In seinem Büro bat Dr. Heinemann Tom und Isabelle, auf den Besucherstühlen vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen.
Wie oft hatten sie hier schon gesessen? Hatten auf gute Nachrichten gehofft und waren bitter enttäuscht worden?
»Gut.« Mit einem tiefen Seufzen setzte der Arzt sich ebenfalls. »Ich hatte Ihnen bereits erklärt, dass Sie uns schriftlich geben müssen, dass wir diese Behandlung bei Sylvie durchführen dürfen. Es gibt dazu ein längeres Papier, das wir für Sie vorbereitet haben und das Sie sich bitte gründlich durchlesen.« Er nahm einen Stapel DIN-A4-Seiten von der Schreibtischplatte und reichte ihn Tom. »Ich hätte Ihnen das hier gern unter weniger dramatischen Umständen zugemutet, aber dass es Sylvie so rapide schlechter geht wie in den letzten Stunden, war nicht abzusehen. Wir können froh sein, dass YouGen gerade noch rechtzeitig fertig geworden ist.«
Tom griff nach den Blättern.
»Wenn Sie etwas nicht verstehen, fragen Sie bitte«, fügte Dr. Heinemann hinzu und lehnte sich zurück, um abzuwarten.
»Machen wir.« Tom warf einen Blick auf die eng beschriebene erste Seite und war sich nicht sicher, ob er in seiner aufgewühlten Lage das ganze Zeug überhaupt verstehen würde. Doch die Informationen waren in relativ einfachen Sätzen verfasst. Er überflog die ersten.
Wir verstehen, dass unsere Tochter eine lebensbedrohliche Infektion mit einem pan-multiresistenten Pseudomonas-aeruginosa-Stamm hat. Wir verstehen, dass sie trotz aller Bemühungen, diese Infektion mit Antibiotika zu behandeln, schwer krank und mit den zur Verfügung stehenden Standardtherapien nicht weiter zu behandeln ist …
Er hob den Blick und schaute Isabelle an, die ihn mit riesengroßen, glitzernden Augen beobachtete. Obwohl er wusste, dass sie erwartete, er würde sich um diese Sache kümmern, kippte er das Blatt so, dass sie mitlesen konnte.
Sie verstand die stumme Aufforderung, die ganze Verantwortung nicht ihm allein zu überlassen. Schweigend senkte nun auch sie den Blick auf das Formular.
Wir wollen, dass die Infektion unserer Tochter mit Bakteriophagen behandelt wird. Wir verstehen, dass Bakteriophagen beschrieben werden können als ›Viren, die Bakterien attackieren‹, und dass die Erfahrungen, Infektionen bei Menschen und Tieren mit diesen Organismen zu behandeln, unter experimentellen Bedingungen gesammelt wurden.
Wir verstehen, dass Bakteriophagen in Deutschland für den klinischen Gebrauch nicht zugelassen sind.
Wir verstehen, dass Ärzte und Wissenschaftler des Loring-Klinikums und der Firma YouGen zusammengearbeitet haben, um die Phagen und ihre Wirkung zu identifizieren. Wir verstehen, dass sowohl die Klinik als auch YouGen bei der Suche nach den Phagen und bei ihrer Herstellung größte Sorgfalt walten lassen haben und dass diese Arbeiten – einschließlich der Entwicklung einer völlig neuen Methode der Phagenaufreinigung zur Entfernung von Endotoxinen – unter größtem zeitlichen Druck stattgefunden haben …
Tom wartete, bis Isabelle ebenfalls unten auf der Seite angekommen war, und blätterte um. Schweigend lasen sie weiter. Und weiter. Auf der letzten Seite schließlich standen nur noch wenige Absätze.
Uns ist bewusst, dass die Behandlung unserer Tochter mit Bakteriophagen zu einer Verschlechterung ihres Zustands oder zu ihrem Tod führen kann …
An dieser Stelle ächzte Isabelle leise.
Es folgten noch ein paar rechtliche Floskeln und darunter dann die Linien, auf denen er und Isabelle unterschreiben mussten.
»Haben Sie alles verstanden?«, fragte Dr. Heinemann.
Tom nickte. Bis auch Isabelle sich dazu durchgerungen hatte, starrte er auf den billigen Werbekugelschreiber, der noch immer in der Stifteschale des Arztes lag. »Geben Sie mir das Ding.«
Mit dem Handy am Ohr lehnte Max sich auf seinem Bürostuhl zurück und legte die Füße auf die Ecke seines Schreibtisches. Der Monitor, den er vor anderthalb Wochen gekauft hatte, roch noch immer neu und irgendwie plastikartig, wenn man ihn einschaltete. In Gedanken ging Max die Reihe der Weichmacher durch und zählte auf, was für Auswirkungen sie auf den menschlichen Organismus haben konnten.
Diabetes. Asthma. Unfruchtbarkeit beim Mann …
Er schluckte und konzentrierte sich lieber auf seine Arbeit.
»Büro Dr. von Zeven?« Der Anschluss, den er gewählt hatte, wurde von einer Sekretärin bewacht, bei deren heiserer Stimme er immer an die Darstellung des Charon aus einem alten Schwarz-Weiß-Film denken musste. Das kam vermutlich daher, dass Frederic von Zeven auf griechische Mythologie stand, dachte er manchmal.
»Seifert«, meldete er sich. Mehr musste er nicht sagen, denn die Sekretärin wusste, dass es Zeit war für seinen täglichen Statusbericht. Frederic von Zeven bezahlte nicht nur den Großteil der Gala am kommenden Wochenende, sondern er finanzierte auch Max’ Betätigung für die Fighters. Und wenn jemand, der sechsstellige Beträge in die eigene Arbeit steckte, täglich einen Bericht wollte, dann bekam er ihn eben.
»Ich stelle Sie sofort durch«, sagte die Sekretärin mit ihrer Flüsterstimme. »Er telefoniert aber gerade noch mit Boston, es kann also sein, dass Sie ein paar Minuten warten müssen.«
Boston. Die Stadt an der Ostküste der USA, in dem das MIT lag.
»Kein Problem«, meinte Max, und als die Melodie der Warteschleife ertönte, drehte er den Stuhl so, dass er nach draußen schauen konnte. Jemand hatte in die Äste des Baumes vor seinem Fenster ein gutes Dutzend pinkfarbener Schleifen gebunden. Max hatte keine Ahnung, was das bedeuten mochte, vermutete aber irgendeine Social-Media-Aktion dahinter. Vielleicht tauchten ähnliche Schleifen demnächst überall in Berlin auf.
Endlich wurde am anderen Ende der Leitung abgenommen. »Max«, erklang von Zevens sonore Stimme.
»Herr von Zeven.«
»Wie geht es Ihnen?« Der Milliardär fragte immer zuerst nach dem Befinden seines Gegenübers, und nie hatte Max das Gefühl, dass es eine Floskel war. Frederic von Zeven war ein Mann, der in all den Jahren seines immensen Geschäftserfolgs nie das Interesse an seinen Mitmenschen verloren hatte. Nach ein wenig Small Talk kam der Milliardär zur Sache. »Wie kommen Sie voran?«
»Gut. Leider ist Sylvie Morell ins Koma gefallen, aber ich hatte genug Gelegenheit, sie vorher aufzusuchen und einige Interviews mit ihr führen. Im Moment sind wir dabei, aus dem Material eine Präsentation zusammenzuschneiden. Ich habe dafür die Multimedia-Agentur beauftragt, die Sie mir empfohlen haben.«
»Dann sind Sie zuversichtlich, dass unser Plan aufgeht?«
»Ich bin zuversichtlich, ja.«
»Dr. Heinemann ist weiterhin im Boot?«
»Er ist fest entschlossen. Er hat mich vorhin informiert, dass sie heute noch mit der Phagenbehandlung beginnen.«
Im Hintergrund bei von Zeven ertönte ein Martinshorn, das kurz lauter wurde und dann wieder leiser. Max stellte sich vor, wie der Milliardär in seinem luxuriös ausgestatteten Arbeitszimmer saß, das er selbst nur ein einziges Mal betreten hatte. Von Zeven zog es vor, bei offenem Fenster zu arbeiten. Er hatte sich das während der Corona-Pandemie angewöhnt und diese Gewohnheit nie wieder abgelegt.
Als das Geräusch vollständig verklungen war, sagte von Zeven: »Das ist gut.«
Max wartete. Es würde noch etwas kommen, das wusste er aus Erfahrung, und er täuschte sich nicht.
»Diese Gala, Max, sie ist für unsere Ziele überaus wichtig, das muss ich Ihnen natürlich nicht sagen.« Ein Lächeln klang in von Zevens Stimme mit. »Ich tue es aber trotzdem.«
»Ich weiß, Herr von Zeven. Und es wird alles nach Plan laufen, das verspreche ich Ihnen.« Er verabschiedete sich und legte auf.
Dann bewegte er die verkrampften Schultern. Es gab noch so viel zu tun.
Nina hatte sich entschlossen, in die Klinik zu fahren, um für ihre Reportage live mitzuerleben, wie Sylvie die erste Dosis der Phagen verabreicht wurde. Ihr war klar gewesen, dass sie dort auf Tom treffen würde, aber als sie ihn nun zusammen mit einer schlanken, überaus elegant gekleideten Frau und Dr. Heinemann den Gang entlangkommen sah, stockten kurz ihre Schritte. Sie war froh, dass er keine Ahnung davon hatte, wie sehr sich ihr Puls bei seinem Anblick beschleunigte.
Sie hatte im Vorfeld mit Tom besprochen, dass sie bei der Behandlung dabei sein durfte, aber offenbar hatte er seiner Frau nicht davon erzählt. Oder aber sie hatte es wieder vergessen, jedenfalls fragte sie noch im Näherkommen und mit reichlich kühler Stimme: »Wer ist das?«
»Das ist Dr. Falkenberg«, stellte Tom sie vor. »Du hast mit ihr telefoniert.«
Isabelle nickte, aber ihre Miene wurde nicht freundlicher. Ganz im Gegenteil. Nina fühlte sich von ihren Blicken geradezu aufgespießt.
Tom hingegen wandte sich mit einem schwachen Lächeln an sie. »Nina, das ist Isabelle, meine Frau.«
»Guten Tag, Frau Morell.« Nina streckte Isabelle die Hand hin. Kurz fürchtete sie, die andere Frau würde sie einfach ignorieren, aber das tat sie nicht. Sie reichte ihr ebenfalls die Hand. »Ich danke Ihnen für das, was Sie für meine Tochter getan haben«, sagte sie, schaffte es aber nicht, ihrer Stimme auch nur den Hauch von Wärme zu geben.
Armer Tom!, durchfuhr es Nina. »Das habe ich sehr gern getan.«
»Nina und ich haben abgemacht, dass sie bei Sylvies Behandlung dabei sein darf, um sie zu dokumentieren.«
Wenn es überhaupt möglich war, wurde Isabelles Blick noch eine Spur eisiger, und Nina konnte es ihr nicht verdenken.
Sie vermied es, Tom in die Augen zu sehen, aus Angst, er würde ihr ihre Gefühle anmerken. So professionell, wie sie nur konnte, sagte sie: »Ich danke Ihnen für die Erlaubnis.«
Isabelles schmale Nasenflügel bebten.
»Können wir dann?« Dr. Heinemann unterbrach das stumme Duell zwischen ihnen. Er deutete auf eine Krankenschwester, die mit einem Infusionsbeutel den Gang entlangkam, und gleich darauf betraten sie der Reihe nach Sylvies Krankenzimmer.
Der Anblick des Mädchens bereitete Nina einen Schock. Das leise, rhythmische Zischen der Beatmungsmaschine, das stetige Piepsen der Überwachungsgeräte, die leisen Stimmen, mit denen Dr. Heinemann und die Schwester sich über die Vorgehensweise verständigten – all das schuf eine Atmosphäre unendlicher Bedrückung in dem kleinen Raum.
Nina sah, wie Toms Kieferpartie sich verhärtete, während er beobachtete, wie die Schwester den Infusionsbeutel aufhängte. Dr. Heinemann schloss den Schlauch an Sylvies Venenkatheter an. Er warf einen fragenden Blick in Toms und Isabelles Richtung – die beiden nickten.
Dann drehte der Arzt die Infusion auf. »Jetzt können wir nur warten«, sagte er leise, während mit jedem Tropfen mehr von der Phagenlösung in Sylvies Blutbahn gelangte. »Wenn Ihre Tochter in den nächsten vierundzwanzig Stunden keinen septischen Schock erleidet, können wir uns erlauben zu hoffen.«
Tom schluckte schwer. Nina hätte am liebsten seine Hand ergriffen und festgehalten. Sie wusste, dass in diesem Moment in Sylvies Körper ein komplexes Zusammenspiel zwischen der Phagenaktivität und dem Immunsystem begann. Es kam nicht nur darauf an, dass Sylvie keinen septischen Schock erlitt, sondern auch darauf, wie schnell sich die tödlichen Bakterien nach dem Angriff der Phagen wieder vermehrten und ob diejenigen, die den Angriff überlebten, neue Resistenzen bildeten.
»Wenn Sie wollen, können Sie beide jetzt eine Weile bei Ihrer Tochter bleiben«, sagte Dr. Heinemann.
Die Schwester war schon gegangen, und Nina hatte bereits die Hand nach der Türklinke ausgestreckt, als Isabelle die Stimme erhob. »Ich bleibe allein hier!«
Das Zischen der Beatmungsanlage klang plötzlich noch lauter in Ninas Ohren.
Auch Tom schien seinen Ohren nicht zu trauen. »Was soll …?«
»Ich will, dass du gehst, Tom!«, verlangte Isabelle kalt.
Hilflos suchte Nina Dr. Heinemanns Blick, aber der Arzt schien froh, den Raum verlassen zu können. »Ich lasse Sie dann mal allein«, murmelte er verlegen und war gleich darauf verschwunden.
Isabelles Kinn ruckte in Ninas Richtung. »Du kannst mit deiner neuen Freundin nach Hause fahren. Das ist es doch sowieso, was du willst! Ich bleibe allein bei unserer Tochter!«
»Isabelle …«
»Verschwinde, Tom!« Plötzlich schrie sie.
Tom stand da wie vom Donner gerührt. Kurz wirkte er, als wolle er den Fehdehandschuh aufheben, den seine Frau ihm hinwarf, aber dann fiel sein Blick auf Sylvie. »Ruf mich an, wenn sich was ändert«, bat er. Seine Stimme klang leise, gebrochen.
»Natürlich.« Als sei es immer noch nicht genug, drehte Isabelle ihm nun auch noch den Rücken zu.
Den Weg durch die Gänge des Krankenhauses gingen Tom und Nina schweigend. Zu gern hätte Nina etwas Tröstendes gesagt, aber sie wusste einfach nicht, was. Also blieb sie an Toms Seite, bis die gläserne Tür des Haupteingangs sich vor ihnen öffnete und sie sich auf dem Wendehammer vor der Klinik wiederfanden.
»Es tut mir so leid«, murmelte sie.
Tom starrte einige Sekunden lang auf das Pflaster zu seinen Füßen, dann gab er sich einen Ruck und hob den Kopf. Seine Augen waren feuerrot, aber da waren keine Tränen. »Danke.«
»Was hast du jetzt vor?«
»Keine Ahnung.« Er rieb sich die Stirn. »Warten.«
»Wenn du möchtest, können wir irgendwo hingehen. Einen Kaffee trinken. Reden. Oder auch einfach nur schweigen, wenn dir das lieber ist.« Sie biss sich auf die Lippe.
»Danke«, sagte er erneut. »Ich glaube, ich komme zurecht.« Er wandte sich in die Richtung, in der die nächste U-Bahn-Station lag.
»Sicher?«, rief Nina ihm nach.
»Sicher.«
»Sag mir wenigstens, wo ich dich finden kann!«
Da blieb er noch einmal stehen. Er zögerte, und sie sah ihm an, wie er mit sich rang. Aber schließlich nannte er ihr die Adresse einer Pension in Kreuzberg.
Tom war sich nicht sicher, ob es klug gewesen war, Nina seine Adresse zu geben. Als sie ihn eben gefragt hatte, ob er mit ihr einen Kaffee trinken gehen wollte, hätte er beinahe Ja gesagt. Doch dann war ihm aufgegangen, dass er damit Isabelles Verdacht, er habe was mit Nina angefangen, nur genährt hätte. Er war zu gleichen Teilen erleichtert und traurig, aus Ninas Nähe zu entkommen.
Er fuhr mit der U-Bahn nach Hause oder vielmehr dorthin, wo jetzt sein Zuhause war: in einer Pension, bei deren Anblick er sich erbärmlich vorkam. Dort angekommen, überfiel ihn die Verzweiflung mit solcher Wucht, dass er die Yuccapalme packte und vom Fensterbrett fegte. Mit einem Krachen flog der Topf gegen die Wand, zerbarst und hinterließ einen Haufen Scherben und schwarze Erde auf dem Boden. Der Anblick ließ Tom so laut auflachen, als sei er nicht mehr bei Sinnen.
Er warf sich aufs Bett, bedeckte die Augen mit der Armbeuge und versuchte, zur Ruhe zu kommen. Aussichtslos.
Irgendwann rief Max ihn an. »Nina hat mir erzählt, dass Sylvie ins Koma gefallen ist, bevor ihr die Behandlung einleiten konntet«, sagte er ohne Begrüßung oder Einleitung. »Es tut mir unendlich leid, Tom. Ich kann mir vorstellen, wie es gerade in dir aussieht. Aber wir müssen zuversichtlich sein. Die Phagen werden wirken, da bin ich ganz sicher!«
»Klar«, krächzte Tom. Sekundenlang summte die Leitung in seinem Ohr. Er musste sich auf die Bettkante setzen, weil alles um ihn herum sich zu drehen begann.
»Vielleicht ist das der Sinn, der hinter meiner Scheißkrankheit steckt«, flüsterte er.
»Wie bitte?«
»Das hat Sylvie gesagt, nachdem du dich bei ihr gemeldet hattest. ›Wenn ich schon sterben muss, dann kann ich vorher vielleicht den Fighters helfen, etwas anzustoßen.‹«
»Oh, Tom!« Max zögerte, doch schließlich fragte er: »Soll ich die Präsentation zu den Akten legen?«
»Wieso das?«
»Na ja, ich meine, wenn … wenn Sylvie … du weißt schon! Ach, Scheiße, Tom!«
Tom senkte den Kopf und massierte sich die Stirn. Seine Augen brannten, besonders das eine, das von den Misshandlungen durch die Russen noch immer in Mitleidenschaft gezogen war. »Hör zu, Max«, zwang er sich zu sagen. »Ich möchte, dass du das Interview mit Sylvie auf dieser Gala zeigst, egal, wie auch immer das hier ausgeht! Versprich mir das! Bring die Politiker dazu, dieses verdammte Gesetz durchzuwinken, auch wenn … wenn es nicht gut für Sylvie enden sollte.«
Erneut schwieg Max, unerträglich lange diesmal. »Das werde ich.«
Ungefähr eine Stunde nach diesem Telefonat stand Tom am offenen Fenster, rauchte die vorletzte Zigarette seiner aktuellen Packung und starrte auf das Einhornfeuerzeug in seiner Hand, als es an der Zimmertür klopfte. Seufzend drückte er die Kippe aus. Dann steckte er das Feuerzeug in die Hosentasche und ging aufmachen.
»Nina!«
Sie wirkte verlegen. »Ich dachte mir, ich …«
Er empfand eine unerträgliche Mischung aus Freude und Beklommenheit. Einerseits war da das heftige Bedürfnis, sie an sich zu ziehen, sich an ihr festzuklammern und dadurch den freien Fall, in dem er sich befand, wenigstens zu verlangsamen. Er wollte in dem Duft ihrer Haare und ihrer Haut versinken und wenigstens für eine Weile alles andere vergessen. Auf der anderen Seite aber fühlte es sich falsch an, das auch nur zu denken. Da waren seine Empfindungen für Isabelle, die noch schwerer zu deuten waren, je öfter sie ihn behandelte wie eine Kakerlake. Und dann waren da auch noch all die Schuldgefühle, die er mit sich rumschleppte. Hatte er das Recht, auch nur einen Teil von diesem ganzen Ballast auf Nina abzuladen?
Vermutlich nicht.
Aber sie war hier. Bei ihm. Sie hatte sich freiwillig entschieden herzukommen.
Ein schwaches, fast schüchtern aussehendes Lächeln hob ihre Mundwinkel. »Darf ich reinkommen, oder bleiben wir noch eine Weile lang hier so stehen?«
»Ich … Klar.« Mit dem vielschichtigen Gefühl, ein Idiot und Glückspilz zu sein, machte er ihr die Tür frei. »Natürlich. Komm rein.«
Sie betrat das mit seinen billigen Nussbaumfurniermöbeln altertümlich eingerichtete Zimmer und sah sich um. »Schick.«
Er zwang sich zu einem Lächeln. »Ja, oder? Wenn man die Augen zusammenkneift, kann man sich vorstellen, man wäre in einer Folge von Berlin Alexanderplatz.«
»Hmhm. In einem der Dienstbotenzimmer, ja.« Ihr Lächeln wurde breiter, verblasste jedoch wieder, als sie die traurigen Überreste der Yuccapalme auf dem Fußboden sah.
Er bot ihr den einzigen Stuhl im Zimmer an. »Möchtest du irgendwas trinken?« Er hatte die Frage schon gestellt, als ihm aufging, wie gähnend leer sein Fach in dem Gemeinschaftskühlschrank in der Küche war. »Ich fürchte allerdings, außer Leitungswasser habe ich nur Bier und ein Stück alten Cheddar.«
»Für Bier ist es noch ein bisschen früh, fürchte ich.« Sie setzte sich. »Und Cheddar mag ich nicht. Also entscheide ich mich spontan für Leitungswasser.«
Er nickte und ging in die Küche, um ihr das Gewünschte zu holen. Als er außerhalb ihres Sichtfeldes war, atmete er zweimal tief durch, und als er ihr das Wasserglas gereicht hatte und sich selbst auf die Bettkante setzen wollte, nahm sie seine Hand und hielt sie fest.
Er erstarrte.
Kurz betrachtete sie den Ring an seinem Finger, dann stand sie auf. Ganz dicht vor ihm blieb sie stehen. Er roch ihr Parfüm und konnte es nicht verhindern, dass sein auf Aromen trainiertes Foodbloggergehirn den Duft einordnete. Honig, Orange und ein Anflug von Amber. Ninas Augen waren weit und schimmerten feucht, und es war dieser Ausdruck von Mitgefühl, der ihm ebenfalls Tränen in die Augen schießen ließ.
»Ach, Scheiße!«, murmelte er und wollte sich abwenden. Nina jedoch hinderte ihn daran.
»Tom …«
Das war der Moment, in dem alles über ihm zusammenbrach: sämtliche Ereignisse der vergangenen zwei Wochen, die er mit reiner Willenskraft von sich ferngehalten hatte und gegen die er doch nicht ankam. Die ständig kreisenden Bilder in seinem Kopf – das Blut der beiden Polizisten, die Kugeln, die Victor in den Hinterkopf getroffen hatten, die toten Augen dieser Antiquarin, die völlig unschuldig gewesen war und nur seinetwegen jetzt tot.
Und seine Tochter. Sein kleines Mädchen.
Auch an ihrem Tod würde er schuld sein … Der Gedanke zog erst sein Herz zusammen. Dann seinen Hals. Und gleich darauf schoss es ihm heiß und bitter in der Kehle hoch. Er schaffte es gerade noch rechtzeitig ins Bad, bevor er sich übergeben musste.