»Nada bei Fingerabdrücken und Faserspuren.« Anders als gestern kam Ben heute sofort zur Sache, als er Voss am Telefon von den Fortschritten berichtete, die die Untersuchung des BMW machte. Sie konnte ihm anhören, dass gleich etwas kommen würde.
»Aber?«, fragte sie. Sie war seit einer Viertelstunde im Büro, hatte sich gerade erst einen Kaffee gemacht und dabei festgestellt, dass ihre Milch sauer geworden war. Sie würde Lukas losschicken müssen, um neue zu besorgen.
»Wie wäre es mit einer Handynummer?« Bens gute Laune kam ihr übertrieben vor, denn selbst wenn sie wirklich die Nummer von Jegors Handy hatten, hieße das noch lange nichts. Zwar standen der Polizei Möglichkeiten der Standortermittlung zur Verfügung, aber Voss glaubte nicht daran, dass Jegor so dumm war, das nicht zu wissen. »Wie seid ihr an Jegors Handynummer gekommen?«, fragte sie dennoch.
»Nicht Jegors Handy.« Ben machte eine dramatische Pause, um den Effekt zu steigern. »Na ja, zumindest nicht, wenn er nicht Prometheus ist.«
»Kapiere ich nicht.«
Bens Begeisterung war sogar durch die Leitung hindurch zu spüren. »Ist doch nicht so schwer zu verstehen: Wir glauben, wir haben Prometheus’ Handynummer.« Er räusperte sich.
»Wie …« Voss schüttelte den Kopf, weil ihr mehrere Fragen gleichzeitig durch das Hirn taumelten. »Wie seid ihr daran gekommen?«
»Das Auto hat sie uns gesagt.«
»Das Auto …«
»Hör zu«, unterbrach Ben. »Runge hat mich gebeten, dir Bescheid zu geben. Er und Tannhäuser versammeln gerade das gesamte Team, um die Details zu besprechen. Wenn du dich beeilst, erfährst du alles.«
Keine dreißig Sekunden später betrat Voss den Besprechungsraum, in dem offenbar kurz zuvor jemand gefrühstückt hatte. In der Luft lag der Geruch von Putzmittel und Käsebrot. Voss drehte sich der Magen um.
Runge, der zusammen mit Ben und Tannhäuser vorn am Pult stand, sah auf, als er sie bemerkte. Er grüßte sie mit einem Nicken, dann räusperte er sich und begann zu reden.
»Guten Morgen. Wie ihr alle bereits wisst, haben wir gestern den blauen BMW gefunden, der laut Zeugenaussage vor anderthalb Wochen von den Mördern der Kollegen Heller und Oberau gestohlen wurde. Wir konnten dem KTI ein bisschen Feuer unter dem Hintern machen, sodass die Untersuchung des Wageninneren bevorzugt gehandhabt wurde.« Ein grimmig-zufriedener Ausdruck begleitete seine Worte. Über sein mit dem Beamer verbundenes Tablet warf er ein Foto des blauen BMW an die Wand. Der Wagen stand auf einer Bühne, alle vier Türen waren geöffnet, und im Hintergrund konnte man ein Stück eines Manns in dem typischen weißen Overall des Erkennungsdienstes sehen. »Leider hat unser Täter sämtliche Fingerabdruckspuren verwischt. Die Faser- und DNA-Spuren befinden sich aktuell im Abgleich mit den Proben, die uns der Eigentümer des Wagens von sich und seiner Familie gegeben hat. Das dürfte eine Weile dauern, aber wir gehen davon aus, dass die Analysen uns nicht wesentlich weiterhelfen werden, da sich laut Gesichtserkennung keiner unserer Verdächtigen in unserem System befindet.« Runge ergänzte das Bild des Wagens durch die beiden Fotos von Victor Wolkows und Michail Rassnows Leichen sowie das Bild, das die illegale Überwachungskamera in St. Anton von Jegor gemacht hatte. »Ich habe euch zusammengetrommelt, weil wir aber möglicherweise trotzdem eine vielversprechende Spur gefunden haben. Dazu kann euch Ben mehr sagen.« Mit einer Kopfbewegung erteilte er Ben das Wort und überließ ihm das Pult.
Mit einer kurzen Wischbewegung auf der Tabletoberfläche ließ Ben die Fotos der drei Männer und auch das des BMW verschwinden und ersetzte sie durch ein Bild der Mittelkonsole eines modernen Autos.
»Das ist das Connectivity-Modul unseres Tatortwagens«, erklärte er. »Der Wagen ist ausgestattet mit der allerneuesten Internet- und Bluetooth-Technologie. Steigt sein Besitzer ein, verbindet sich dessen Handy automatisch mit dem System des Wagens. Man kann auf diese Weise telefonieren, Musik hören, Apps aufrufen, alles per Sprachsteuerung.« Ben ersetzte das Foto durch eines, das nur noch den Bildschirm des Wagens zeigte. Eine Liste war darauf zu sehen, die aus insgesamt sechs Einträgen bestand.
Voss’ Blick blieb an den letzten beiden hängen. Yandex_357892 lauteten sie. Und Samsung Device.
»Die ersten Einträge stammen von den Mobiltelefonen von dem Eigentümer des Wagens, seiner Frau und seinen beiden erwachsenen Söhnen. Die letzten beiden Einträge hingegen, das hat uns der Eigentümer bestätigt, gehören niemandem aus seiner Familie, und da er uns darüber hinaus versichert hat, dass der Wagen nur von diesen vier Personen gefahren wurde, gehen wir davon aus, dass es sich bei den beiden um die Smartphones von unseren Tätern handelt.«
Einer der anwesenden Beamten hob die Hand. »Wieso seid ihr da so sicher? Ich meine: Ich kenne mich mit so einem System ein bisschen aus. Man muss sein Handy anmelden, bevor der Wagen sich damit verbindet. Und die Täter werden doch kaum so dämlich sein …«
»Warte es ab«, erwiderte Ben und grinste wölfisch. »Wir sind sicher, ja. Denn zum einen ist Yandex eine führende russische Handyfirma, und da es sich bei unseren Tätern um Russen handelt, halten wir das nicht für einen Zufall. Aber uns kommt noch etwas anderes zugute, nämlich die Tatsache, dass das Connectivity-Modul von diesem Wagen mit einem kleinen, aber hübschen Bug ausgeliefert wurde: Ruft man nämlich den Anmeldebildschirm auf, über den man ein Handy mit dem Wagen verbinden kann, und schließt diesen Bildschirm gleich wieder, startet eine Art automatischer Verbindungsvorgang. Kurz gesagt: Der Wagen verbindet sich danach ohne Umschweife mit jedem Handy, das sich in unmittelbarer Reichweite befindet.« Ben blies die Wangen auf. »BMW hat uns diesen harmlosen Fehler bestätigt und versichert, dass nur eine Handvoll Wagen damit ausgeliefert wurden.«
»Und wie genau führt uns das nun zu unseren Tätern?«, fragte Voss.
»Na ja. Ganz so harmlos, wie die Firma behauptet, ist der Bug in Wirklichkeit nicht. Denn der Wagen verbindet sich nicht nur automatisch mit den Handys, sondern er speichert auch ungefragt deren Anruferlisten. Der datentechnische Super-GAU.« Ben griente von einem Ohr bis zum anderen und rief eine zweite Liste auf. »Voilà, meine Damen und Herren. Das ist die Anruferliste des Samsung-Handys. Und damit hatten wir eine Telefonnummer, mit der wir was anfangen konnten.«
Mit einem kribbeligen Gefühl im Magen setzte Voss sich aufrechter hin.
Prometheus’ Nummer, hatte Ben gesagt. Und: Der Wagen hat sie uns verraten.
An dieser Stelle übernahm Runge wieder. »Kriminaloberrat Tannhäuser hat die Genehmigung für eine stille SMS erwirkt. Der Besitzer des Samsung-Handys, mit dem unsere Doppelmörder mehrfach telefoniert haben, befindet sich zu dieser Sekunde exakt hier.«
Auf sein Zeichen hin rief Ben ein letztes Foto auf. Es zeigte ein Satellitenbild von Berlin, auf dem eine typische tropfenförmige Markierung ein einzelnes Gebäude kennzeichnete. Das Bild zoomte ran, bis eine in ein Gewerbegebiet umgebaute Kaserne zu sehen war. Und dann zoomte das Bild auf einen der Eingänge. Auf dem Logo neben der Tür war ein stilisiertes Mikroskop zu sehen.
Darunter stand ein Name: YouGen.
Tom erwachte an diesem Morgen früh, und sein erster Griff ging zum Handy. Keine Nachricht, weder aus dem Krankenhaus noch von Isabelle. War das ein gutes Zeichen? Er konnte es nur hoffen. Er wandte den Kopf. Nina lag auf der anderen Seite des Bettes, ihr kurzes blondes Haar war vom Schlaf verstrubbelt, und zwei kleine Muttermale an ihrem Hals hoben sich deutlich sichtbar von ihrer hellen Haut ab.
Der Anblick berührte etwas in ihm, und seine Gedanken wanderten zu der vergangenen Nacht zurück. Wie peinlich es ihm gewesen war, dass er schweißgebadet und panisch das Essen von gefühlt zwei Wochen in die Toilettenschüssel gekotzt hatte! Er erinnerte sich noch gut an seine Verwunderung, weil Nina immer noch da gewesen war, selbst nachdem er ausgiebig geduscht und sich die Zähne geputzt hatte. Und auch an den Rest dieser überaus sonderbaren Nacht erinnerte er sich. Daran, wie er mehrmals vergeblich versucht hatte, Isabelle zu erreichen und von ihr zu erfahren, wie es Sylvie ging. Daran, wie Nina dabei missbilligend die Lippen zusammengepresst hatte. Anschließend hatten er und sie stundenlang geredet. Nina hatte auf dem Bett gesessen und er auf dem Fußboden davor, weil der einzige Stuhl in seinem Zimmer zu unbequem war für langes Sitzen. Als ihm mehrmals nacheinander vor Müdigkeit der Kopf auf die Brust gesunken war, hatte Nina ihn ziemlich direkt gefragt, ob sie gehen sollte.
Er hatte es verneint, indem er wortlos zu ihr auf das Bett geklettert war, sich neben sie gelegt und sich von ihr in den Arm hatte ziehen lassen. Woraufhin er nahezu augenblicklich in einen unruhigen Schlaf gesunken sein musste. Mitten in der Nacht, das war seine letzte Erinnerung, war er zweimal aus unfassbar blutigen Albträumen aufgeschreckt, und beide Male hatte Nina ihm leise ins Ohr geflüstert.
»Alles ist gut.«
Jetzt, da er sie seinerseits beim Schlafen beobachtete, flutete ein tiefes Gefühl von Zuneigung seinen Brustkorb, und sein Unterleib machte sich mit einem verräterischen Pochen bemerkbar. Er zog den Arm unter seinem Körper hervor und starrte auf seinen Ehering.
Irgendwann schlug Nina die Augen auf. Ihr Blick war verschleiert, aber sie lächelte. »Guten Morgen.« Sie setzte sich auf, blickte an sich hinab. »Tz«, machte sie.
Genau wie er war sie vollständig angezogen.
Er lehnte sich gegen die Wand am Kopfende des Bettes und wartete darauf, was sie sagen würde. Ging sie davon aus, dass er wenigstens jetzt einen Versuch startete, mit ihr zu schlafen? Er wusste es nicht.
Wollte er mit ihr schlafen?
Gewisse Teile seines Körpers gaben ihm eine ziemlich eindeutige Antwort auf diese Frage, und kurz flackerte ein Wunschbild in ihm auf: Nina unter ihm, die ihn in sich aufnahm und dabei lustvoll stöhnte.
Er versuchte, in ihrer Miene zu lesen, was sie dachte, aber vergeblich. Sie war ein Rätsel für ihn, und zum ersten Mal seit Jahren kam er sich wieder so unerfahren und linkisch vor wie als Teenager.
Ihr schien es nicht anders zu ergehen, denn sie lachte verlegen auf. »Irgendwie haben wir uns in der Nacht zurück in Fünfzehnjährige verwandelt, oder?«
Er spürte, wie sich ein Lächeln auch auf seine Züge legte. »Knutschen und Fummeln, aber nichts weiter?«
»Wir haben nicht geknutscht.« Ein Schatten flog über ihre Miene, und wieder wusste er nicht, was sie dachte.
»Stimmt.« Er atmete tief ein, dann wieder aus und fügte hinzu: »Danke.«
»Wofür?«
»Fürs Dasein.«
»Das habe ich gern gemacht.« Sie erhob sich von der Bettkante. »Ich glaube, ich gehe dann mal.«
»Ja«, sagte er und biss sich auf die Lippe, weil er eigentlich Bitte nicht! hatte sagen wollen.
Als Nina vor dem Gebäude von YouGen aus dem Taxi stieg, wunderte sie sich über mehrere Polizeiwagen vor der Tür.
Sie überwand die wenigen Stufen zum Eingang mit zwei großen Schritten. Im Empfang blieb sie überrascht stehen. Sämtliche Mitarbeiter von Ethan standen auf dem Flur. Ein uniformierter Polizist befand sich bei ihnen. Wie ein Aufpasser hatte er hinter dem verwaisten Tresen Aufstellung genommen. Die Empfangsdame hingegen stand bei den Wissenschaftlern. Die ganze Versammlung machte auf Nina spontan den Eindruck einer verwirrten Schafherde.
»Was geht denn hier vor?«, erkundigte sie sich.
Der Polizist am Empfang wandte sich zu ihr um. »Arbeiten Sie hier?«
Sie war zu überrascht, um ihre etwas komplizierte Funktion in diesem Laden zu erklären, darum nickte sie einfach.
»Dann stellen Sie sich bitte zu den anderen«, verlangte der Polizist.
Nina gehorchte mit einem unguten Gefühl. Sie sah in lauter Gesichter, die alle Formen von Emotionen widerspiegelten – von Ärger über Ratlosigkeit bis hin zu Schrecken. Maren, die bis eben dicht neben Ethan gestanden hatte, schob sich an den anderen vorbei und brachte den Mund verschwörerisch dicht an Ninas Ohr. »Die gleichen Klamotten wie gestern?«
Nina schoss augenblicklich Farbe ins Gesicht. »Was ist hier los?«, wich sie aus.
Etwas enttäuscht, weil Nina nicht auf ihre anzügliche Frage einging, zuckte Maren mit den Schultern. »Die sind hier plötzlich aufgetaucht, haben mit einem Beschluss rumgewedelt und durchwühlen gerade alle Räume und Labors.«
»Weswegen?«
»Keine Ahnung. Offenbar suchen sie irgendein Handy.«
Auf der anderen Seite von Nina gesellte sich nun auch Ethan zu ihnen. »Sie suchen ein Handy, das im Zuge ihrer Ermittlungen gegen Prometheus aufgetaucht ist.« Er gab sich alle Mühe, seinen Schock zu verbergen, aber Nina konnte ihm ansehen, dass ihm das Herz bis zum Hals schlug.
Kein Wunder. Die Polizei in Mannschaftsstärke in die eigene Firma einfallen zu sehen war keine Erfahrung, die man gern machte.
Nina reckte den Hals, um in eines der Labors zu schauen, wo zwei Uniformierte dabei waren, die Schränke und Schreibtische zu durchsuchen. Eine Frau in Zivil war bei ihnen und überwachte die Aktion. Es war Kommissarin Voss.
»Als sie hier angekommen sind, haben sie allen befohlen, ihre Handys rauszunehmen, und sie hat eine Nummer gewählt«, erklärte Maren. »Aber offenbar ist das Telefon, das sie suchen, ausgeschaltet. Darum filzen sie jetzt die gesamte Firma.«
»Und halten uns von unserer Arbeit ab!«, fügte Ethan grummelnd hinzu. Sein Unterkiefer bildete eine harte Linie, und seine Augen funkelten aufgebracht.
Nina beugte sich zu ihm herüber. »Weißt du schon was wegen Sylvie?«
Noch immer grummelnd schüttelte er den Kopf.
Sie wollte nachhaken, aber sie ließ es bleiben, weil Kommissarin Voss aus dem Labor kam und ihre Blicke sich trafen. »Frau Dr. Falkenberg.« Voss wirkte überrascht.
»Sie ist eben dazugekommen«, informierte der Beamte am Empfang sie.
Die Kommissarin nickte. »Aha. Wo waren Sie davor?«
Nina presste die Lippen aufeinander, entschloss sich dann aber, ehrlich zu sein. »Bei Herrn Morell.« Sie ignorierte Marens Feixen und erklärte: »Seiner Tochter geht es sehr schlecht. Ich dachte mir, dass sich jemand um ihn kümmern muss. Ihn nicht allein lassen und so.«
»Aha«, machte Voss erneut.
Nina spürte, dass ihre Wangen schon wieder rot anliefen. »Halt bloß die Klappe!«, zischte sie Maren zu, aber die grinste nur.
»Wem gehört dieses Handy hier?«, fragte in diesem Moment ein älterer Polizist, der ebenso wie Voss in Zivil war.
Betretenes Schweigen machte sich breit. Die Hälfte der Anwesenden starrte auf den Boden, die andere Hälfte schaute sich fragend um. In vielen Gesichtern las Nina Irritation.
Kommissarin Voss jedoch trat vor Ethan hin. »Wenn ich dieses Telefon auf Fingerabdrücke untersuchen lasse, werde ich dann Ihre finden?«
Ethans Lippen teilten sich. Pressten sich aufeinander.
»Das Telefon wurde in einem Versteck in Ihrem Büro gefunden, Dr. Myers. Soweit ich das sehe, reicht das jetzt aus, um Sie mit den Anschlägen von Prometheus in Verbindung zu bringen. Ich nehme Sie hiermit also vorläufig fest.«