Angst zu machen? Gewöhnlich ärgerte es sie, wenn ihr Vater sie anlog, um sie vor irgendwas zu schützen. Heute jedoch war ihr das irgendwie egal. Es fühlte sich weit weg an. Alles fühlte sich weit weg an, als würde diese Welt sie kaum noch etwas angehen.
Ist es so, wenn man stirbt?
Sie wusste nicht, wie lange sie die Augen geschlossen hatte, aber als sie sie wieder öffnete, war die Schwester immer noch da. Die Sonne allerdings war ein gutes Stück weitergewandert.
»Mein Vater ist kein Mörder«, murmelte Sylvie und wusste nicht genau, woher sie das hatte.
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Tröstlich. »Natürlich nicht«, sagte die Schwester. Sylvie fiel partout ihr Name nicht ein. Turandot, dachte sie zusammenhanglos.
Sie wollte nicken, aber selbst das war plötzlich zu mühsam. Ein dumpfer Druck baute sich in ihrer Lunge auf, sie versuchte, sich aufzurichten, um besser Luft zu kriegen.
»Warte«, sagte die Schwester. »Ich helfe dir.« Sie stellte das Kopfende des Bettes ein Stück hoch und gab ihr ein Papiertaschentuch.
Sylvie fühlte sich wie unter Wasser. Und dann, mit einem explosionsartigen Husten, krümmte sie sich, presste das Taschentuch vor den Mund. Als sie es sinken ließ, glänzte darin ein großer dunkelroter Fleck.
»Oh je!«, sagte die Schwester und nahm ihr das Taschentuch ab.
Mühsam hob Sylvie den Blick. Der kleine Teddy, den ihr Vater ihr geschenkt hatte, verschwamm vor ihren Augen. Was passierte mit ihr …?
Sie krallte sich mit beiden Händen in das Bettlaken, aber sie konnte nicht verhindern, dass die Welt ins Rutschen geriet. Eines der vielen Geräte, an die sie angeschlossen war, fing an, schrill zu piepsen. Und sie hörte, wie die Schwester erschrocken »Scheiße!« ausrief.
Dann wurde es erneut dunkel um sie. Und diesmal auch sehr still.
Die Phagentherapie könnte der Durchbruch im Kampf gegen Erreger sein, bei denen kein Antibiotikum mehr hilft.
Von Nina Falkenberg
Die fünfzehnjährige Sylvie droht an einem multiresistenten Krankenhauskeim zu sterben. Ihre Ärzte setzen ihre letzte Hoffnung auf eine Therapie mit speziellen Viren – eine in Deutschland nicht zugelassene Heilmethode.
»Bleibt zuversichtlich, ich bin es auch«, so verabschiedet Sylvie Morell seit Monaten die Follower ihres Vlogs. Sie sitzt dann meist in ihrem Klinikbett, ein iPad auf den Knien. Sylvie wirkt etwas zu erwachsen für ihr Alter, liebt gute Bücher und Opernmusik. Und sie hat von Geburt an eine chronische Lungenkrankheit, über die sie regelmäßig bloggt. »Ich möchte anderen Betroffenen Mut machen und zeigen, dass sich auch ein Leben mit Mukoviszidose lohnt – trotz aller Strapazen und Antibiotikatherapien«, sagt sie.
Am 17. Juni 2022 dann wurde sie mit einer komplizierten Lungenentzündung in die Klinik eingeliefert und ihr Gesamtzustand verschlechterte sich zunehmend. Der Krankenhauskeim Pseudomonas aeruginosa, der Mukoviszidose-Patienten bei der langwierigen Therapie häufiger befällt, war plötzlich mit sämtlichen verfügbaren Antibiotika nicht mehr behandelbar. Selbst Reserveantibiotika versagten. Ein Schock für die Eltern und die Ärzte. Was war passiert?
»Der Vater von Sylvie hat von einem Indienaufenthalt einen multiresistenten Darmkeim mitgebracht, und dieser hat mittels Gentransfer seine Resistenz auf den Krankenhauskeim des Mädchens übertragen«, erklärt Dr. Heinemann, Sylvies behandelnder Arzt und Leiter der Infektiologie am Loring-Klinikum in Berlin.
In Indien sind sowohl Verschreibepraxis von Antibiotika als auch Umweltschutz lax, Antibiotika gelangen in die Abwässer, und mehr als siebzig Prozent der Reisenden bringen Keime mit verschiedensten Resistenzen von dort mit. Bakterien sind in der Lage, Resistenzgene über die Artgrenze hinweg auszutauschen. Dadurch, dass Sylvie sich mit dem Darmkeim ihres Vaters angesteckt hat, wurde der ohnehin schon multiresistente Pseudomonas-Erreger in ihrem Körper zu einem gefährlichen Superbug – einem pan-resistenten Keim, der mit keinem der gängigen Medikamente mehr behandelbar war, nicht einmal mit dem Reserveantibiotikum Colistin.
»Wir waren hilflos – keine unserer Antibiotika-Kombitherapien schlug noch an. Das Mädchen war für uns austherapiert«, erklärt Heinemann mit ernster Miene die damalige Situation …
Nina unterbrach sich bei der Lektüre ihres eigenen Artikels. Vor ein paar Tagen hatte sie ihrem zuständigen Redakteur in der Hamburger Redaktion des SPIEGEL von der Reportage über Sylvies Fall erzählt, die sie machen wollte, und er war so begeistert gewesen, dass er sogar eine ganze Serie vorgeschlagen hatte. Darum hatte sie gestern einen Rohentwurf für den ersten Teil geschrieben, und zwar im Flugzeug. Sie war ein paar Tage in Tiflis gewesen und hatte dort eine Trauerfeier für Georgy organisiert. Außerdem hatte sie sich mit dem georgischen Polizisten getroffen, der sie direkt nach der Explosion im Institut befragt hatte, Kommissar Barataschwili. Er hatte ihr erzählt, dass eine Kommissarin Voss aus Berlin Kontakt mit ihm aufgenommen hatte und man mittlerweile durch die gemeinsamen Ermittlungen und vor allem anhand von DNA-Spuren nachweisen konnte, dass die beiden Russen, die in Berlin tot aufgefunden worden waren, das Labor in die Luft gejagt hatten.
Der Mord an Georgy war also aufgeklärt und der Überfall auf Max’ Wohnung damit auch zum Teil. Nur dieser Jegor war immer noch auf freiem Fuß, aber Kommissarin Voss war sicher, dass sie ihn früher oder später ebenfalls erwischen würden …
Alles in allem fühlte sich das verblüffend unbefriedigend an, dachte Nina.
Seufzend beendete sie vorläufig die Arbeit an dem Artikel und klappte ihr Notebook zu. Vielleicht sollte sie einmal ins Labor gehen und nachsehen, wie der Stand der Dinge war.
»… ich kann schließlich auch nichts dafür, dass die Vorgaben der EMA für die Aufreinigung der Phagen nur bedingt taugen, Maren! Da hat bisher keiner ausreichend Erfahrung!«
Eine Hand schon auf der Klinke der Labortür, blieb Nina stehen. Ethans Stimme hatte ärgerlich geklungen, und das wunderte sie. Bisher hatte er noch nie ein scharfes Wort gegen Maren gerichtet, ganz im Gegenteil.
Hatten die beiden sich etwa gestritten?
Nina zögerte, das Labor zu betreten, aber dann gab sie sich einen Ruck und stieß die Tür auf. Tatsächlich standen sich Ethan und Maren wie zwei Kampfhähne gegenüber. Als sie Nina bemerkten, fuhren sie auseinander wie ertappte Schulkinder.
»Oha«, rutschte es Nina heraus. »Streitet ihr etwa?«
Maren wirkte fahrig und verblüffend blass dafür, dass sie gewöhnlich nicht so leicht einzuschüchtern war. Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Nein, natürlich nicht.« Ihre Augen waren weit und glitzerten verdächtig.
Ethan schnaubte nur. Dann riss er sich sichtlich zusammen. »Wir haben nur über das YouGen-Endotest-Verfahren diskutiert. Wir waren uns nicht sicher, ob wir die Parameter richtig gewählt haben, und darüber haben wir uns in die Haare gekriegt.«
Maren bestätigte seine Worte mit einem Nicken, das seltsam zerrissen wirkte – zum Teil erleichtert, zum Teil aber auch zutiefst verwirrt.
Dass ein Typ gegenhält, ist eine ganz neue Erfahrung für dich, oder?, dachte Nina. Ihre Freundin tat ihr allerdings leid, darum behielt sie diese Überlegung lieber für sich. Das YouGen-Endotest-Verfahren war eine innovative Methode, die Ethans Team innerhalb kürzester Zeit für Sylvies Phagenlösung entwickelt hatte und bei der ein paar sauteure Geräte zum Einsatz kamen. Mit deren Hilfe konnten die Endotoxine aus der Lösung entfernt werden. Nina wusste, womit Ethan und Maren die letzten Tage vor allem gekämpft hatten: Je höher der Reinheitsgrad der Phagen war, umso instabiler wurden sie auch. Ethan und sein Team machten hier also sozusagen eine Gratwanderung unter hohem Zeitdruck.
»Und? Wie kommt ihr voran?« Nina hatte das Bedürfnis, das unbehagliche Schweigen zu durchbrechen, das sich zwischen ihnen breitgemacht hatte.
Übergangslos verwandelte sich Marens Miene in ein breites, strahlendes Lächeln. »Wir konnten das Endotoxin-Level innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden um das Hundertfache senken!«
Auch Ethan grinste breit. »Und wie es aussieht, sind die Phagen trotzdem stabil!«
»Aber das ist doch wunderbar!«, rief Nina aus. Sie hob die Rechte, sodass Maren zu einem High Five einschlagen konnte. »Warum zur Hölle streitet ihr dann noch?« Sie erhielt keine Antwort, aber das war jetzt auch egal. »Dann können wir demnächst mit Sylvies Behandlung anfangen?«
»Können wir«, bestätigte Ethan. »Ich lasse meine Leute die reine Phagenlösung gerade auf Eis legen und zum Preppen in die Klinikapotheke schicken. Und du solltest deinen Tom anrufen, Nina. Er und seine Frau müssen sich noch um die Formalitäten kümmern.«
Tom saß in seinem Zimmer in der Pension beim Frühstück, als der Anruf kam. Er hatte sich beim Bäcker um die Ecke ein Croissant und einen Kaffee geholt, beides auf den winzigen Schreibtisch am Fenster gestellt und die Zeitung daneben aufgeschlagen, die er sich auf dem Rückweg am Kiosk gekauft hatte. Er las eine Reportage über Prometheus. In den vergangenen Wochen hatte es keine weiteren Anschläge gegeben, und der Journalistin, die den Artikel geschrieben hatte, war deutlich anzumerken, wie verzweifelt sie versuchte, das Erregungspotenzial dieser Story hochzuhalten. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis andere Katastrophen und Verbrechen Prometheus in den Hintergrund drängen und er schließlich ganz aus den Zeitungen verschwinden würde. Völlig anders allerdings lief es zu Toms Verwunderung in den sozialen Medien. Dort kreisten noch immer jede Menge Gerüchte über die Anschläge – und neuerdings auch eine Art Verschwörungstheorie, die von Tag zu Tag an Wucht gewann. Es ging um die böse Pharmaindustrie und ihren Plan, die Bevölkerung aus blinder Profitgier krank zu machen. Jedes Mal, wenn Tom online ging, staunte er darüber, mit welcher Geschwindigkeit sich die These dank Hashtags wie #Prometheus, #waswennesdirgeschieht und #StopSuperbugs verbreitete. Der Gedanke, dass das Ganze eine gesteuerte Kampagne war, kam ihm an diesem Morgen nicht zum ersten Mal.
Er starrte auf das Datum in der Kopfzeile der Zeitung. Anderthalb Wochen waren vergangen, seit Ethan angefangen hatte, die rettenden Phagen für Sylvie aufzubereiten. Jeden einzelnen Tag davon war Tom in der Klinik gewesen, hatte auf dem Weg dorthin angstvoll überlegt, ob es Sylvie wohl wieder schlechter ging, war erleichtert gewesen, wenn das nicht der Fall war, und zutiefst verzweifelt, wenn doch. Dieses ständige Schwanken zwischen Hoffnung, Angst und Resignation zermürbte ihn bis auf die Knochen.
Das Buch, das er für Sylvie gekauft hatte, hatte er mittlerweile fast bis zu Ende vorgelesen. Gestern allerdings hatte sie ihn gebeten, es liegenzulassen und stattdessen einfach nur ihre Hand zu halten. Jede einzelne Sekunde hatte sich in endlose Länge gezogen. Jede qualvolle Pause zwischen zwei Atemzügen hatte Tom gefürchtet, es könne Sylvies letzter gewesen sein.
Aber sie hatte weitergeatmet, immer weiter und weiter. Seine tapfere, kleine Tochter …
Er zuckte zusammen, weil das Handyklingeln ihn aus seinen Grübeleien riss. Auf dem Display erschien die Nummer von Dr. Heinemann.
War jetzt der Moment gekommen …?
Seine Hände zitterten, als er den Anruf annahm. »Doktor …«, krächzte er.
Die Stimme des Arztes war betont neutral. »Sie sollten sofort herkommen. Sylvie ist vor einer halben Stunde ins Koma gefallen. Der Keim hat auf wichtige innere Organe übergegriffen, und ihr droht ein Multiorganversagen. Wir mussten lebenserhaltende Maßnahmen einleiten, und …« Den Rest hörte Tom nicht mehr.
Der Kaffeebecher rutschte ihm aus der Hand und zerschellte auf dem Boden.
Sie hatten Sylvie auf eine andere Station verlegt, und zusätzlich zu all den Kabeln und Schläuchen, die sowieso schon die ganze Zeit an seiner Tochter gehangen hatten, hatten sie sie jetzt auch noch intubiert und beatmeten sie.
Der Anblick ihrer schmalen, durchscheinenden Gestalt, die in dem Intensivbett regelrecht winzig wirkte, zerriss Tom das Herz. Isabelle war schon da gewesen, als er angekommen war, und auch Dr. Heinemann stand schweigend mit im Raum.
»Wenn Sie wollen, dürfen Sie sie in den Arm nehmen«, sagte der Arzt leise.
Tom starrte ihn an. Die ganzen letzten Wochen hatten die Ärzte es ihnen streng verboten, Sylvie zu umarmen. Wie oft hatte er damit gehadert? Und jetzt? Jetzt durfte er es auf einmal? Wenn er noch ein Zeichen dafür gebraucht hätte, dass sein kleines Mädchen im Sterben lag, hätte er es jetzt gehabt.
Er ballte die Fäuste. Es ist aus!, dachte er. Wir haben versagt.
All seine Bemühungen waren völlig vergeblich. Sie waren nicht schnell genug gewesen: Diese Vermehrung der Phagen, die Aufbereitung und was noch alles dazugehörte – das alles hatte einfach zu lange gedauert. Er wollte schreien. Er wollte sich in eine Ecke verkriechen. Es fühlte sich an, als würde er ertrinken.
Nur am Rande bekam er mit, wie Heinemann mit Isabelle redete. »… die Klinikapotheke bringt sie gleich hoch, dann verabreichen wir Sylvie natürlich die erste Dosis.«
Die Worte zerrten Tom aus seiner Verzweiflung zurück an die Oberfläche. »Wovon reden Sie?«
»Von der Phagenlösung«, antwortete Dr. Heinemann. Ein Blick in Toms Gesicht zeigte ihm, dass er nicht zugehört hatte. »YouGen hat sie vor einer Stunde geliefert, und wir haben sie in Rekordzeit für die Injektion aufbereitet.«
»Dann gibt es Hoffnung?«
Über Heinemanns Gesicht glitt ein Schatten. »Solange Sylvie am Leben ist, gebe ich sie zumindest nicht auf.« Er lächelte matt. »Darum habe ich alle Hebel in Bewegung gesetzt und eine Sondergenehmigung für die Therapie von der europäischen Zulassungsbehörde erwirkt.«
Tom sah Isabelle an. Sie weinte nicht, aber ihre Augen waren knallrot. Ihr Blick hing an ihm, als wolle sie sich an ihm festklammern.
»Gut«, krächzte er. »Wann fangen Sie …«
»Sobald Sie ein paar Unterlagen unterzeichnet haben.« Dr. Heinemann verzog entschuldigend das Gesicht. »Eine ganze Menge Unterlagen, fürchte ich.«