Voss stand mit dem Rücken gegen den kühlen Marmor des Charlottenburger Rathauses gelehnt und beobachtete die Gäste, die nach und nach auf der Gala eintrudelten. Lauter Prominenz aus Politik und Kultur, die allesamt unterstrichen, wie wichtig das Anliegen war, um das es hier heute ging.
»Überaus wichtig für die Menschheit.« Das hatte Dr. Seifert ihr gesagt, als sie mit ihm über die Möglichkeit gesprochen hatte, die Gala aus Sicherheitsgründen abzusagen. Natürlich hatte er es abgelehnt, auch nur einen Gedanken an eine Absage zu verschwenden.
Voss seufzte.
Ihr Blick glitt über eine Handvoll Stars und Sternchen aus dem Film- und Fernsehbusiness, einen deutschlandweit bekannten Schriftsteller und etliche Leute, die sich verhielten, als seien sie Berühmtheiten, die sie jedoch noch nie zuvor gesehen hatte. Influencer, dachte sie. Junge Männer und Frauen, die den lieben langen Tag nichts anderes taten, als vor der Kamera zu posieren.
»Krass!«, murmelte Lukas, der direkt neben ihr stand. »Da ist Eleni.«
»Wer zum Teufel ist Eleni?«
»Sagen Sie bloß, Sie kennen Eleni nicht?«
»Würde ich dann fragen?«
»Sie ist Deutschlands erfolgreichste Beauty-Bloggerin. Mit ihrem Insta- und YouTube-Kanal macht sie Millionen.«
»Aha. Schön für sie.« Voss unterdrückte ein weiteres Seufzen. Sie hatte Position auf der Galerie vor dem großen Saal bezogen, direkt neben dem Stand, auf dem die Veranstalter Wein und Sekt an die Kellnerinnen und Kellner ausgaben, die hier überall herumschwirrten. Was Jens Runge, der am anderen Ende der Galerie stand, mit einem Grinsen kommentiert hatte. Von ihren jeweiligen Positionen aus hatten sie einen guten Überblick über die Menge, denn jeder, der den Saal betreten wollte, musste zwischen ihnen hindurch.
»Ich denke ja immer noch, dass wir umsonst hier sind«, sagte Lukas. Er stand neben Voss und betrachtete genau wie sie die Gesichter der ankommenden Gäste.
Voss lockerte ihre verspannten Schultermuskeln. Sie trug ihre Lederjacke, um die Waffe unter ihrer linken Achsel zu verbergen. Ihr war warm, sie war angespannt, und sie neigte dazu, Lukas recht zu geben. In Gedanken ging sie die letzten Tage durch – und damit all die Ermittlungen, die ihren jungen Kollegen zu seiner Bemerkung veranlasst hatten.
Sie hatte tatsächlich innerhalb eines Tages einen Durchsuchungsbeschluss für die Räume von YouGen bekommen und auch sofort ein Team dort hingeschickt. Die Auswertung der dabei gewonnenen Erkenntnisse allerdings lief noch.
Nachdem in ihr der Verdacht gereift war, es könne außer Jegor vielleicht noch weitere, bisher unbekannte Mitglieder von Prometheus geben, hatte sie natürlich als Erstes Myers dazu befragt. Vergeblich. Er hatte seine Mauertaktik nicht aufgegeben. Sie hatte Ben darangesetzt, Myers’ familiären Hintergrund zu durchleuchten, in der Hoffnung, dadurch auf Hinweise zu stoßen. Ebenfalls vergeblich. Ethan Myers besaß offenbar keine Freunde außerhalb seiner Firma, und seine Eltern waren beide schon vor Jahren gestorben. Geschwister hatte er keine.
Zähneknirschend hatte Voss also die letzten zwei Tage benutzt, um persönlich noch einmal jeden bei YouGen zu befragen, Nina Falkenberg, Maren Conrad und auch Tom Morell eingeschlossen. Aber all diese Bemühungen hatten zu nichts geführt, außer zu der Tatsache, dass sie ziemlich erschöpft war. Und zu dem mulmigen Gefühl, dass hier und heute irgendwas passieren würde.
Sie konnte allerdings verstehen, dass Lukas dieses Gefühl nicht teilte. Seit sie ihm gesagt hatte, dass er heute Abend mit ihr Dienst schieben musste, war er schlecht gelaunt und aufsässig. »Myers’ Motiv war der Kampf gegen Antibiotikaresistenzen«, maulte er jetzt. »Das geht aus dem Bekennervideo ganz eindeutig hervor. Prometheus würde sich also ins eigene Fleisch schneiden, wenn er ausgerechnet hier und heute Abend die Leute vergiften würde.«
Was nicht von der Hand zu weisen war. Ein tödlicher Anschlag auf diese Gala mit all den Bundestagsabgeordneten, die in Kürze über das neue Antibiotikaresistenzbekämpfungsgesetz entscheiden sollten, war nicht die klügste Idee. Denn damit wäre alle Arbeit, die Max Seifert und seine Leute sich gemacht hatten, umsonst gewesen.
»Man bringt nicht einfach die Menschen um, die man seit Monaten auf seine Seite zu ziehen versucht«, brummelte Lukas.
»Vermutlich nicht.« Voss vergrub die Hände in den Taschen ihrer Jacke.
Und doch … war da ihr Bauchgefühl. Wer wusste schließlich schon, wie diese Leute tickten? Es hatte sie einige Mühe gekostet, Tannhäuser dazu zu bringen, ihren, Runges und Lukas’ Einsatz zu genehmigen, aber am Ende hatte er seufzend eingestanden, dass dieser Mistkerl Myers viel zu selbstzufrieden in seiner Zelle in Karlshorst einsaß. Dass er noch ein Ass im Ärmel hatte, von dem sie bisher nichts ahnten.
Wenn sie nur einen Anhaltspunkt gehabt hätte, wo und wann er zuschlagen würde.
Sie folgte mit dem Blick einer Gruppe von Männern in dunklen Anzügen, die entspannt schwatzend die geschwungene Treppe hochkamen. Der Mann in der Mitte der Gruppe, ein kleiner, energiegeladener Kerl mit Millimeterhaarschnitt und Hugo-Boss-Anzug, war Sandro Griese, Bundestagsabgeordneter und Fraktionsvorsitzender der FDP, dessen geschicktem Taktieren während der Corona-Krise es zu verdanken war, dass die Partei sich nach einem langen, frustrierenden Tief wieder im Aufwind befand. In natura wirkte der Kerl noch großspuriger und wichtigtuerischer als im Fernsehen, fand Voss.
»… und ich meine noch zu ihr, sie soll sich besser warm anziehen«, hörte sie ihn sagen, als die vier bereits an ihr vorbeigingen. »Wetten, die macht da wieder einen Fall von weiblicher Diskriminierung draus? Mimimi …« Griese lachte laut, und die drei anderen fielen geflissentlich ein.
»Arschloch!«, sagte Lukas leise. »Der ist doch nur hier, weil er Publicity will!«
Voss grinste und konzentrierte sich dann auf die nächsten Neuankömmlinge, diesmal eine gemischte Gruppe. Unter ihnen befand sich Volker Ahrens, ein leicht übergewichtiger Mann mit der Ausstrahlung eines radioaktiven Meilers. Der Mann war Partei- und Fraktionsvorsitzende dieser neuen Kleinpartei im Parlament, der GPD. Voss hörte ihn lachen, als eine der Frauen in seiner Begleitung einen Scherz machte.
Den Mann, der kurz darauf am Arm einer elegant in ein schmales dunkelblaues Kleid gehüllten Frau die Treppe heraufkam, hätte sie im ersten Moment fast nicht erkannt.
Sie blinzelte verblüfft. Wow!, dachte sie. In seinem dunklen Anzug und mit Krawatte sah Tom Morell völlig verändert aus. Sein rauer Abenteurercharme wurde dadurch noch betont, was vor allem daran lag, dass er einen Zweitagebart hatte stehen lassen.
Seit Tom Isabelle vor dem Rathaus aus dem Taxi geholfen hatte, war er in einer seltsam zwiegespaltenen Stimmung. Natürlich interessierte es ihn, wie die geladenen Gäste auf seine Tochter reagierten, aber trotzdem wollte er eigentlich nicht hier sein, sondern viel lieber im Krankenhaus bei Sylvie. Seit gestern ging es ihr wesentlich besser. Ihre Vitalwerte entwickelten sich Dr. Heinemann zufolge sehr zufriedenstellend. Zwar lag sie immer noch im Koma, aber mittlerweile hielten die Ärzte es künstlich aufrecht, und es bestand aller Grund, vorsichtig optimistisch zu sein. Darum hatten sowohl Max als auch Dr. Heinemann Tom und Isabelle gebeten, heute Abend hierher auf die Gala zu kommen. Sie hofften darauf, dass die Wirkung von Max’ Präsentation durch ihre Gegenwart noch verstärkt werden würde. »Wenn die Leute den Film sehen und sich anschließend mit euch auch noch darüber unterhalten können, wird das jedes Herz rühren«, hatte Max gesagt und flehentlich hinzugefügt: »Bitte, Tom! Es sind nur zwei Stunden, und danach könnt ihr sofort wieder ins Krankenhaus fahren!«
Tom hatte nur widerwillig zugesagt.
Ebenso wie Isabelle. Doch seine Frau schien in der Sekunde ihre Meinung geändert zu haben, als sie vor dem Rathaus aus dem Taxi gestiegen war. Sie hatte Tom in die Seite geknufft, auf einen weltbekannten Schauspieler gedeutet und gewispert: »Guck mal! Der ist auch hier?« Seit diesem Moment schien sie entschlossen zu sein, diese zwei Stunden zu genießen. Sie strahlte regelrecht, und Tom ahnte, dass sie sich darauf freute, die Bewunderung all dieser berühmten und wichtigen Leute entgegenzunehmen.
Was für eine wunderbare Tochter Sie haben …!
Es kostete ihn Mühe, nicht angeekelt das Gesicht zu verziehen. Als er mit Isabelle am Arm die breite, geschwungene Treppe hinaufging und am oberen Ende Kommissarin Voss stehen sah, verspürte er einen Anflug von Unbehagen. »Bitte entschuldige mich kurz«, sagte er zu Isabelle. »Geh schon mal vor, ich bin gleich wieder bei dir.« Er wartete, bis sie weitergegangen war, und wandte sich an Voss. »Sie hier? Gibt es …«
Sie hob eine Hand und brachte ihn zum Schweigen, bevor er die Leute ringsherum beunruhigen konnte. »Nein. Es ist alles in Ordnung«, sagte sie laut. Dann jedoch beugte sie sich dichter zu ihm und senkte die Stimme. »Es gibt keinerlei Hinweise auf einen bevorstehenden Anschlag. Aber ich habe das Gefühl, dass weitere Mitglieder von Prometheus hier auftauchen könnten. Vielleicht erhalten wir Gelegenheit, sie zu identifizieren.«
Sie beobachtete seine Reaktionen genau, das sah er ihr an. In ihren Augen musste er ebenso verdächtig sein wie alle anderen Beteiligten, die sie im Laufe der letzten Tage befragt hatte. Oder ebenso unverdächtig.
Er hielt ihrem forschenden Blick stand. »Ich wünsche Ihnen viel Glück dabei.«
Sie nickte. »Danke. Ist Dr. Falkenberg auch hier?«
Verdächtigte sie auch Nina? Kaum vorstellbar, oder? Immerhin hatte Nina ihr in den vergangenen Wochen mehr als einmal mit ihrer Sachkenntnis und wichtigen Informationen weitergeholfen. »Ich glaube, sie wollte kommen, aber ich habe sie noch nicht gesehen.« Er fuhr sich über Mund und Kinn. Nina war ihm schon vorher nur schwer aus dem Kopf gegangen, aber seit er mit ihr geschlafen hatte, dachte er nahezu ununterbrochen an sie. Er ahnte allerdings, dass eine Beziehung mit ihr zum Scheitern verurteilt wäre. Sein Anblick würde Nina immer an den gewaltsamen Tod ihres Ziehvaters und an all die Brutalität erinnern, die sie erlebt hatte. Er war sich immer noch nicht sicher, ob er ihr das zumuten wollte. Zweimal allerdings hatte er sie angerufen und sich danach erkundigt, wie es ihr ging. Beide Male waren es sonderbar befangene Telefonate gewesen, und die schwer erträglichen Gesprächspausen hatten seinen Entschluss, Nina in Ruhe zu lassen, nur noch wachsen lassen. Die Vorstellung jedoch, sie heute Abend wiederzusehen, erfüllte ihn mit kribbeliger Vorfreude.
»Okay«, sagte Voss.
»Ich halte mit Ihnen die Augen offen«, versprach er.
Voss nickte. »Tun Sie das!«
Als er zu Isabelle zurückkehrte, ertappte er sich dabei, dass er nach Nina Ausschau hielt.
»Hey! Was wolltest du von der Polizistin?« Isabelle hakte sich bei ihm unter, was eher der Tatsache geschuldet war, dass sie Schuhe mit absurd hohen Absätzen trug, als ihrem Wunsch, ihm körperlich nahe zu sein.
»Nichts«, antwortete er. »Nur Hallo sagen.« Er roch Isabelles Parfüm, das mit seiner Sandelholznote ein ganzes Stück aufdringlicher war als der sanfte Duft von Ninas Haut …
Zu seinem Glück merkte Isabelle nicht, wohin seine Gedanken schon wieder drifteten. Sie schien zufrieden mit seiner Antwort und scannte die Menschenmenge auf der Suche nach wichtigen Persönlichkeiten, denen sie sich vorstellen konnte.
Mit ihr am Arm durchquerte Tom einen kleineren Vorraum und betrat den Saal, in dem locker verteilt Steh- und Bistrotische aufgebaut waren. Allesamt waren sie weiß eingedeckt und versehen mit ebenfalls weißen Blumen in kleinen blauen Vasen. Stapel blauer Flyer mit Infos über die Ziele der Pandemic Fighters lagen herum, und vorn auf der Bühne hing eine große Leinwand, auf der die stilisierte Welle zu sehen war, das Logo der Fighters. Eine deutschlandweit bekannte Band, die Max pro bono hatte gewinnen können und die schon seit Wochen auf allen Kanälen Stimmung für ihre Sache machte, stand auf der Bühne und spielte verjazzte Coverversionen bekannter Pop-Hits. Kellner und Kellnerinnen mit knöchellangen schwarzen Schürzen liefen umher und versorgten die Anwesenden mit Getränken.
Da Tom ahnte, dass Isabelles Füße in den High Heels bereits schmerzen mussten, führte er sie zu einem der Bistrotischchen und zog ihr einen Stuhl darunter hervor.
Sie schien angetan von der galanten Geste. Im Hinsetzen lächelte sie ihm zu.
»Ingwertee?«, fragte er. Isabelle trank selten Alkohol, und Ingwertee war eines ihrer Lieblingsgetränke.
»Oh ja! Wenn du einen auftreiben könntest, wäre das großartig!«
»Hey, ich bin Foodhunter, schon vergessen?« Er grinste sie an, aber wie seit Monaten schon prallte der Scherz an ihr ab. Obwohl er sich mittlerweile daran gewöhnt hatte, dass sie nicht mehr über seine Witze lachte, kam er sich vor, als hätte sie ihm kaltes Wasser ins Gesicht geschüttet. »Ich bin gleich wieder da«, versprach er und verließ den Saal, um zu dem Getränkestand draußen zu gehen. Es wäre nicht nötig gewesen, er hätte einfach eine der Kellnerinnen ansprechen können, aber er brauchte einen Moment Abstand von seiner Frau.
Draußen im Vorraum fiel sein Blick auf Dr. Heinemann, der einen Stapel Moderationskarten in der Hand hielt und offenbar dabei war, die Rede, die er gleich auf der Bühne halten sollte, noch einmal durchzugehen. Tom wollte sich an ihm vorbeistehlen, aber der Arzt entdeckte ihn. »Herr Morell!«
»Dr. Heinemann! Ich wollte Sie nicht stören.«
»Tun Sie nicht.« Das Gesicht des Arztes glühte, und Tom konnte sich vorstellen, wie sehr ihm das alles hier gefallen musste. »Ich wollte Sie heute Nachmittag noch angerufen haben, leider bin ich nicht mehr dazu gekommen.«
»Warum?« Sofort schaltete alles in Tom in den Alarmmodus. Gab es schlechte Nachrichten von seiner Tochter?
»Nicht, was Sie denken! Es ist alles gut mit Sylvie! Im Gegenteil: Ich wollte Ihnen sagen, dass sich ihre Werte noch einmal verbessert haben.«
Tom wurden die Knie weich.
Heinemann glühte nun noch mehr vor Stolz. Kein Wunder, dachte Tom. Diesem Mann war es offenbar nicht nur gelungen, einem fünfzehnjährigen Mädchen das Leben zu retten. Er hatte darüber hinaus einen hochgefährlichen pan-resistenten Keim mit Hilfe einer bisher stark unterschätzten Heilmethode in den Griff bekommen und damit einen Präzedenzfall geschaffen, der ihn in der Fachwelt mit Sicherheit weltberühmt machen würde.
Da Tom nicht wusste, wohin mit seinen Emotionen, entschied er sich für einen Scherz. »Und? Haben Sie sich schon überlegt, was Sie mit dem Medizinnobelpreis machen?«
Zu seiner Verwunderung huschte ein Schatten über Heinemanns Gesicht, der so gar nicht zu seiner Begeisterung passte. Tom zog die Augenbrauen zusammen. Täuschte er sich, oder war der Arzt da eben gerade zusammengezuckt?
»Ist alles in Ordnung?«, fragte er, und wieder schlugen seine Sinne Alarm.
Und da war es wieder. Ganz eindeutig: Über Heinemanns Gesicht fiel – ganz kurz nur – ein Anflug von schlechtem Gewissen.
»Natürlich. Natürlich!« Heinemann deutete auf die Karten in seiner Hand. »Bitte entschuldigen Sie, ich muss …«
»Klar.« Tom war schon halb auf der Empore vor dem Saal, als Dr. Heinemann ihm nachrief:
»Herr Morell?«
Er blieb stehen. »Ja?«
Und bevor der Arzt sich endgültig seiner Rede zuwandte, sagte er etwas sehr Sonderbares: »Es tut mir leid!«
Nina hatte gleich zwei gute Gründe, warum sie nicht auf der Gala war.
Da war zum einen Tom. Sie fühlte sich unangenehm zerrissen allein bei dem Gedanken daran, ihn zu treffen. Einerseits wollte sie nichts lieber, als diesen Kerl wiederzusehen. Und gleichzeitig schmerzte es jedes Mal, wenn sie auch nur an ihn dachte. Er würde mit seiner Frau da sein, das hatte Max ihr erzählt. Sie würde sich also zusammenreißen müssen, damit niemand merkte, was sie für Tom empfand. Keine angenehme Vorstellung.
Der wahre Grund allerdings, warum sie noch immer hier in Ethans Wohnung am Schreibtisch saß, war ihre Arbeit. Seit heute Vormittag schon schrieb sie an ihrer Reportage, und sie kam gut voran. Sie hatte genau den richtigen Tonfall gefunden, einen, der den ganzen schwierigen Stoff nach den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaftskommunikation aufbereitete. Sie konnte jetzt nicht einfach aufstehen und auf diese Gala gehen, weil sie dann mit Sicherheit den Flow verlor.
Wem machte sie hier eigentlich was vor? Schon indem sie an die Gala dachte, war sie schließlich aus dem Flow.
Seufzend zwang sie ihre Gedanken zum hundertsten Mal zurück zu ihrer Arbeit. Für den Mittelteil der Reportage hatte sie die Videoaufnahmen auf ihrem Notebook gesichtet, die sie von den Mitarbeitern bei YouGen gemacht hatte. Sie hatte einige der Leute gebeten, ihre Arbeit für Laien verständlich zu erklären, was mal mehr, mal weniger gut gelungen war. Jetzt, beim Durchgehen der Aufnahmen, musste sie schmunzeln. Fast allen war das Unbehagen anzusehen, mit dem sie in die Kamera starrten. Wie viele Wissenschaftler, die Nina kannte, waren auch Ethans Leute völlig ungeübt darin, sich in die Köpfe von Laien hineinzudenken; entsprechend fielen ihre Beiträge aus, die mit Fachbegriffen nur so gespickt waren. Mit der richtigen Fragetechnik jedoch war es Nina gelungen, ein paar eingängige Zitate und bildhafte Vergleiche zu erhalten, die sie gut verwenden konnte.
Das letzte Interview, das nun noch übrig war, war eines, das sie mit Ethan geführt hatte, kurz vor seiner Verhaftung durch die Polizei. Sie klickte es an.
Ethan war es gut gelungen, für Nichtwissenschaftler verständlich zu erklären, was genau sie eigentlich getan hatten. Mit der ihm eigenen Art von Eigenmarketing natürlich. »Wir arbeiten hier sozusagen am Heiligen Gral der Phagenforschung«, hatte er mit einem selbstbewussten Lächeln in die Kamera gesagt. »Intravenös verabreichte Phagen, die über die Blutbahn auch Infektionsherde tief im Körper des Kranken erreichen und angreifen können. Dazu war es notwendig, bei den Phagen, die wir Sylvie Morell verabreichen wollten, einen extrem hohen Reinheitsgrad zu erreichen, und wir haben das geschafft, indem wir in kürzester Zeit eine hochinnovative neue Methode dafür entwickelt haben.« Während er ganz lässig und selbstverständlich in die Kamera sprach, deutete er auf die unspektakulär aussehende schlanke Reinigungssäule in der sterilen Clean-Bench hinter sich.
»Kommen wir doch mal zu dir«, hörte Nina ihre eigene Stimme von hinter der Kamera. »Viele Gründer, die wie du ein innovatives Start-up auf die Beine stellen, sind schon früh für ihr Thema entflammt. Wie war das bei dir? Hattest du schon als Jugendlicher ein Labor in der Garage deiner Eltern?«
An dieser Stelle lachte Ethan. »Ich fürchte, damit kann ich nicht dienen. Im Gegenteil, ich bin so was wie ein Spätberufener. Ich habe erst angefangen, Wirtschaftswissenschaften zu studieren, bevor ich bei der Mikrobiologie gelandet bin.« Er kratzte sich an der Unterlippe.
»Interessant«, sagte Nina auf der Aufnahme. »Warum hast du gewechselt?«
»Keine Ahnung.« Er grinste sie an. »Vielleicht fand ich die Frauen interessanter, die Biologie studiert haben.«
»Hör auf, mit mir zu flirten, und beantworte meine Fragen!«
»Yes, Ma’am!« Lässig salutierte er.
Nina tippte auf das Trackpad des Notebooks und hielt die Aufnahme an.
Irgendwas hatte ihren journalistischen Instinkt geweckt. Nachdenklich betrachtete sie Ethans mit halb offenem Mund erstarrtes Gesicht. Dann zog sie den Regler ein kleines Stück zurück und ließ die Aufnahme erneut laufen.
»… bin vielleicht so was wie ein Spätberufener. Ich habe erst angefangen, Wirtschaftswissenschaften zu studieren, bevor ich bei der Mikrobiologie gelandet bin«, sagte Ethan noch einmal, und wieder kratzte er sich.
Nina kniff die Augen zusammen. Hatte er an dieser Stelle gelogen? Fast sah es so aus.
Sie dachte daran, wie Kommissarin Voss und ihre Leute ihn abgeführt hatten. Und dann dachte sie an Voss’ Befürchtung, Ethan könne noch ein Ass im Ärmel haben und Prometheus sei noch nicht besiegt.
Das Jagdfieber packte sie. Sie rief die Website von YouGen auf und las sich durch, was dort über die Geschichte der Firma stand. Es deckte sich mit dem, was Ethan eben erzählt hatte: Er hatte ein Studium der Wirtschaftswissenschaften begonnen, bevor er seine Leidenschaft für die Mikrobiologie entdeckt hatte.
Mit den Fingerspitzen tippte Nina sich gegen das Kinn. Irgendwie war sie noch nicht zufrieden. Sie rief die Seite des Internetarchivs auf, gab dort die Adresse von Ethans Website ein. Innerhalb von Sekunden hatte sie eine Liste mit früheren Versionen von YouGens Internetauftritt vor sich. Sie klickte eine davon an, und als sie sich dort die Entstehungsgeschichte von YouGen durchlas, nahm ihr Jagdfieber noch zu.
Ethan Myers hat sich schon im Alter von dreizehn Jahren für alles interessiert, was man unter dem Mikroskop betrachten konnte, stand dort.
»Warum hast du gelogen?«, murmelte Nina. Und was noch viel interessanter war: Er hatte nicht nur an dieser Stelle ihres Interviews gelogen. Sondern er hatte auch die Informationen über sich selbst auf der Website geändert.
Warum bloß? Was wollte er damit verschleiern?
Eine Weile lang grübelte Nina über diese Frage nach, dann gab sie sich einen Ruck. Sie wählte eine Nummer, die sie noch von früher auswendig kannte. Gleich nach dem zweiten Klingeln meldete sich jemand.
»De Luca?«
»Costa, ich bin’s!«
»Nina! Mein Augenstern! Du hast aber lange nichts von dir hören lassen!« Costa de Luca war einer ihrer Dozenten auf der Journalistenschule in Hamburg gewesen. Er war knapp sechzig, ein paarmal im Leben mächtig auf die Nase gefallen und arbeitete nun schon seit Jahren für eine Boulevardzeitung, die Nina nicht mal mit der Kneifzange angefasst hätte. Aus irgendeinem Grund hatte Costa sie in sein riesiges Herz geschlossen, und als Quelle bei Recherchen hatte er sich schon öfter als nützlich erwiesen.
»Ich weiß, Costa. Und jetzt rufe ich auch nur an, weil ich deine Hilfe brauche.«
»Die Welt ist schlecht!«, beklagte der ältere Journalist sich. Dann kicherte er. »Sprich, Mädchen! Womit kann ich dir helfen?«
»Es geht um Ethan Myers.«
»Diesen Kerl, den sie wegen der Bioterroranschläge in Berlin verhaftet haben?«
»Ja. Deine Kollegen haben ihn doch nach seiner Verhaftung bestimmt durchleuchtet, oder? Weißt du jemanden hier in Berlin, der mir sagen könnte, ob seine Mutter noch lebt? Und vor allem, wo?«
»Hm. Bestimmt. Woran sitzt du? Du klingst nicht, als würdest du an einem weiteren von deinen langweiligen Wissenschaftsartikeln schreiben.« Costa war ihr eine Weile regelrecht böse gewesen, dass sie sich gegen eine Karriere bei seiner Zeitung entschieden hatte.
»Weiß ich noch nicht genau«, wich sie aus. »Im Moment folge ich nur einem vagen Gefühl.« Allerdings: So vage war das Gefühl mittlerweile gar nicht mehr. Je länger sie über Ethans Lüge nachdachte, umso sicherer war sie, dass sie etwas von Bedeutung entdeckt hatte.
»Du hattest schon immer einen guten Riecher«, sagte Costa. »Ich rufe dich gleich zurück.«
Nur fünf Minuten später hatte sie ihn wieder am Telefon. »Seine Eltern sind schon lange tot«, begann er ohne Umschweife. »Und Geschwister hatte er nicht.« Nina wollte schon resigniert seufzen, doch er fuhr fort: »Aber meine unfassbar guten Kollegen in Berlin haben eine Schulfreundin von ihm ausfindig machen können. Eine Frau namens, Moment … Carla Buhrow. Scheint seine erste Liebe gewesen zu sein. Das volle Programm, Knutschen und Fummeln, du weißt schon. Die Frau hat uns ein paar sehr pikante Details erzählt. Wenn du willst, gebe ich dir ihre Nummer.«
»Das wäre wunderbar!« Sie kritzelte die Zahlen auf ein Stück Papier. Eine Schulfreundin, noch dazu eine, mit der er offenbar etwas gehabt hatte, konnte ihr vielleicht mehr darüber sagen, wie Ethan als junger Mensch getickt hatte. Zwar hatte sie keine Ahnung, wohin sie das führen würde, aber sie folgte jetzt einfach der Fährte, deren Witterung sie aufgenommen hatte. Sie musste grinsen. Vermutlich hatte Costa recht und sie wäre wirklich eine gute Boulevardjournalistin geworden.
»Hast du das?«, fragte ihr ehemaliger Mentor, nachdem er ihr auch die letzte Zahl genannt hatte.
»Ja. Danke.«
»Wenn du an was Heißem dran bist, erfahre ich es aber zuerst, ja?«
»Versprochen!« Nina bedankte sich und legte auf. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass die Gala in einer Viertelstunde beginnen würde. Sie starrte auf das Kleid, das sie sich dafür auf ihrem Bett zurechtgelegt hatte, und schüttelte den Kopf über sich selbst. Dann wählte sie die Telefonnummer, die Costa ihr gegeben hatte.
Tom hatte nicht viel Zeit, sich über Dr. Heinemanns seltsame Worte zu wundern, weil Kommissarin Voss auf ihn zukam und ihn ansprach. »Eins habe ich eben vergessen. Ich dachte, das interessiert Sie vielleicht: Die Kollegen in Tiflis haben Jegor festgenommen. Offenbar hat er sich nach dem Mord an diesem Riesenbaby entschieden, das Land zu verlassen. Wir lassen gerade über das Auswärtige Amt klären, ob er an Deutschland ausgeliefert werden kann. Wenn das passiert, wird der Staatsanwalt Ihre Folter in seine Liste der Anklagepunkte mit aufnehmen.«
»Das ist gut. Sehr gut!« Warme Befriedigung überkam Tom. Heute schien der Tag der guten Nachrichten zu sein, und das versöhnte ihn beinahe mit der Tatsache, dass er hier sein musste, statt am Bett seiner Tochter zu sitzen.
»Sie sollten sich darauf gefasst machen, dass man für weitere Zeugenaussagen auf Sie zukommt.« Kurz glitt Voss’ Blick über seine Schulter hinweg. »Ich muss jetzt wieder zurück auf meinen Posten.«
»Und ich muss meiner Frau was zu trinken bringen.« Er bedankte sich bei der Kommissarin und machte sich auf die Suche nach einer Kellnerin, die er um den Tee bitten konnte. Nachdem er eine gefunden, seine Bestellung aufgegeben und erklärt hatte, wo er und Isabelle saßen, kehrte er zu seiner Frau zurück.
»Da bist du ja endlich!«, sagte sie. »Wo warst du denn so lange? Es geht gleich los!«
Er ignorierte den vorwurfsvollen Tonfall. »Dein Tee kommt gleich«, sagte er und setzte sich. Den Spruch, dass Foodhunting eben seine Zeit brauchte, verbiss er sich. Heute war offenbar nicht nur der Tag der guten Nachrichten, sondern auch der der scherzhaften Fehlzündungen bei ihm: Dass Isabelle nicht über seine Witze lachte, kannte er ja schon, aber auch bei Dr. Heinemann war er mit seinem flotten Spruch von dem Medizinnobelpreis gerade eher ins Fettnäpfchen getreten. »Ich habe eben Dr. Heinemann gesprochen. Er sagt, dass die Werte bei Sylvie sich weiter vielversprechend entwickelt haben. Er glaubt jetzt, dass er sie retten kann.«
»Oh, Tom! Das ist wunderbar!« Schlagartig schossen Isabelle Tränen in die Augen und erinnerten ihn daran, wie sehr er diese Frau einmal geliebt hatte. Sie drückte seinen Arm.
»Ja, das ist es.« Tom entdeckte, dass Maren Conrad nur ein paar Tische weiter saß. In der Hand hielt sie eine schlanke Sektflöte, mit der sie ihm zuprostete.
Tom grüßte sie mit einem Nicken. Sie sah ungewöhnlich blass aus, fand er und ließ den Blick weiter schweifen.
Von Nina immer noch keine Spur. Wo blieb sie bloß?
Vorn auf der Bühne trat Max ans Mikrofon. »Guten Abend!«, begrüßte er die anwesenden Gäste, bevor er sich räusperte. Tom konnte sehen, wie nervös er war. »Verehrte Bundestagsabgeordnete, meine geehrten Damen und Herren. Sehr verehrter Herr Dr. von Zeven. Wie wunderbar, dass Sie alle kommen konnten.«
Bei der Nennung des letzten Namens reckte Tom den Hals. Ganz vorn hatte ein Mann Platz genommen, den er nur von Fotos kannte. Er war an die siebzig, großgewachsen und schlank. Seine Haare schimmerten schneeweiß, und er strahlte eine Menge Selbstbewusstsein und Würde aus. Da weiß jemand genau, dass er in seinem Leben Großes geleistet hat, dachte Tom.
»Das ist Frederic von Zeven«, flüsterte Isabelle ihm ins Ohr. »Der Milliardär. Er finanziert das hier alles!«
Tom nickte.
Ob Kommissarin Voss den Mann immer noch verdächtigte, Ethans Auftraggeber zu sein? Er verbannte diese Frage aus seinem Kopf und konzentrierte sich auf die Veranstaltung.
Die gemauerte Gartenlaube mit der Nummer 63 lag hinter einer mannshohen Hecke vor Blicken gut verborgen. Was Nina zugutekam. Sie hatte am Telefon kurz mit Ethans Schulfreundin, dieser Carla Buhrow, sprechen können. Nachdem sie der Frau klargemacht hatte, dass sie nicht an Ethans Verbrechen interessiert war, sondern dass sie, ganz im Gegenteil, an einer Reportage arbeitete, die seine Verdienste darlegen würde, war Carla etwas gesprächiger geworden.
»Hat Ethan sich schon als Jugendlicher für Biologie interessiert?«, hatte sie die Frau gefragt.
Die hatte aufgelacht. »Und wie! Manchmal hat das echt genervt, wenn er wieder mal nicht mit mir und der Clique ins Kino konnte, weil er irgend so ein wichtiges Experiment überwachen musste.«
»Dann hatte er damals schon ein eigenes Labor?«
»Klar! Er war superstolz drauf.«
»Auf der Website seiner Firma steht, dass er zuerst Wirtschaftswissenschaften studiert hat«, sagte Nina, und Carla stieß einen verwunderten, kleinen Kiekser aus.
»Wirtschaftswissenschaften? Das kann nur ein Fehler sein! Ethan hatte nichts anderes als dieses Labor im Kopf, und das, seit er dreizehn war!«
Also doch!
»Wo befand sich dieses Labor?«, fragte Nina mit mühsam unterdrückter Erregung. Sie erwartete, etwas zu hören wie: In seiner Garage natürlich! Aber sie täuschte sich.
»Seine Mutter wollte dieses ganze Zeug damals nicht in ihrer Nähe haben«, sagte Carla. »Darum hat Ethan es in einer Laube aufgebaut, die seiner Familie gehört hat. Stunden, manchmal ganze Tage hat er dort verbracht, das können Sie mir glauben!«
»Wissen Sie, wo sich diese Laube befand?«
»Klar. Wir haben da ja oft rumgemacht.« Carla hatte leise gekichert an dieser Stelle und sich offenbar in ihren Erinnerungen verloren. Nina hatte auf die Antwort warten müssen. »In der Schrebergartenanlage am Tempelhofer Flughafen«, hatte Carla schließlich geantwortet, und auf Ninas Nachfrage hatte sie ihr sogar die Nummer der Parzelle genannt, auf der die Laube stand. Nina hatte sich bei der Frau bedankt und sich auf der Stelle ein Taxi gerufen.
Und hier stand sie nun. Ihr Herz klopfte angestrengt, und sie kämpfte gegen das Engegefühl in der Brust an. Warum hatte Ethan seine Biografie geändert? Was gab es für einen Grund dafür?
Nina dachte daran, wie Kommissarin Voss und ihre Kollegen YouGen durchsucht hatten, um dort Hinweise auf Ethans Terroristentätigkeit zu finden. Ob das vergebliche Mühe gewesen war? Weil Ethan seine Anschläge hier vorbereitet hatte? In einer Gartenlaube, deren Existenz er mit allen Mitteln versucht hatte zu verschleiern?
Sämtliche Fenster des kleinen Gartenhauses waren von innen mit schwarzem Karton zugeklebt.
Nina rieb sich die vor Aufregung verkrampfte Nackenmuskulatur. Zögernd hakte sie die Gartenpforte auf und betrat das ungepflegte Grundstück, das inmitten all der anderen spießig aufgeräumten wie ein Fremdkörper wirkte. Ein Wunder, dass der Kleingartenverein Familie Myers noch keine Kündigung geschickt hatte. Nina umrundete die Laube einmal auf der Suche nach einem Weg hinein. Natürlich gab es keinen. Sämtliche Fenster waren nicht nur zugeklebt, sondern auch sorgfältig verschlossen.
Ihr Blick fiel auf einen faustgroßen Stein, der auf der Rückseite der Laube in einem der verwilderten Beete lag.
Sollte sie?
Sie brauchte nur kurz, um ihre Skrupel zu überwinden. Sie packte den Stein, zerschlug damit eine der rückwärtigen Fensterscheiben, griff hindurch und öffnete den Riegel. Nur Sekunden später stand sie im Inneren der Laube. Düsternis umfing sie, aber Nina standen trotzdem die Haare im Nacken zu Berge.
In der Laube roch es nach Lindenblüten.
Nach den üblichen langweiligen Begrüßungsreden verschiedener Honoratioren, die auf einer Veranstaltung wie dieser vermutlich obligatorisch waren, kündigte Max den Hauptteil des Abends an. »Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen nun Dr. Helge Heinemann vorstellen. Er ist Professor für Infektiologie und Pneumologie und leitender Arzt am Loring-Klinikum, und er wird Ihnen eine kurze Einführung in das Thema der Antibiotikaresistenzen geben. Dr. Heinemann. Bitte.«
Heinemann trat auf die Bühne.
In Toms Augen wirkte er seltsam nervös für einen Mann, der gewöhnlich Vorlesungen vor Studenten hielt. Trotzdem hörte Tom nur mit halbem Ohr zu, als Heinemann zu reden begann. All dieses Zeug über neue resistente Keime in aller Welt, über zu viele Antibiotika in der Landwirtschaft und über Superkeime in den Kliniken hatte er schon so oft gehört, dass er den Vortrag hätte mitsprechen können. Darum ließ er seinen Blick schweifen und versuchte, sich ein Bild davon zu machen, wen Max und seine Leute bereits in der Tasche hatten und wen noch nicht.
Die anwesenden Bundestagsabgeordneten, Sandro Griese eingeschlossen, hörten zu, auch wenn sie das eher routiniert als begeistert taten. Ein paar von ihnen immerhin schienen mit Heinemanns Worten einverstanden zu sein. Tom sah immer wieder einmal jemanden beifällig nicken. Die TV-Sternchen dagegen schienen sich genauso zu langweilen wie er selbst. Sie unterhielten sich wispernd miteinander. Eleni, die Erfolgsbloggerin, vertrieb sich die Zeit damit, ihren Instagram-Account zu checken. Maren unterhielt sich leise flüsternd mit Frederic von Zeven. Max selbst saß angespannt auf seinem Platz ganz vorn an der Bühne und fieberte auf seinen Part in dieser durchgeplanten Inszenierung hin.
Kommissarin Voss hatte sich hinten im Saal an der Tür postiert und überwachte alles von dort aus. Als ihre Blicke sich kurz begegneten, nickte sie Tom zu.
Von Nina noch immer keine Spur.
»So viel an reinen Sachinformationen«, sagte Dr. Heinemann irgendwann. »Ich möchte Ihnen jetzt jemanden vorstellen, der aus Gründen, die Sie gleich nachvollziehen werden, nicht persönlich anwesend sein kann.« Er nahm die Fernbedienung des Beamers zur Hand und drückte darauf.
Auf der Leinwand verschwand das Fighters-Logo, und das Bild einer jungen Frau in einem weißen Kleid erschien. Untermalt von Klaviermusik in Moll ging sie durch ein Kornfeld und ließ ihre Finger durch die reifen Ähren streifen. Ihr Gesicht war nicht zu sehen, da sie von hinten gefilmt war, und obwohl Tom wusste, dass die junge Frau nicht Sylvie war, zog sich sein Herz zusammen.
Auch Isabelle neben ihm holte zitternd Luft.
Die junge Frau verschwand in der Ferne, die Musik schwoll zu einem dramatischen Höhepunkt an und brach ab.
Das Bild wurde ersetzt von Sylvies Gesicht.
»Hallo, Leute«, sagte sie in die Kamera. »Ich fürchte, heute habe ich nicht so gute Nachrichten für euch …«
Die nächsten zehn Minuten folgte ein geschickt aus Schnipseln von Sylvies Vlog zusammengeschnittener Film, der Tom die Tränen in die Augen trieb. Er merkte erst, dass er die Hand auf Isabelles Oberschenkel gelegt hatte, als sie danach griff und sich daran festklammerte. Wie gut, dass die Therapie mit den Phagen anschlug! Er hätte nicht gewusst, wie er diesen hochemotionalen Film überstanden hätte ohne die berechtigte Hoffnung, dass Sylvie leben würde.
Seine Augen brannten dennoch.
Unauffällig sah er sich um. In etlichen Gesichtern spiegelte sich Betroffenheit, vor allem in denen der TV-Sternchen, die das Ganze für ihren Instagram-Account fleißig mitfilmten. Zwei Abgeordnete aus dem Gefolge von Sandro Griese wischten sich sogar verstohlen über die Augen, und Tom sah mehr als einen gestandenen Kerl schwer schlucken. Sandro Griese selbst hingegen schüttelte angewidert den Kopf.
Max würde sich noch ziemlich anstrengen müssen, um ihn zu überzeugen, für das Gesetz zu stimmen, dachte Tom.
Der Film endete mit Sylvies letztem Vlogeintrag und ihren gefasst vorgetragenen Worten, dass sie sich darauf vorbereitete zu sterben. Ihr Gesicht war gezeichnet von der schweren Krankheit. Ihre Augen wirkten riesengroß über den hervorstehenden Wangenknochen. »Ich habe keine Ahnung, ob das hier vielleicht mein letzter Beitrag für euch ist. Falls ja, seid nicht traurig, okay? Denkt immer daran: Im Leben hat alles einen Sinn, auch wenn wir ihn im Moment vielleicht noch nicht begreifen.« Dann wurde die Leinwand schwarz.
Isabelle seufzte schwer. Tom rieb sich die Augen.
Max erhob sich von seinem Platz und stieg zu Heinemann auf die Bühne. Ganz kurz huschte der Blick Heinemanns über die Menge und blieb an Tom hängen.
Es tut mir leid, hallten seine Worte in Tom wider.
Und als er hörte, was Max nun sagte, wurde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. »Du verdammter Scheißkerl!«, flüsterte er.
Nina hatte es in der Sekunde gewusst, als sie den Lindenblütengeruch wahrgenommen hatte, und doch traf der Anblick in der Gartenlaube sie völlig unvorbereitet. In der Luft lag ein leises, stetiges Summen, ganz ähnlich wie in vielen Labors, in denen sie schon gearbeitet hatte. Über einem Schreibtisch an der Wand hing ein Poster: ein halbnackter Mann, der an einen Felsen gefesselt war. Ein Adler auf einem Vorsprung über ihm blickte gierig auf ihn nieder.
Der Kupferstich, den Ethan auf all seinen Botschaften, auf den Flyern und auf dem YouTube-Kanal verwendet hatte.
Prometheus. Der Lichtbringer.
Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Eine innere Stimme warnte sie, dass sie Dinge sehen würde, die sie nicht sehen wollte, und trotzdem wandte sie sich dem Schreibtisch zu. Ein aufgeklapptes Notebook stand darauf, dessen Bildschirm schwarz war. Als Nina die Maus antippte, wurde der Bildschirm hell und zeigte sich ständig aktualisierende Kurven mit exponentiellem Wachstum. Ganz offensichtlich diente das Notebook als Überwachung für ein noch laufendes Experiment.
Bevor sie sich näher damit befassen konnte, fiel ihr Blick auf einen übergroßen Papierbogen, der direkt neben dem Notebook lag. Ethan hatte mit Textmarkerfarbe ein dickes neonrotes Kreuz quer über die Zeichnung darauf gemalt. Nina betrachtete das Gewirr aus haarfeinen blauen Linien, Zahlen und Buchstaben. Ein Bauplan, der von dem roten Kreuz teilweise überdeckt, aber nicht unlesbar gemacht worden war. Sie beugte sich über die Zeichnung und las die dazugehörige Legende: Klimaanlage.
Hauptzuleitung Saal stand in winziger, kaum lesbarer Schrift neben einer dicken doppelten Linie, die sich in vier Richtungen verzweigte. Darüber hinaus gab es nur kryptische Bezeichnungen, von denen Expansionsventil und Hauptgebläse noch die verständlichsten waren.
Verwirrt blätterte sie den Plan halb um. Darunter kam ein zweiter zum Vorschein, sie sah ganz ähnliche Linien. Eine weitere technische Zeichnung. Diese hatte Ethan mit einem grünen Textmarkerkreuz versehen.
Sprinkleranlage, stand auf diesem Plan.
Auf keinem von beiden war zu erkennen, wo die Anlagen standen, doch in Nina keimte ein Verdacht. Öffentliche Gebäude hatten Klima- und Sprinkleranlagen. Rathäuser zum Beispiel …
Plötzlich war ihr kalt. Sie hob den Blick und heftete ihn auf den wieder dunkel gewordenen Monitor des Notebooks, dann auf einen schwarzen Samtvorhang, der die Wand rechts von ihr bedeckte. Das schwache Summen, das sie schon die ganze Zeit wahrgenommen hatte, kam von dort.
Sie streckte die Hand nach dem Vorhang aus. Um ihn zur Seite zu ziehen, brauchte sie all ihren Mut.
Mit einer Mischung aus kalter Wut und Fassungslosigkeit hörte Tom, wie Max sagte: »Meine sehr verehrten Damen und Herren. Ich möchte Ihnen Sylvie Morell nun persönlich vorstellen.«
Er ließ sich von Dr. Heinemann die Fernbedienung des Beamers geben. Am Rande nur nahm Tom wahr, dass Maren sich von ihrem Platz erhob und den Saal verließ. Wie gebannt hing sein Blick an der Leinwand, auf der erneut seine Tochter zu sehen war. Diesmal jedoch lag sie in den Kissen, und ihr Blick wirkte verhangen. »Hallo, Sylvie«, sagte Dr. Heinemanns Stimme aus dem Off. »Willkommen zurück.«
Sylvies Blick irrlichterte umher, dann schien er das Gesicht des Arztes zu finden. Er fokussierte sich. Ihre Lippen teilten sich, aber sie brachte nur ein Krächzen heraus.
»Sylvie?«, fragte Heinemann, dann zoomte die Kamera auf seine Hand und zeigte, wie sie die von Sylvie ergriff. »Kannst du mich verstehen? Wenn ja, drück bitte meine Hand.«
Zwei, drei Sekunden verstrichen, dann war zu sehen, wie sich Sylvies schmale Finger um die des Arztes schlossen.
Das Bild fror ein.
Mit einem Lächeln sagte Max: »Diese Aufnahmen, meine Damen und Herren, wurden vor einer guten Stunde gemacht.«
Isabelle neben Tom hatte die Hände vor den Mund geschlagen. Jetzt stieß sie ein leises Wimmern aus. »Sie ist wach, Tom! Sie ist wach!«
Ja, dachte er wütend. Und wir waren nicht bei ihr, als sie aufgewacht ist.
»Max, du verdammter Scheißkerl!«, wiederholte er. Diesmal flüsterte er die Worte nicht, sondern sprach sie laut aus.
Etliche Gesichter wandten sich ihm zu. In dieser Sekunde vibrierte das Handy in seiner Hose.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte Nina auf die beiden silbernen Säulen, die neben mehreren Laborkühlschränken in der Nische hinter dem Vorhang standen. Es waren Fermenter, und sie waren mit zwei DIN-A4-Zetteln versehen. Auf einem prangte ein rotes Kreuz, auf dem anderen ein grünes. In dem mit dem roten Kreuz befanden sich noch zwei Handbreit gelblich-trübe Flüssigkeit. Nur mit Mühe riss Nina den Blick davon los, wandte sich den Wachstumskurven auf Ethans Notebook zu und las nun auch deren Beschriftung. Pseudomonaden. Es waren Wachstumskurven von Pseudomonaden. Mit zitternden Händen verkleinerte Nina das Fenster und entdeckte weitere offene Dateien. Gensequenzierungen. Erneut von Pseudomonas und auch welche von Phagen. Sie schaute genauer hin. Es waren die Phagen von Georgys Probe 12. Ihre Hand glitt über den oberen der beiden Pläne, die neben dem schlanken Computer auf dem Tisch lagen.
Ein rotes Kreuz. Und ein grünes.
Plötzlich ergab alles einen furchtbaren Sinn. Mit zitternden Händen nahm Nina ihr Handy, wählte Toms Nummer. Es klingelte und klingelte und gerade, als sie schon fürchtete, er würde nicht rangehen, tat er es doch. »Nina? Ich kann jetzt n…«
»Es ist die Gala!«, fiel sie ihm ins Wort.
»Ich verstehe nicht …«
»Die Gala, Tom!« Ihr Blick glitt noch einmal zu den beiden markierten Fermentern.
Einer mit einem roten Kreuz.
Und einer mit einem grünen.
Sie streckte die Hand nach dem Bildschirm des Notebooks aus und hatte Mühe, nicht zu Boden zu gehen. Pseudomonas. Phagen. »Ethan hat einen Anschlag auf die Gala geplant!«
»Was?«, meinte Tom. Und dann: »Moment! Ich gehe mal irgendwohin, wo ich dich besser verstehen kann.« Sie hörte seine Schritte, dann seinen Atem. Er klang laut in ihren Ohren.
Oder war es ihr eigener?