Isabelle warf ihm einen finsteren Blick hinterher, weil er ausgerechnet jetzt telefonieren musste, aber dann drehte sie sich wieder nach vorn. Sie wirkte völlig gebannt von dem, was auf der Bühne geschah.
Tom jedoch war eiskalt.
Ethan hat wirklich …, hatte Nina gesagt.
Er hatte sie nur abgehackt hören können. Er rieb sich die Augen – verdammt, warum brannten die immer noch so? –, während er sich durch die Zuschauermenge schlängelte und den Saal in der Hoffnung verließ, draußen auf der Treppe besseren Empfang zu haben.
Voss, die noch immer an der hinteren Wand stand, warf ihm einen fragenden Blick zu. Er bedeutete ihr mitzukommen. Am oberen Absatz der Freitreppe sagte er ins Telefon: »Hörst du mich, Nina?«
»Ja. Ja!«, haspelte sie. »Der Anschlag, Tom! Ich bin sicher, dass er heute Abend stattfinden sollte. Und zwar bei euch im Rathaus.«
»Erzähl!« Er wartete, bis Voss heran war, und schaltete den Lautsprecher ein.
»… bin in Ethans altem Labor. Hier stehen zwei Fermenter, und ich glaube, dass er damit Bakterienkulturen für einen Anschlag auf die Gala hergestellt hat.«
Voss’ Unterkiefer klappte herunter. »Es gibt ein zweites Labor? Wir hatten keine Hinweise auf ein zweites Labor!«
»Ja. Er hat sie verwischt. Die Anschläge in den Altersheimen, die Flyer, die Beiträge auf YouTube – sie haben alle nur der Vorbereitung auf das heute Abend gedient. Darum ist Ethan so verdammt gelassen, Frau Voss! Weil seine Komplizen die Sache zu Ende bringen werden. Sie müssen die Klimaanlage kontrollieren, sofort!«
»Wie kommen Sie darauf, Nina?«, schnappte Voss.
»Ist doch jetzt egal! Ich bin ziemlich sicher, dass die Klimaanlage mit Pseudomonaden verseucht ist!«
In Tom krümmte sich etwas. Pseudomonaden? Die Keime, die seine Tochter fast umgebracht hätten?
Fassungslos hörte er zu, was Nina nun erklärte.
»Wir haben gedacht, die Gala kann nicht das Ziel sein, weil das Motiv nicht stimmt«, sagte Nina. »Ethan wollte, dass dieses Gesetz durchkommt, darum ergibt es keinen Sinn, die Abgeordneten dorthin zu locken und sie dann zu infizieren, denn das würde ja bedeuten, dass die wichtige Abstimmung für das Gesetz nicht stattfinden kann. Aber damit lagen wir falsch.«
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Voss.
»Es ergibt durchaus Sinn. Warten Sie, ich schicke Ihnen was, dann sehen Sie es auch.« Voss’ Handy meldete den Eingang einer Nachricht.
Sie rief sie auf, starrte sekundenlang auf das Display, wischte zur Seite, starrte wieder. »Was zur Hölle …?«
»Die habe ich hier gefunden«, drang Ninas Stimme aus dem Lautsprecher.
Tom reckte den Hals. Das Bild auf Voss’ Handy zeigte einen Bauplan, der grün durchgekreuzt war. Voss wischte zurück und zeigte ihm auch das erste Foto. Ein weiterer Bauplan.
Ein rotes Kreuz.
»Ich kapier’s nicht, Nina«, presste er durch die Zähne. Sein Herzschlag hatte sich beschleunigt, und plötzlich fühlte sich das Brennen seiner Augen nicht nur unangenehm an, sondern regelrecht beängstigend. »Was hat das zu bedeuten?«
»Ihr könnt das auf dem Foto vermutlich nicht lesen, aber das rote ist der Plan einer Klimaanlage. Das grüne ist eine Sprinkleranlage. Ich habe hier zwei Fermenter gefunden. Auch sie sind markiert, mit einem roten und einem grünen Kreuz. Ich habe auf Ethans Notebook eine Menge Unterlagen gefunden. Demnach wurden in dem rot markierten Fermenter Pseudomonaden vermehrt, in dem grünen Georgys Phagencocktail Nummer 12.«
Tom blieb die Luft weg, als ihm klar wurde, was Nina ihnen zu sagen versuchte. »Du glaubst …«
»Ethan hatte Zutritt zur Hochisolierstation im Loring-Klinikum, Frau Voss! Da muss er sich Sylvies Keim besorgt haben, vielleicht schon lange bevor ich bei ihm aufgetaucht bin und ihn um Hilfe gebeten habe. Himmel, er muss sich vor Lachen über uns beinahe …«
»Moment!«, fiel Voss Nina ins Wort. »Der Reihe nach: Sie glauben, dass Ethan Myers vorhatte, die Gala über die Klimaanlage mit den Pseudomonaden zu verseuchen?«
»Ja! Haben sie den Film über Sylvie schon gezeigt?«
»Eben gerade«, sagte Tom.
»Also haben die Leute die Auswirkungen von Pseudomonas mit eigenen Augen gesehen. Pseudomonas dringt über Schleimhäute in den Körper ein: über Mund, Nase und über die Augen.«
»Über die Augen …«, wiederholte Voss und blickte Tom an. Er sah die Erkenntnis in ihrer Miene aufleuchten und biss die Zähne zusammen.
Nina schnappte nach Luft. »Ja. Spürt ihr etwa schon irgendwas da bei euch? Normalerweise verlaufen Pseudomonasinfektionen nicht so schnell … und wir hätten noch Zeit.«
Die Frage hing zwischen Tom und Voss. Tom schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte Voss ganz ruhig. »Bisher nichts.«
»Das ist gut! Vielleicht ist es dann noch nicht zu spät, das Ganze noch zu stoppen. Immungeschwächte oder Menschen mit Wunden infizieren sich leichter, und unter den Abgeordneten sind etliche, die über sechzig sind, sie …«
»Ich kapiere aber immer noch nicht, warum er die Gala verseuchen wollen würde!«, unterbrach Tom.
»Ethan wollte offenbar, dass die Abgeordneten die Erfahrung machen, wie es ist, mit einem multiresistenten Keim kontaminiert zu sein …«
»Sie haben eben selbst gesagt, dass das nicht in seinem Sinne wäre, weil es die Abgeordneten von der Abstimmung abhalten würde«, warf Voss ein. »Das ergibt immer noch keinen Sinn!«
»Doch. Und zwar, wenn man den Inhalt des zweiten Fermenters mit einbezieht. Was ich vermute, ist, dass Ethan vorhatte, eine Weile nach der Freisetzung der Pseudomonaden auch Georgys Phagen freizusetzen. Das passt absolut zusammen. Er verteilt Pseudomonas über Aerosole in der Klimaanlage. Die Phagen hingegen könnte er über den feinen Sprühnebel einer Sprinkleranlage ausbringen – sozusagen als hochwirksame Neutralisationswolke.«
»Womit er gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen würde«, murmelte Voss. »Zum einen versetzt er die Abgeordneten in die Lage, am eigenen Leib zu erfahren, was es bedeutet, mit dem Keim kontaminiert zu sein. Und gleichzeitig demonstriert er die Wirkungsmacht dieser neuartigen Phagen.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber ich verstehe ehrlich gesagt nicht, warum Sie so aufgeregt sind, Frau Falkenberg. Wenn das, was Sie sagen, wirklich der Plan war, dann sind die Menschen hier doch im Grunde nicht in Gefahr – abgesehen davon vielleicht, ein paar Stunden in Angst zu verbringen.«
»Phagen sind kein Wundermittel«, widersprach Nina. »Ja, sie wirken gegen den Pseudomonas, aber es spielen unendlich viele Faktoren eine Rolle. Wenn Sie mich fragen, dann hat sich Ethan eingeredet, dass am Ende alles gut ausgehen würde, aber im Grunde nimmt er mit diesem doppelten Anschlag den Tod oder zumindest die schwere Erkrankung von vielen dort bei Ihnen im Rathaus billigend in Kauf. Wie gesagt: Etliche Abgeordnete sind nicht mehr die Jüngsten. Und bei Vorerkrankungen oder offenen Wunden …«
»Okay«, murmelte Voss. »Hab schon verstanden.«
»Hören Sie«, sagte Nina. »Die Pseudomonaden und die Phagenlösung, die Ethan hergestellt hat, sind vermutlich längst irgendwo bei Ihnen im Rathaus. Sie sollten also besser so schnell wie möglich die Hauptverteilung der Klimaanlage suchen.«
Tom begriff. »Du glaubst, dass Ethan Komplizen hat, die den Plan zu Ende bringen, aber Frau Voss hat mir gerade gesagt, dass Jegor in Tiflis verhaftet worden ist … Wer …« Ihm wurde kalt, als in seinem Hinterkopf eine Stimme erklang. Worte, die er in der Nacht in Bos Wohnung gehört hatte.
Wenn die Typen mal sehen, wie es sich anfühlt, selbst in Gefahr zu sein, schaffen sie es vielleicht, die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Konnte es sein, dass … Nein! Unmöglich!
Er sah Voss grimmig nicken. »Wen verdächtigen Sie, Nina?«
»Ich weiß es nicht. Es könnte jeder sein, der das gleiche Interesse hat wie Ethan. Dr. Heinemann. Dieser Vorsitzende der GPD, dieser Ahrens. Von Zeven natürlich …« Nina stockte.
»Oder Max Seifert«, ergänzte Tom tonlos.
Mit angespannten Sinnen rannte Tom zusammen mit Kommissarin Voss, ihrem Kollegen Lukas Lau sowie einem weiteren Polizisten in Uniform durch die schier endlosen Gänge des Charlottenburger Rathauses. Sie folgten dem Hausmeister, einem alternden Mann, der sich ihnen als Werner Ritter vorgestellt hatte. Voss’ Kollege, Kommissar Runge, war unterdessen damit beschäftigt, so unauffällig wie möglich alle anwesenden Polizisten über die Möglichkeit zu informieren, dass ein Anschlag kurz bevorstand oder sogar bereits im Gange war. Für den zweiten Fall gab er die Anweisung, dass vorerst niemand das Gebäude betreten oder verlassen durfte. Darauf hatte Nina gedrungen. »Wenn ihr dadrinnen wirklich mit Sylvies Pseudomonas verseucht seid«, hatte sie gesagt, »dann seid ihr eine Gefahr für die ganze Stadt.«
Eine Gefahr …
Das alles hatte etwas Surreales für Tom. Er blinzelte. Seine Augen tränten. »Was passiert mit Seifert und den anderen Verdächtigen?«, erkundigte er sich im Laufen bei Voss.
»Vorerst gar nichts, um sie nicht zu warnen. Mein Kollege sorgt aber dafür, dass sie beobachtet werden und uns nicht entkommen können.«
Es fiel Tom schwer zu glauben, dass Max zu Prometheus gehörte. Das passte einfach überhaupt nicht zu ihm. Aber was wusste er schon? Er kannte Max gerade einmal ein paar Wochen.
Er zwang seine Gedanken zur Ruhe und konzentrierte sich auf das Telefon in seiner Hand. Seit er oben vor dem Saal Max’ Namen genannt hatte, war Nina beunruhigend still gewesen.
»Nina?«, rief er in das Gerät.
Es knisterte in der Leitung. Der Hausmeister war dabei, sie eine lange Treppe hinab ins Untergeschoss zu führen, und die Verbindung wurde von Sekunde zu Sekunde schlechter.
»Nina! Kannst du mich noch hören?«
»Ja … ich … macht ihr?« Die einzelnen Worte wurden zerhackt von den Störungen in der Übertragung.
»Wir sind auf dem Weg zur Klimaanlage«, informierte Tom sie. »Wir stoppen das noch, Nina. Alles wird gut werden …« Als sein Handy ihm signalisierte, dass der Empfang unterbrochen war, hoffte er, dass Nina ihn überhaupt noch hatte hören können. Und er hoffte, dass er sie nicht gerade angelogen hatte.
Als der Hausmeister sie um eine Ecke führte, rang Lukas Lau plötzlich um Luft.
Nina fühlte sich, als wäre in ihrem Kopf ein aus schwerfälligen Zahnrädern bestehender Mechanismus zum Stehen gekommen. Während sie zuhörte, wie Tom und Voss durch die Eingeweide des Rathauses liefen, war sie zu den beiden Fermentern gegangen. Ihr Blick fiel auf die Laborkühlschränke, und ihr ging plötzlich auf, dass es eigentlich keinen Grund dafür gab, warum die Dinger liefen.
Die Fermenter waren weitgehend leer, alle nötigen Versuche, die zur Herstellung von Pseudomonas und den Phagen nötig gewesen waren, waren abgeschlossen. Die Biostoffe mussten längst im Rathaus sein. Warum also liefen die Kühlschränke? Sie fühlte sich, als hätte ihr eine eiskalte Hand ins Genick gefasst. Zögernd steckte sie ihr Handy weg, streckte die Hand nach einem der Kühlschrankgriffe aus und zog daran.
Der Kühlschrank war voll mit Hunderten kleiner Ampullen in metallenen Ständern. Nina nahm eine davon zur Hand. Die Schrift darauf kam ihr bekannt vor, doch im ersten Moment weigerte sich ihr Verstand zu begreifen, was sie sah.
Und dann setzten sich die Räder in ihrem Kopf mit einem Knirschen wieder in Bewegung.
Die Schrift auf der Ampulle … Sie war von … und das bedeutete … Nina keuchte auf.
Max und alle anderen, die sie soeben verdächtigt hatte, waren völlig unschuldig. Nina wusste jetzt, wer Ethans Komplize war. Ihr wurde schlecht. Sie kramte hastig ihr Handy wieder hervor und wählte Toms Nummer. Vergeblich. Es meldete sich nur die automatische Ansage, die ihr sagte, dass der Teilnehmer zurzeit nicht erreichbar war.
Beunruhigt starrte Tom auf das Display seines Telefons, das ihn darüber informierte, dass er jetzt gar keinen Empfang mehr hatte.
Lukas war etwas zurückgeblieben. Tom konnte sein trockenes Keuchen durch den Gang hallen hören. Er wollte schon zu ihm zurück, um nachzusehen, aber in diesem Moment rief der Hausmeister: »Da ist sie!« Er deutete auf eine sehr altmodisch aussehende Anlage, bei deren Benennung Toms technischer Verstand sofort versagte. Was er sah, war ein großer Metallkasten, von dem etliche armdicke Rohre ausgingen und sich unter der Decke in alle Richtungen verzweigten. An einer Seite gab es Lüftungsschlitze, hinter denen sich ein großer Ventilator drehte.
Die Klimaanlage.
Der Hausmeister umrundete den Kasten. Umständlich und von seinem Bierbauch ziemlich behindert, beugte er sich vor. »Was zur Hölle …?«, hörte Tom ihn murmeln.
Als der Mann sich wieder aufrichtete, war er leichenblass.
»Was?«, blaffte Voss ihn an. »Reden Sie!«
Aber er öffnete und schloss den Mund nur tonlos, also schob Voss sich an ihm vorbei und ging in die Hocke. Zwei Sekunden verstrichen, in denen sie einfach nur schaute. Drei. Vier Sekunden.
Fünf.
Tom grub die Fingernägel in seine Handflächen.
Endlich erhob Voss sich wieder. Auch sie war jetzt blass. Ihre Lippen wirkten wie schmale, blutleere Striche. »Sehen Sie selbst«, forderte sie Tom auf.
Ungefähr auf Oberschenkelhöhe befand sich in der Seite der Anlage eine fünfzig mal fünfzig Zentimeter große Öffnung. Eigentlich hätte sie mit einer Metallplatte verschlossen sein sollen, doch die stand gegen die Wand gelehnt da. Als Tom vor der Öffnung in die Knie ging, stieß er mit dem Fuß gegen eine Schraube. Mit einem metallischen Klicken rollte sie gegen den Fuß der Anlage.
Hinter der Öffnung befand sich ein Hohlraum ungefähr von der Größe einer Mikrowelle. Direkt darüber, das konnte Tom erkennen, als er den Hals entsprechend verrenkte, drehte sich ein weiterer Ventilator und saugte Luft in eine dicke metallene Zuleitung, die in der Kellerdecke verschwand.
Direkt unter dem Ventilator stand ein schwarzes Gerät von der Größe einer Autobatterie. Es war über einen Schlauch verbunden mit einem milchweißen Kanister, den ein dickes rotes Kreuz aus Klebeband markierte. Und während Tom noch überlegte, was er da vor sich hatte, stieß das Gerät ein hörbares, aber eindeutig trocken klingendes Zischen aus.
»Fuck!«, murmelte er und sprang zurück.
»Was ist das für ein Apparat?«, fragte der Hausmeister.
Tom kannte die Antwort – es war ein sogenannter Hazer. Ein Gerät, mit dem man in Clubs für Partynebel sorgte. Jemand hatte ihn so umgebaut, dass er die Flüssigkeit, die sich in dem Kanister befunden haben musste, zu feinem Aerosol zerstäubte. Und der Tatsache nach zu urteilen, dass der Kanister völlig leer war, lief das Ding schon seit geraumer Weile. Vermutlich seit die Gala begonnen hatte.
»Okay«, meinte Voss und massierte sich mit den Fingerspitzen die Stirn. »Okay. Bleiben wir alle ruhig! Wenn Dr. Falkenberg richtigliegt mit ihren Vermutungen und ich es korrekt verstanden habe, dann befindet sich das Gegenmittel schon hier im Gebäude, oder?« Sie sah Tom an, und er kam sich vor, als wäre er von einer Sekunde auf die nächste zu Ninas Stellvertreter in Sachfragen befördert worden.
»So habe ich es auch verstanden, ja.«
Bevor Voss wieder das Wort ergreifen konnte, hatte der Hausmeister endlich begriffen, was hier geschah.
»Das Zeug da in der Klimaanlage … Ist das … das war … ein Anschlag?« Sein Unterkiefer klappte herunter und verwandelte sein Gesicht in eine dickliche Version von Munchs Schrei. »Das Ding da stammt von Prometheus, oder?«, wisperte er.
»Vermutlich«, sagte Tom so ruhig, wie er konnte.
»Bitte behalten Sie die Nerven!«, ergänzte Voss. »Wir wissen, was zu tun ist. Wir haben die Sache im Griff!«
Es dauerte, bevor das Gesagte den Verstand des Mannes erreichte. »Ich … ähm … okay. Klar. Knorke!«
Knorke? Schon seit Tom den Hazer in der Klimaanlage gesehen hatte, hatte er dieses irre Gefühl, lachen zu müssen. Bildete er es sich ein, oder konnte plötzlich auch er nur noch mühsam atmen?
Reiß dich zusammen! Du bist kurz davor, in Panik zu geraten.
»Erzählen Sie mir was über die Sprinkleranlage!«, verlangte Voss von dem Hausmeister.
Der fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Es … es handelt sich um eine historische Anlage aus den Fünfzigerjahren, die aber noch voll funktionstüchtig ist. Sie besitzt einen von einer Pumpe angetriebenen Einkubikmetertank, der zuerst geleert wird, wenn die Anlage auslöst. Erst wenn der Tank leer und der Brand dann noch nicht gelöscht ist, wird die Wasserzufuhr über die öffentliche Wasserleitung zugeschaltet.«
»Was das Ding für Prometheus’ Zwecke geradezu ideal macht«, sagte Tom trocken.
Voss sah ihn strafend an. »Wo finden wir diesen Wassertank?«, fragte sie den Hausmeister.
Der hatte sich jetzt vollends wieder im Griff. »Kommen Sie mit! Ich führe Sie hin.«
Der Tank und die Pumpe befanden sich in einem anderen Bereich des weitläufigen Rathauskellers. Der Hausmeister ging vor und geleitete Tom, Voss und den mittlerweile wieder einigermaßen ruhig atmenden Lukas durch gefühlt drei Kilometer unterirdischer Gänge. Ihren uniformierten Kollegen hatte Voss bei der Klimaanlage zurückgelassen – zusammen mit dem Auftrag, niemandem Zugang dazu zu gewähren.
Der Tank selbst wirkte wie etwas, das aus der Zeit gefallen war – ein glänzender, auf der Seite liegender roter Zylinder aus emailliertem Metall. An der höchsten Stelle seiner Rundung befand sich ein Einlassstutzen, durch den man offenbar früher Wasser aufgefüllt hatte, nachdem die Anlage ausgelöst worden war. Tom biss die Zähne zusammen. Jedes einzelne Detail hier passte exakt zu dem Szenario, das Nina skizziert hatte.
»Wenn es stimmt, was Dr. Falkenberg gesagt hat«, meinte Voss, »dann finden wir hier auch so einen Kanister wie bei der Klimaanlage.«
»Nicht nur einen«, sagte Tom. Er hatte den Tank umrundet und direkt vor ihm stand ein ganzer Stapel leerer Kanister, die allesamt mit einem grünen Kreuz markiert waren.
Voss trat neben ihn, starrte auf die Behälter, als würde sie sie durchzählen. Dann wandte sie sich zu dem Tank um. »Wie es aussieht, hat unser unbekannter Komplize alles perfekt vorbereitet.«
Tom verspürte den drängenden Wunsch, das Weite zu suchen. Sein Brustkorb zog sich angestrengt zusammen. Er bekam immer weniger Luft. »Was jetzt?«, fragte er. »Lösen wir die Sprinkleranlage aus, um die Leute da oben zu retten?«
Voss wiegte den Kopf. »Erstmal müssen wir rausfinden, ob Dr. Falkenberg richtigliegt und sich in dem Ding da«, sie deutete auf den Tank, »wirklich diese Phagen befinden und nicht etwa ein weiterer hochpotenter Gefahrenstoff.«
»Und wie wollen Sie das machen? Sie können unmöglich jemanden hier reinholen, um das zu checken, solange wir nicht wissen, ob die Luft immer noch verseucht ist.«
»Doch. In einem Hochsicherheitsschutzanzug.« Voss kniff die Augen zusammen. »Den zu besorgen, plus einen Labortechniker mit der nötigen Expertise, könnte allerdings dauern. Aber wenn mich nicht alles täuscht, haben wir doch eine Phagenexpertin bei der Gala, oder etwa nicht?«
»Maren Conrad!«, entfuhr es Tom. »Natürlich!«
Voss trat hinter dem Tank hervor. »Lukas«, befahl sie. »Hol Dr. Conrad hierher. So schnell es geht.«
Lukas nickte. »Mache ich.«
»Ich komme mit Ihnen«, sagte Tom.
Die Melodie der telefonischen Warteschleife, in der Nina feststeckte, schmerzte in ihren Ohren. Mindestens fünf oder sechs Mal hatte sie jetzt schon Toms Nummer gewählt. Jedes Mal vergeblich. Immer wieder hatte ihr Telefon sie darüber informiert, dass der Angerufene im Moment nicht zu erreichen war, und auch die Nachricht, die sie ihm geschrieben hatte, wurde nicht zugestellt. Also hatte Nina sich an den Notruf der Polizei gewandt, hatte der Frau am anderen Ende ihren Titel und Namen genannt und sie darüber informiert, dass sie wichtige Informationen über einen gerade stattfindenden Terroranschlag im Charlottenburger Rathaus hatte. Daraufhin hatte man sie in die Warteschleife gelegt, und da hing sie noch immer.
Ungeduldig umklammerte sie die Kopfstütze des Beifahrersitzes vor sich und musste sich zusammenreißen, nicht frustriert daran zu rütteln. Weil ihr nicht viel anderes blieb, beugte sie sich vor und blaffte den Taxifahrer an: »Machen Sie doch schneller!«
Der Fahrer warf ihr im Rückspiegel einen genervten Blick zu. »Ich kann ja die Autos da vorne nicht wegbeamen!«
Womit er natürlich recht hatte. Genervt warf Nina sich in die Polster zurück, während der Fahrer an der nächsten Ampel schon wieder halten musste.
»Runge!«, bellte da eine Stimme dicht an ihrem Kopf.
»Kommissar Runge!« Erleichtert presste sie das Handy fester ans Ohr. »Gott sei Dank!«
»Man hat mir gesagt, dass Sie Informationen über den Anschlag haben, der hier gerade läuft.«
»Der Anschlag läuft schon …?« Tom! Um Himmels willen! Sie schloss die Augen, riss sie wieder auf.
Der Taxifahrer hatte sich halb zu ihr umgewandt und starrte sie erschrocken an.
»Fahren Sie!«, herrschte sie ihn an, weil er nicht bemerkt hatte, dass die Ampel längst auf Grün umgesprungen war. Dann konzentrierte sie ihre Aufmerksamkeit auf Runge. »Hören Sie, ich glaube, ich habe inzwischen auch rausgefunden, wer Prometheus’ Komplize ist, den Sie und Frau Voss suchen.« Ihr Magen drehte sich um. Bis eben hatte sie die Erkenntnis von sich fernhalten können, die sie in Ethans Schrebergartenlabor wie ein Blitz getroffen hatte. Aber jetzt brach alles mit Wucht über sie herein.
Es passte perfekt zusammen. Alle drei Kühlschränke waren voll mit Ampullen gewesen, und auf jeder einzelnen hatte sich ein Aufkleber von Georgys Institut in Tiflis befunden. Nina hatte die kleinen Fläschchen eine nach der anderen in die Hand genommen. Mit jedem war ihr Entsetzen gewachsen. Georgys Therapiephagensammlung – sein wertvollster Schatz, von dem Nina geglaubt hatte, er sei bei der Explosion des Instituts unwiederbringlich vernichtet worden – lagerte hier in Kopie. Jede. Einzelne. Probe.
Georgy hatte sich in den Wochen vor seinem Tod also nicht getäuscht, als er gespürt hatte, dass etwas nicht stimmte. Jemand hatte nach und nach all seine Phagen kopiert und aus dem Institut geschmuggelt. So ein Diebstahl brauchte seine Zeit. Und vor allem: Um ihn durchzuziehen, brauchte man unbeschränkten Zugang zu den Labors des Instituts.
Als Nina begriffen hatte, was das bedeutete, war es ihr wie Eiswasser durch die Adern geschossen. Es gab eine Person, die diesen Zugang besessen hatte. Jemand, der überaus eng und vertrauensvoll mit Georgy zusammengearbeitet hatte. Jemand, den er niemals im Leben verdächtigt hätte …
»Frau Falkenberg?«, drang Runges Stimme an ihr Ohr. »Reden Sie mit mir! Sie wissen, wer den Anschlag durchgeführt hat?«
Ja. Ja, verdammt! In ihrer Erinnerung befand Nina sich wieder in der Laube. Sie hatte eine der Ampullen noch in der Hand gehabt, als ihr aus dem Augenwinkel etwas aufgefallen war. An der Metallseite des einen Kühlschranks war mit einem Magneten ein Foto befestigt, und das hatte ihr den Boden unter den Füßen weggezogen.
Ethan selbst war darauf zu sehen gewesen, in der Hand hielt er einen knallbunten Cocktail mit einem Schirmchen und einem Strohhalm. Seinem Aussehen nach zu urteilen, musste die Aufnahme mindestens fünf oder sechs Jahre alt sein.
Und neben ihm, mit Ethans Arm in einer zärtlichen Geste um die Schultern gelegt …
»Maren Conrad«, presste sie hervor. »Es muss Dr. Conrad sein.«
Die Treppen, die aus dem Keller ins Erdgeschoss des Rathauses führten, ließen Tom ziemlich keuchen. Verdammt! Er fühlte sich um Jahre gealtert.
Pseudomonas konnte auch schwere Lungenentzündungen hervorrufen oder Blutvergiftungen, das hatte er schließlich bei seiner Tochter miterlebt.
Was, wenn … Konzentrier dich!
Zusammen mit Lukas durchquerte er das Erdgeschoss, von wo aus er einen Blick durch die gläsernen Eingangstüren auf die Otto-Suhr-Allee erhaschen konnte. Dort waren mehrere Einsatzwagen der Polizei zusammengezogen worden. Blaues Licht zuckte über den Gehweg und die gegenüberliegenden Hausfassaden. Bewaffnete Einheiten eines Sondereinsatzkommandos hatten sich vor dem Eingang aufgebaut. Logisch. Man ging davon aus, dass hier drinnen ein gefährlicher Bioterroranschlag stattgefunden hatte. Solange man nicht wusste, wie die Lage einzuschätzen war, würde niemand dieses Gebäude verlassen.
In Tom keimte das Gefühl, sich in einem Endzeitthriller zu befinden.
Der Saal selbst wurde an beiden Ausgängen bewacht, sodass die Galagäste keine Chance hatten rauszukommen. Lukas wandte sich an einen der Polizisten neben dem Haupteingang, dessen Hand auf der Waffe ruhte. »Kommissarin Voss will, dass wir Dr. Conrad nach unten bringen.«
Der Polizist nickte und ließ sie durch.
Im Saal schlug eine sonderbare Stimmung über Tom zusammen. Die Galagäste standen in Gruppen beieinander und diskutierten mehr oder weniger leise miteinander. Tom sah einige der Bundestagsabgeordneten in einer Nische neben der Bühne stehen. Ihre Personenschützer vom BKA hatten sich um sie herum aufgebaut, ein Anblick, der Tom schon wieder dieses irre Lachen im Hals hochtrieb.
Vergesst es, Leute! Gegen die Gefahr, die euren Schützlingen droht, helfen weder eure Muskeln noch die Knarren an eurem Gürtel!
»Sie können uns hier nicht einfach so festhalten!«, hörte er jemanden rufen. »Das ist Freiheitsberaubung!« Und eines der TV-Sternchen, eine junge Frau in einem tief ausgeschnittenen pinkfarbenen Abendkleid, sagte zu ihrer Nachbarin: »Ich weiß auch nicht. Irgendein Anschlag, haben sie gesagt …«
Den Rest blendete Tom aus. Er ließ seinen Blick durch die Menge schweifen, gleichzeitig auf der Suche nach Maren Conrad und seiner eigenen Frau. Er entdeckte Isabelle zuerst, und in der gleichen Sekunde, in der er sie sah, bemerkte sie ihn auch. Wie von einer Rakete angetrieben, schoss sie auf ihn zu. »Tom! Gott sei Dank! Wo warst du denn die ganze Zeit? Irgendwas ist passiert, die halten uns alle hier …«
»Ich weiß, Isabelle!« Er nahm ihren Arm und zog sie ein Stück weit von den anderen Gästen fort. So leise wie möglich erklärte er ihr: »Es hat einen Anschlag gegeben. Wie es aussieht, wurde die Klimaanlage mit einem gefährlichen Keim verseucht, aber die Polizei hat schon ein Gegenmittel dagegen. Du musst das unbedingt für dich behalten, okay? Es darf hier drinnen nicht zu einer Panik kommen.«
Aus Isabelles Wangen wich alles Blut. »Ein Anschlag …«, flüsterte sie.
»Behalt es bitte für dich!« Er fragte sich, ob es klug gewesen war, es ihr zu erzählen. Schlagartig wirkte sie, als würde sie im nächsten Moment auseinanderfallen. »Hast du Dr. Conrad irgendwo gesehen? Das ist die Mikrobiologin, die geholfen hat, die Phagentherapie für Sylvie zu entwickeln.«
Isabelles Miene wurde misstrauisch. »Hast du etwa deine Hände im Spiel bei der ganzen Sache?«
»Ich helfe der Polizei, ja.« Er hielt seinen Unmut im Zaum und sah sich um. Lukas Lau hatte Maren entdeckt. Während der junge Polizist zu ihr ging und mit ihr sprach, wandte Tom sich wieder seiner aufgelösten Frau zu. »Ich bin gleich wieder bei dir!«, sagte er, und als Lukas Maren aus dem Saal führte, ließ er Isabelle einfach stehen und rannte den beiden nach.
Endlich hielt das Taxi vor dem Rathauseingang in der Otto-Suhr-Allee. Nina sprang auf den Gehweg und umkurvte mehrere Einsatzwagen.
»He!«, hörte sie den Taxifahrer protestieren. »Was ist mit meinem Geld?«
Sie achtete nicht einmal auf ihn. Tom!, hämmerte es in ihrem Schädel, wieder und wieder und wieder.
Er war dort drin. Genau wie all die anderen Menschen, die Maren mit Pseudomonaden … Nina wäre beinahe über ihre eigenen Füße gestolpert, doch der schwerbewaffnete Polizist, der den Eingang bewachte, trat ihr entgegen und fing sie auf. »Verzeihung, aber Sie können da jetzt nicht rein!«
Nina hielt inne. Natürlich. Es wäre völlig unverantwortlich gewesen, sich der verseuchten Luft in diesem Gebäude auszusetzen. Von hier draußen konnte sie vermutlich weitaus besser helfen, die drohende Katastrophe noch zu verhindern.
An dem Polizisten vorbei spähte sie durch die Glastür. Eine Treppe lag vor ihr und dahinter die Eingangshalle mit ihren auffällig gemusterten Fliesen.
Gleich darauf sah sie Tom. Der junge Partner von Kommissarin Voss, dessen Namen sie vergessen hatte, war bei ihm. Und Maren! Alle drei steuerten auf einen Treppenabgang zu, der in den Keller des Gebäudes führte. Noch während Nina durch die Scheibe starrte und fieberhaft überlegte, was sie nun tun sollte, blieben alle stehen und wandten sich um. Ein weiterer Mann eilte ihnen nach – Kommissar Runge. Es war offensichtlich, dass er nach den dreien gerufen hatte.
Nina sah mit an, wie er etwas sagte und seine Hand dabei nach der Waffe unter seiner Achsel griff.
Und dann ging alles rasend schnell.
Tom hatte sich umgedreht, als Kommissar Runge seinen Namen gerufen hatte. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass Nina draußen vor der Glastür stand, aber er hatte keine Zeit, sich darüber zu wundern. Runge schien in maximaler Alarmbereitschaft.
»Keine Bewegung!«, befahl er und zog die Waffe.
Tom sah Maren erstarren, aber nur für einen Sekundenbruchteil. Im nächsten Moment lag eine kleine Pistole in ihrer Hand und richtete sich … direkt auf seine Brust.
In ihm sackte etwas durch. Wie die Karikatur eines Filmhelden hob er langsam die Hände auf Schulterhöhe. »Was …?«
»Nehmen Sie die Waffe runter!«, schrie Runge. Lukas Lau reagierte leicht verzögert, aber dann zog auch er seine Pistole. Mit einem Anflug von irrationaler Klarheit erkannte Tom, wie die Mündung zitterte.
»Nehmen Sie sofort die Waffe runter, Dr. Conrad!«, wiederholte Runge.
Doch Maren dachte nicht daran. Sie umfasste ihre Pistole mit beiden Händen und umrundete Tom zu einem Viertel. Um sie nicht aus den Augen zu lassen, machte er die Drehung mit. An Marens Schulter vorbei konnte er nun Nina vor dem Gebäude sehen. Sie gestikulierte aufgeregt und schien mit einem Polizisten zu diskutieren, der sie daran hindern wollte, hier reinzukommen.
Halt sie bloß auf!
»Maren, was geht hier vor?«, fragte er so ruhig und fokussiert, wie er konnte. In seinen Eingeweiden jedoch brannte grelle Panik.
»Sie ist es!«, stieß Lukas aus. »Sie gehört zu Prometheus, oder? Sie hat den Anschlag durchgeführt, und …«
»Lukas, halt den Mund!«, schnitt Runge ihm scharf das Wort ab.
Voss kam die Treppe herauf und erfasste die Lage mit einem Blick. Sie hatte die Hand unter ihrer Lederjacke, um nach der Waffe zu greifen, nahm sie jedoch wieder heraus.
Toms Blick huschte von Marens Pistole zu ihrem Gesicht und wieder zurück. Würde sie wirklich auf ihn schießen? Er wusste es nicht.
Er wusste gar nichts mehr. Er fühlte sich wie unter Wasser. Eiskaltem Wasser, das ihn jeder Empfindung beraubte. Seine Hände waren ein Stück nach unten gesunken, und er hob sie wieder höher.
Sekundenlang standen sie alle erstarrt. Dann hörte Tom eilige Schritte. Hohe Absätze. Eine Männerstimme, die rief: »Ich habe gesagt, Sie sollen …« Eine Bewegung in seinem Augenwinkel. Es kostete ihn Mühe, den Kopf zu wenden. »Isabelle …!«, ächzte er.
»Tom, was geht hier vor?« Sie erkannte, was geschah, und blieb stehen wie vor eine Wand gelaufen. Ein Polizist, dem sie im Saal entkommen sein musste, erstarrte ebenfalls, dafür gestikulierte Nina draußen auf der Straße umso heftiger. Und dann packte sie kurzentschlossen die altertümlichen Türgriffe, zerrte daran, und zu Toms Entsetzen öffnete sich die Tür tatsächlich.
Nina schlüpfte hindurch.
Der Polizist, der sie vorher am Eintreten gehindert hatte, sah ein, dass es zu spät war. Eilig zog er die Tür wieder zu, um so wenig von der verseuchten Luft wie möglich rauszulassen.
»Nein!«, flüsterte Tom, als Nina die Stufen zu ihnen hocheilte. »Warum hast du das getan?«
Nina fühlte sich, als hätte sich ihr Verstand vom Rest ihres Körpers abgekoppelt. Dass Maren zu Prometheus gehörte, hatte sie auf der Fahrt hierher irgendwie verarbeiten können. Sie aber nun hier stehen zu sehen – in der Hand eine Waffe, mit der sie Tom bedrohte, und auf dem Gesicht ein Ausdruck, der irgendwo zwischen Entschlossenheit und Verzweiflung schwankte –, fühlte sich völlig falsch an.
Maren! Ihre Freundin Maren. »Was tust du?«, fragte Nina so behutsam, wie sie nur konnte.
Kommissar Runge umfasste seine Waffe fester.
»Sie kennen sich gut«, erklärte Kommissarin Voss ihm. Und an Nina gewandt befahl sie: »Reden Sie mit ihr, Dr. Falkenberg!«
Mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, zwang Nina sich, Ruhe zu bewahren. »Also gut. Rede mit mir, Maren! Was soll das hier? Warum die Waffe?« In einer weit ausgreifenden Bewegung umfasste sie das ganze Gebäude. »Warum das alles hier?«
Marens Lippen waren blutleer. »Georgy …«, krächzte sie.
In Ninas Körper flatterte jeder einzelne Nerv. »Was ist mit ihm?«
»Er wollte seine Phagen der Menschheit schenken.« Der Gedanke allein schien Maren zu schütteln. »All die Jahre harte Arbeit. Unsere gemeinsame Arbeit! Und dann hat er einfach allein darüber entschieden, was damit geschehen soll. Ohne mich auch nur zu fragen!«
Nina verspürte das dringende Bedürfnis, die Augen zu schließen. In schneller Reihenfolge fügten sich die einzelnen Mosaiksteinchen zu einem Bild zusammen. Maren, die ihr in Georgys Institut entgegenkam. Georgy. All das Blut. Und dann: der Umstand, dass Maren die Bombe rechtzeitig entdeckt hatte, sodass sie mit dem Leben davongekommen waren.
Es war kein glücklicher Zufall gewesen!
»Du wusstest, dass die Bombe da ist, oder?«, flüsterte Nina.
Mit wildem Blick fuhr Marens Kopf zu ihr herum. »Du solltest an dem Abend nicht da sein! Aber du warst da. Und ich konnte dich doch nicht … in die Luft sprengen …«
Sie hat dir das Leben gerettet, dachte Nina. Dann jedoch dachte sie: Nein. Sie hat entschieden, dass du leben darfst, während sie Georgy zum Tode verurteilt hat!
»Um Himmels willen, Maren!«, flüsterte sie.
Maren senkte die Waffe ein wenig, sodass sie nicht mehr direkt auf Tom zeigte, der kerzengerade und still dastand.
Kommissar Runge machte einen halben Schritt nach vorn, aber Maren bemerkte es und hob die Waffe wieder.
Nina hätte schreien mögen.
»Reden Sie weiter!«, drängte Voss sie.
Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Du wusstest, dass diese Russen an dem Abend im Institut waren, weil du selbst sie dahingeschickt hast.« Ihre Freundin war verantwortlich für den grausamen Tod ihres Ziehvaters. Sie wollte etwas empfinden, aber es ging einfach nicht. In ihr war plötzlich alles kalt und dunkel. Die Worte sprudelten jetzt nur so aus ihr heraus. »Du hast Georgys Phagensammlung gestohlen. Du warst diejenige, von der er sich die ganze Zeit verfolgt gefühlt hat. Du hast jede einzelne Phagenkultur kopiert und aus dem Institut geschmuggelt. Für Ethan, nicht wahr? Ihr habt euch nicht erst auf dem Flughafen kennengelernt.« Sie dachte an das Foto an dem Laborkühlschrank. »Ihr kanntet euch schon seit Jahren. Darum wart ihr so schnell so vertraut miteinander. Stimmt es?«
Maren nickte knapp.
»Warum?«, hauchte Nina.
»Weil er all die viele Arbeit einfach verschenken wollte!«, schrie Maren. »Verschenken! Weißt du, was die Phagensammlung wert ist, vor allem wenn die Bundesregierung dieses Gesetz durchwinkt und die Phagentherapie in Deutschland offiziell zugelassen wird? Dann folgen vielleicht bald auch andere westliche Länder. Dann sind die Phagen Milliarden wert. Und das alles wollte Georgy einfach so verschenken! Er …«
»Es ging dir also nur um Geld?«, fragte Tom fassungslos.
Maren zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen.
Nina starrte die Frau an, die sie für ihre Freundin gehalten hatte. Täuschte sie sich, oder traf Toms Vorwurf Maren härter als alles andere, was sie selbst bisher gesagt hatte? Sie tauschte einen kurzen, aber extrem intensiven Blick mit Tom.
Er schwankte, aber er rührte sich keinen Millimeter, auch nicht, als Maren die Waffe wieder hob und nun direkt auf sein Gesicht zielte.
»Bitte!« Eine wimmernde Frauenstimme erklang hinter Nina. Toms Frau Isabelle stand noch immer an der Stelle, an der sie beim Anblick all der gezogenen Waffen erstarrt war. »Bitte! Tun Sie meinem Mann nichts!« Sie holte zitternd Luft. »Ich weiß doch nicht, was ich ohne ihn machen soll!«
Nina sah Tom schlucken. Keine Zeit jetzt für Gefühlskram! »Maren!«, sagte sie eindringlich, aber ihre Freundin reagierte nicht darauf, sie starrte Tom weiter genau in die geröteten Augen. Ihre Hände am Griff der Waffe waren plötzlich ganz ruhig, und das jagte Nina weitaus mehr Angst ein als ihr Zittern zuvor.
»Es ging uns nicht nur ums Geld!«, sagte Maren mit hohler Stimme, und dann, als hätte sie jetzt erst begriffen, was genau Tom ihr vorgeworfen hatte, schrie sie: »Aus Geldgier hätte Ethan nicht alles versucht, dass dieses beschissene Gesetz durchkommt! Wir …« Ihre Stimme kippte weg. »Ethan … Prometheus war seine Idee … er wollte … Er … Ich wollte nicht, dass Georgy sterben …« Sie wimmerte. »All diese vielen Toten! Ich wollte das nicht … ich …«
»Es wird alles in Ordnung kommen«, versprach Kommissarin Voss. »Wenn Sie uns nur Ihre Waffe geben!«
Runge trat einen weiteren halben Schritt vor, streckte Maren die Hand entgegen. »Geben Sie mir die Waffe, bevor noch jemand sterben muss. Ich verspreche Ihnen …«
»Nein!«, kreischte Maren ihn an. »Bleiben Sie, wo Sie sind!«
Runge wich wieder zurück. »Okay, okay!«
Marens fahle Lippen wurden noch schmaler. Ein entschlossener Ausdruck erschien in ihren Augen.
Nina sah es kommen, aber sie konnte es nicht verhindern. »Nein!«, schrie sie.
Doch es war bereits zu spät.
Mit einem blitzschnellen Ruck presste Maren den Lauf der Waffe unter ihr Kinn. Und drückte ab.