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Tom konnte sich nur mit Mühe aufrecht halten, als Marens Kopf nach hinten schnappte und ihr Körper zusammensackte. Kein Blut wie bei den beiden Polizisten, dazu war das Kaliber ihrer Pistole zu klein.

»Verdammt!« Mit dem leise ausgestoßenen Fluch steckte Runge seine Waffe weg, und auch Lukas senkte den Lauf.

Jemand flog auf Tom zu, ein Körper presste sich schluchzend an ihn, Arme umschlangen ihn.

Nina?

Er roch das schwere Aroma von Patschuli und Sandelholz.

Nicht Nina.

Isabelle.

»Scht!«, machte er in das duftende Haar seiner Frau, und während er die Arme um sie legte, um sie zu stützen, wanderte sein Blick über ihren Kopf zu Nina.

Die stand noch immer an der Stelle, an der sie mit Maren geredet hatte. Ihr Unterkiefer war heruntergefallen, und der Anblick der toten Frau, die sie für ihre Freundin gehalten hatte, schien alle Energie aus ihr zu saugen. Tom wollte sie festhalten und stützen, aber Isabelle klammerte sich an ihn wie eine Ertrinkende, und so musste er tatenlos zusehen, wie Nina sich Halt an einem Treppengeländer verschaffte.

Lukas eilte ihr zur Hilfe, doch sie wehrte ihn ab.

»Geht schon!« Vorsichtig ließ sie das Geländer los, stand einen Moment schwankend da, dann ging sie mit steifen Schritten auf Marens Leiche zu. »Warum hast du das getan?«, flüsterte sie. Bis auf das Blut, das aus der Wunde an ihrer Kehle sickerte, sah Maren aus, als schlafe sie nur.

Voss, die sich auf ein Knie hatte sinken lassen und nach Marens Puls tastete, schüttelte stumm den Kopf.

Als Kommissarin Voss sich erhob und die Lage überblickte, umklammerte Nina sich selbst mit beiden Armen. »Lukas!«, befahl die Kommissarin. »Bring Frau Morell nach oben in den Saal. Wir anderen kommen gleich nach. Ich muss hier nur noch ein paar Dinge klären.«

Lukas, der vom plötzlichen gewaltsamen Tod Marens genauso geschockt war wie Tom, schien froh, eine Aufgabe zu haben. »Natürlich. Kommen Sie, Frau Morell.« Er machte Anstalten, nach Isabelle zu greifen.

Sie schaute zu ihm auf. »Tom?« Ihre Stimme war die eines ängstlichen, kleinen Mädchens. Er war sich Ninas Gegenwart überdeutlich bewusst.

»Ihr Mann kommt gleich hinterher, Frau Morell«, versprach Voss. »Zuerst brauche ich hier noch ein paar Minuten seine Hilfe.«

»Geh schon mal«, sagte er. »Ich komme gleich nach.« Er kam sich vor wie ein Dreckskerl, weil er Voss dankbar dafür war, seiner Frau für ein paar Minuten zu entkommen. Als Isabelle fort war, wollte er sich an die Kommissarin wenden, aber sie hatte sich demonstrativ ihren Kollegen zugewandt und war dabei, Anweisungen zu geben. Also beschloss Tom, die Gelegenheit zu nutzen, die Voss ihm verschafft hatte. Er zog Nina ein Stück zur Seite. »Es tut mir alles so schrecklich leid«, murmelte er reichlich unbeholfen.

»Ja.« Sie schwankte noch immer. »Ja. Mir auch.«

Er berührte sie am Ellenbogen, zu mehr Nähe war er gerade nicht fähig. »Warum bist du reingekommen?« Er hätte sich ohrfeigen können dafür, dass das so anklagend klang.

Es macht mich irre, Angst um dich zu haben.

Bevor diese Worte unkontrolliert aus seinem Mund purzelten, streckte Nina die Hand nach ihm aus und berührte seine Wange. »Deine Augen«, murmelte sie.

Er musste sich räuspern, bevor er mit einigermaßen ruhiger Stimme sagen konnte: »Sie brennen ziemlich, ja.«

»Das kann eine Reaktion auf die bakterielle Infektion sein. Normalerweise kann der Keim eine gesunde Hornhaut nicht angreifen, aber vielleicht sind deine Augen noch in Mitleidenschaft gezogen von den Misshandlungen der Russen.« Mit einem Ruck wandte sie sich zu Voss um, die sich hinter ihnen leise geräuspert hatte. Plötzlich wirkte sie völlig fokussiert.

»Lungenentzündung. Schleichende Sepsis, Hirnhautentzündung«, zählte die Kommissarin die Folgen einer Pseudomonas-Infektion auf, die sie, wie alle anderen in diesem Gebäude, vorhin in Max’ Präsentation gesehen hatte. »Sind das alle Auswirkungen des Keims?«

Nina schüttelte den Kopf.

Tom verspürte den unbändigen Wunsch, sie zu packen und nach draußen an die frische Luft zu zerren, aber er wäre nicht weit gekommen. Die Polizei schien mittlerweile das Gebäude zur Sperrzone erklärt zu haben. Soeben klebte ein Polizist in Uniform schwarz-gelbes Absperrband über die Tür. Ein zweiter SEK-Beamter mit Maschinenpistole hatte davor Stellung bezogen. Das blaue Licht des Streifenwagens zuckte noch immer über den Bürgersteig, und einmal mehr fühlte Tom sich wie in einem Katastrophenfilm.

»Es gibt noch etwas, das der Keim auslösen könnte«, erklärte Nina. »Es nennt sich Ulcus corneae serpens, eine Art Hornhautgeschwür. Es zerstört innerhalb von wenigen Stunden bis zu ein paar Tagen die Hornhaut. Im Normalfall wäre es recht einfach mit einem Antibiotikum behandelbar, aber unter diesen Umständen …«

»Erblindung?«, fragte Tom.

Nina nickte. Ihr Blick ruhte schwer auf ihm. Sekundenlang sagte keiner von ihnen ein Wort. »Was denkst du?«, erkundigte sie sich.

Er antwortete nicht, und als könne sie seine Gedanken lesen, brauste sie auf. »Nein, Tom! Es ist nicht ausgleichende Gerechtigkeit, wenn ausgerechnet du an Sylvies Keim erblindest! Denk so was nicht mal!«

Es berührte ihn, wie gut sie ihn bereits kannte, denn genau das war es gewesen, was er gedacht hatte. Genau genommen hatte er sich insgeheim sogar über diesen Treppenwitz des Schicksals amüsiert. »Mache ich nicht!«, behauptete er.

Sie sah ihn strafend an. »Du bist so ein schlechter Lügner!«

Ninas Kehle fühlte sich trocken und rau an, als Kommissarin Voss und Kommissar Runge mit ihr und Tom zum Haupteingang des Rathauses gingen, um die Lage zu besprechen. Mittlerweile war Kriminaloberrat Tannhäuser draußen eingetroffen. Runge hatte ihn ans Telefon geholt und auf Lautsprecher gestellt, weil sie natürlich die Glastür nicht öffnen durften.

»Okay«, sagte Nina, nachdem sie sich alle gegenseitig auf Stand gebracht hatten. »Wir haben zwar eine Ahnung, welchen Erreger Maren über die Klimaanlage verteilt hat, aber wir brauchen trotzdem so schnell wie möglich einen Labornachweis. Wir müssen auch wissen, wie hoch die Konzentration davon in der Luft hier ist. Und wir müssen das Wasser in dem Tank testen und rausfinden, ob darin wirklich die Phagen sind.«

»Wir haben die Jungs von der Abteilung Bioterrorismus der Bundeswehr informiert, aber die kommen aus München«, erklärte Tannhäuser. Es irritierte Nina ein wenig, ihn durch die Glastür reden zu sehen, seine Stimme aber aus Runges Handylautsprecher dringen zu hören. Sie sah zu, wie er einen Mann heranwinkte, der aussah, als hätte man ihn aus dem Bett geklingelt: Seine Haare standen wirr in alle Himmelsrichtungen ab, und er hatte seine Kleidung nur nachlässig übergestreift. »Das hier ist Dr. Klemm. Er leitet das Spezialistenteam vom ZBS hier in Berlin.«

ZBS stand für Zentrum für Biologische Gefahren und Spezielle Pathogene. Es war eine Abteilung des Robert Koch-Instituts, deren Mitarbeiter in Fällen von biologischen Gefahrenlagen die Behörden unterstützten – allesamt Wissenschaftler, deren Job es war, mögliche Gefahrenquellen zu identifizieren, zu beseitigen und dadurch eine Weiterverbreitung von hochpathogenen Stoffen und den dadurch verursachten Krankheiten zu verhindern.

Dr. Klemms knarzige Männerstimme ertönte aus dem Lautsprecher. »Guten Tag, meine Damen und Herren.« Zu Ninas Verwunderung sprach er sie sofort persönlich an. »Herr Tannhäuser sagte mir, dass Sie die Vermutung hegen, dass die ganze Festgesellschaft mit Pseudomonas aeruginosa kontaminiert ist, Frau Dr. Falkenberg. Korrekt?«

»Ja«, antwortete Nina.

»Und Sie sind dadrinnen am besten mit den Implikationen einer solchen Lage vertraut?«

Implikationen.

Nina warf Tom einen Blick zu. Er gab sich alle Mühe, ausdruckslos zu schauen.

»Ich weiß um die Gefahr besonders für die älteren oder vorerkrankten Menschen hier drinnen, ja«, sagte sie. »Und ich weiß auch, was für Konsequenzen eine gleichzeitige Kontamination so vieler Menschen mit diesem Keim hat.« Jeder, der in den vergangenen Stunden der verseuchten Luft ausgesetzt gewesen war, würde im Nasen-Rachen-Raum mit dem Keim kolonisiert sein. Das bedeutete zwar nicht, dass jeder dieser Menschen auch tatsächlich erkranken würde, aber etliche von ihnen würden als potenzielle Überträger dort draußen herumlaufen, und die Gefahr bestand, dass sie den resistenten Keim verbreiteten. Traf der dann auf Menschen mit Immunschwäche oder einer Sekundärinfektion, konnte Pseudomonas bei ihnen schwerste Krankheitsverläufe auslösen. Sylvies Fall hatte mehr als deutlich gezeigt, wie so was lief.

Und schlimmer noch: Sollte dieser pan-resistente Pseudomonas hingegen gar auf eine Grippewelle treffen – was angesichts des kommenden Herbstes nicht auszuschließen war –, wäre das eine Katastrophe, denn das Grippevirus würde dem Keim im schlimmsten Fall bei Hunderten von Menschen Tür und Tor öffnen und schwerste oder gar tödliche Lungenentzündungen auslösen.

Sie mussten also dringend dafür sorgen, dass das auf keinen Fall geschah.

Klemms Blick suchte durch die Glastür hindurch den von Nina. »Herr Tannhäuser meinte, Sie sind Mikrobiologin?«

Sie kam sich taxiert vor. »Das stimmt, allerdings liegt meine Zeit im Labor eine Weile zurück. Aber außer mir ist auch noch Dr. Heinemann hier drinnen. Er ist Arzt am Loring-Klinikum und behandelt Menschen, die an multiresistenten Keimen leiden.«

»Gut, gut.« Klemm brummelte einen Moment lang unverständliches Zeug. Hinter ihm tauchten zwei Menschen in weißen Hochsicherheitsanzügen auf. Klemm räusperte sich. »Also. Als Erstes werde ich gleich jemanden zu Ihnen reinschicken und Proben von der Luft und dem Wasser aus der Sprinkleranlage nehmen lassen, damit wir feststellen können, ob Sie mit Ihrer Vermutung richtigliegen.«

»Wie wollen Sie vorgehen?«, fragte Nina.

»Wir gehen über die Schnelldiagnostik unserer Spezialabteilung und PCR-Nachweise aus Umweltproben.«

Nachvollziehbar, dachte Nina. PCR-Tests, die die Erbinformation des Bakteriums und der Phagen identifizierten, wären in dieser Situation am sichersten. Sie hatten allerdings einen wesentlichen Nachteil.

»Für zuverlässige PCR-Tests brauchen Sie vierundzwanzig Stunden«, warf sie ein. Sie sah Tom ins Gesicht. Seine Augen waren feuerrot, und sie war sich nicht sicher, ob er diese vierundzwanzig Stunden hatte.

Klemm schien nicht begeistert über ihren Widerspruch. Im Gegenteil. Er klang verschnupft, als er erwiderte: »Je nachdem, welchen Erreger wir haben, sind wir unter Umständen auch sehr viel schneller mit unserer Diagnostik. Bei Bacillus anthracis zum Beispiel liegen wir bei vier Stunden …«

»Wir haben es hier aber nicht mit Bacillus anthracis zu tun, sondern mit Pseudomonas aeruginosa!«, fiel Nina ihm hitzig ins Wort. »Mit einem pan-resistenten Stamm davon, und …«

»Ach, und das hat Ihnen wohl ein kleines Vögelchen geflüstert, oder was?«

Wütend über sich selbst biss Nina sich auf die Lippe. Sie war dem Mann auf den Schlips getreten, hatte seine Expertise angezweifelt. »Dr. Klemm«, versuchte sie, ihn zu besänftigen. »Wenn Sie sich die Unterlagen von Dr. Myers ansehen, die er in seiner Gartenlaube auf dem Computer hat, wissen Sie, mit welchen Erregern wir hier drinnen zu tun haben!«

»Alles schön und gut!«, unterbrach nun Klemm seinerseits sie. »Sie dürfen gern weiter Ihre Wildwestmethoden anwenden, aber bevor ich hier irgendwas in die Wege leite, werde ich die nötigen Tests durchführen lassen.« Er machte eine kurze Pause. »Sagen Sie mir also nicht, wie ich meine Arbeit zu machen habe, Dr. Falkenberg!«

Obwohl sie wusste, dass es vergeblich war, unternahm Nina einen letzten, resignierten Versuch, ihn zu überzeugen. »Glauben Sie mir, es ist Pseudomonas!«

»Dann werden die Tests uns das zeigen.«

Nina gab sich geschlagen, aber in diesem Moment platzte Tom der Kragen. »Dr. Falkenberg weiß, was für Zeug wir hier gerade einatmen!«, brauste er auf. »Und sie weiß auch, was die Rettung ist! Warum nehmen Sie nicht endlich Ihren Kopf aus dem Arsch und lassen uns einfach diese Sprinkleranlage auslös…«

»Herr Morell!«, unterbrach Tannhäuser ihn. »Die Kollegin Voss hat mir ausführlich erzählt, welche Rolle Sie in diesem Fall gespielt haben, und ich habe vollstes Verständnis dafür, dass Sie ungeduldig sind. Aber ich werde den Teufel tun und einen meiner Leute diese Sprinkleranlage auslösen lassen, bevor ich nicht sicher bin, dass darin das Gegenmittel ist und nicht etwa noch ein zweiter, potenziell noch gefährlicherer Keim!«

»Dr. Falkenberg ist …«

»Dr. Falkenberg ist mit Sicherheit eine kluge und patente Frau, aber wir werden streng nach Vorschrift vorgehen und unsere Experten ihre Arbeit machen lassen.«

Tom schnaufte bei dem streng nach Vorschrift.

Aus seinen roten Augen sah er Nina an, und sie spürte seine Angst zu erblinden. Sie empfand schließlich dasselbe. Sie räusperte sich. »Dr. Klemm! Phagen sind intelligente Medikamente. Sie greifen nur ihr Wirtsbakterium an und machen keinen weiteren Schaden …«

»Alles schön und gut!«, sagte der Mann vom ZBS. »Aber Sie sind Wissenschaftlerin. Sie wissen, dass Herr Tannhäuser recht hat. Wir müssen uns sicher sein, dass Sie sich mit Ihren Annahmen über den Inhalt der Sprinkleranlage nicht täuschen. Und darum bitte ich Sie, uns jetzt einfach unsere Arbeit machen zu lassen!« Klemm gab seinen beiden Leuten in den Schutzanzügen einen Wink, und sie kamen auf die Tür zu.

Tannhäuser wandte sich an Voss. »Tina! Sorg dafür, dass Klemms Männer oben im Saal Luftproben und Wasserproben aus der Sprinkleranlage nehmen können. Informiert die Leute über die Lage. Sorgt dafür, dass niemand in Panik gerät und dass alle ruhig bleiben, bis wir mehr wissen! Ich melde mich bei euch, sobald …«

»Herr Tannhäuser?«, fiel Nina ihm ins Wort.

»Ja?« Er klang genervt.

»Schicken Sie wenigstens jemanden zu Ethans Gartenlaube! Da finden Ihre Experten alle nötigen Infos über Pseudo… über das Zeug, das wir hier gerade einatmen.«

Ein Anflug von Erheiterung flog über Toms Miene, weil sie sich in ihrer Ungeduld seine völlig unwissenschaftliche Redeweise zu eigen gemacht hatte.

»Also gut.« Kurz redete Tannhäuser mit jemandem, der bei ihm war, dann kehrte er an den Apparat zurück. »Sagen Sie mir, wo die Laube ist.«

Nina nannte ihm die Adresse der Schrebergartenanlage und die Parzellennummer.

»Wir melden uns wieder«, sagte Tannhäuser.

Der SEK-Mann, der die Tür bewachte, trat einen Schritt zur Seite. Die Wissenschaftler in ihren Schutzanzügen bauten sich dicht vor der Tür auf, damit beim Öffnen der Tür so wenig Luft wie möglich nach draußen gelangte.

Tom verdrehte seufzend die Augen. »Kontrollverlust«, hörte Nina ihn murmeln.

»Kontrollverlust«, wiederholte Tom, als er und Nina zusammen mit Voss und einem der beiden Wissenschaftler vom ZBS die geschwungene Treppe hoch zum Festsaal gingen. Der andere war zusammen mit Runge und dem Hausmeister unterwegs zum Wassertank der Sprinkleranlage.

»Wir werden streng nach Vorschrift vorgehen!«, imitierte Tom, was Tannhäuser gesagt hat. »Ich sag’s ja! Schalte die Polizei ein, und jedes bisschen gesunder Menschenverstand wird in den bürokratischen Mühlen zermahlen.«

Der Mann vom ZBS warf ihm durch die durchsichtige Folie seines Schutzanzugs einen ausdruckslosen Blick zu.

»Die Vorschriften haben durchaus ihren Sinn«, widersprach Voss.

»Klar. Ihnen Ihren Arsch zu retten, wenn hier irgendwas schiefgeht. Dann können Sie sich nämlich schön auf die Vorschriften berufen und sind …« Er hielt inne, als sie ihm einen warnenden Blick zuwarf. »Ach, machen Sie doch, was Sie wollen!«, grummelte er. »Machen Sie ja sowieso!«

Nina beteiligte sich nicht an der Diskussion. Plötzlich empfand sie den Schock von Marens Tod mit einer Heftigkeit, die ihre Hände zittern ließ. Die Frau, die ihre beste Freundin gewesen war, hatte ihren Ziehvater nicht nur bestohlen, sondern ihn grausam ermorden lassen …

Um sich von diesem niederschmetternden Gedanken abzulenken, überlegte sie, wie viele Gäste wohl auf dieser Gala waren. Hundert bis hundertzwanzig, schätzte sie, als sie hinter der Kommissarin und dem Wissenschaftler den Saal betrat. Dazu das Servicepersonal und Mitarbeiter des Rathauses. Zusammengenommen vielleicht hundertfünfzig bis hundertachtzig Menschen, die allesamt als Träger eines pan-resistenten Superkeims eine Gefahr für die restliche Bevölkerung Berlins darstellten.

Der Anblick des ZBS-Mannes verursachte Unruhe unter den Anwesenden, und Nina konnte es ihnen nicht verübeln. Es war wirklich ein beunruhigender Anblick, mit anzusehen, wie der Mann in seinem Astronautenanzug einen mitgebrachten Probenrucksack abstellte und eine Handsaugpumpe sowie mehrere Probenentnahmeröhrchen hervorholte. Eines der Röhrchen koppelte er an die Pumpe und befüllte es mit der Luft aus dem Saal. Dann schraubte er es behutsam zu, steckte es in eine Vorrichtung in seinem Koffer und machte sich daran, den Vorgang an anderer Stelle im Raum zu wiederholen.

Nina sah zu, wie Voss sich kurz mit ihren Kollegen absprach, dann zu Dr. Heinemann ging und ihn informierte, was geschehen war. Heinemann wurde blass. »Das ist eine Katastrophe!«, entfuhr es ihm. Ein paar der Anwesenden warfen ihnen besorgte Blicke zu, doch bevor es zu größeren Tumulten kam, kletterte Kommissarin Voss auf die Bühne und trat an das Mikro.

»Ist das an?«, ertönte ihre Stimme über die Lautsprecher. »Ah. Gut. Meine Damen und Herren, darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten?« Sie wartete, bis das Stimmengewirr zu einem unterdrückten Gemurmel geworden war. »Wir haben Grund zu der Annahme, dass hier drinnen heute Abend ein Anschlag mit einem Krankheitserreger stattgefunden hat, der …« Das Gemurmel hob wieder an, steigerte sich zu einem Tumult, den Voss nur unterbinden konnte, indem sie, so laut sie konnte, »Bitte hören Sie mir zu!« in das Mikrofon schrie. Es gab eine hässliche Rückkopplung, und die wirkte, als hätte Voss ihre Pistole gezogen und in die Decke geschossen. Schlagartig war es totenstill. Nur irgendwo weiter hinten konnte Nina das mühsam unterdrückte Schluchzen einer Frau hören. »Noch haben wir keine gesicherten Erkenntnisse, aber wie Sie sehen …«, Voss deutete auf den Mann im Schutzanzug, der eine weitere Probe nahm, diesmal ganz vorn im Saal, nahe der Bühne, »… wurden bereits Spezialisten informiert, die sich kümmern. Sie alle dürfen versichert sein, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun, damit Sie gesund nach Hause zurückkehren können. Leider wissen wir zurzeit noch nicht, wie lange das dauern wird, darum bitten wir Sie um Geduld und darum, Ruhe zu bewahren …«

»Was genau ist das für ein Krankheitserreger?«, rief ein Mann im vorderen Drittel des Saales. Sein Haar war militärisch kurz geschnitten, und der Anzug, den er trug, schien von Hugo Boss zu sein. Nina kannte ihn aus dem Fernsehen, es war Sandro Griese.

»Das werden die Spezialisten so schnell wie möglich rausfinden«, antwortete Voss ausweichend.

»Und darf ich fragen, was Sie ermächtigt, uns hier einfach festzuhalten? Das ist Freiheitsberaubung, und ich verlange …« Griese unterbrach sich, weil einer seiner Begleiter sich zu ihm beugte, ihm etwas ins Ohr flüsterte und ihm dazu sein Handy vor die Nase hielt. Griese klappte die Kinnlade herunter.

Oh, oh, schoss es Nina durch den Kopf. Was kam jetzt?

»Prometheus steckt hinter diesem Anschlag, oder? Die ganze Gala hier diente nur diesem einzigen Zweck, uns in eine hinterhältige Falle zu locken, damit …«

»Stopp!«, donnerte Voss über das Mikrofon. Etliche Gäste zuckten zusammen, aber Griese war nur mäßig beeindruckt.

»Das wird Konsequenzen haben!«, drohte er, bevor einer der Polizisten auf Voss’ Wink hin neben ihn trat und ihn mit der ganzen Autorität seiner Uniform aufforderte, den Mund zu halten.

Griese fügte sich, aber seine Worte konnten nicht ungesagt gemacht werden. Nina hörte, wie sie von Mund zu Mund weitergegeben wurden. Sie spürte die Unruhe, die wie eine Welle durch die Menge lief und dabei stetig zunahm.

»Prometheus hat uns mit dem resistenten Keim von diesem Mädchen verseucht?«, wisperte eine Frau ganz in ihrer Nähe.

Auf der Suche nach seiner Frau ließ Tom die Blicke über die aufgebrachte Menge schweifen. Ein junger Mann, den die lange schwarze Schürze als Kellner auswies, stand schweratmend und mit Schweiß auf der Stirn da. Eine ebenso junge Kollegin kümmerte sich um ihn.

Scheiße!

»Das ist nur eine Panikattacke«, sagte Nina, die sich dicht bei ihm hielt. »Der Keim kann so schnell noch keine Atemnot auslösen, dazu ist es noch viel zu früh.«

Er konnte nur hoffen, dass sie recht hatte. Tatsächlich schienen die meisten Anwesenden noch nicht wirklich besorgt darüber zu sein, dass sie hier festgehalten wurden, sondern eher verärgert.

Er hatte das Gefühl, als hätte er plötzlich Sand in den Augen.

»Tom!« Max hatte sie entdeckt und steuerte durch die Menge auf sie zu. »Stimmt es?«, schnappte er. »Ist es Sylvies Keim, der …« Ihm wurde bewusst, dass er zu laut sprach, und er zog den Kopf ein.

»Ja«, antwortete Nina. »Es deutet alles darauf hin.« In zwei, drei knappen Sätzen erklärte sie ihm, worin Ethans Plan bestanden hatte und dass Maren tot war und sie zu Prometheus gehört hatte.

Er brauchte einen Moment, um das alles zu verarbeiten. »Maren? Was …? Ich … Und du glaubst, dass die Phagen …« Er schüttelte den Kopf. Hinter seiner Stirn rotierte es, dann rasteten seine Gedanken an einer Stelle ein. »Das Ganze ist ein Desaster! Eine richtiges Scheißdesaster. Wir wollten die Abgeordneten mit Argumenten überzeugen, nicht mit … Was hat Ethan sich nur dabei gedacht? So ein verdammter Idiot! Jetzt werden die Politiker das Gesetz erst recht kippen!«

Wie konnte er jetzt nur an sein bescheuertes Gesetz denken?, schoss es Tom durch den Kopf. Der Mann vom ZBS verließ den Saal. Im gleichen Moment kam Bewegung in die Menge. Wie auf ein unsichtbares Zeichen drängte alles plötzlich in Richtung der Ausgänge, wo jedoch die Polizisten standen und die verschlossenen Türen bewachten.

»Ich will hier raus!«, hörte Tom jemanden kreischen. Die Stimme erhob sich schrill und panisch über alle anderen.

Die Polizisten an den Ausgängen hatten Mühe, die aufgebrachte Menge zur Besinnung zu bringen.

Bis ein schriller Pfiff alle erstarren ließ. Er stammte von Nina. »Hören Sie mir zu!« Sie hatte die Bühne geentert und sich das Mikrofon gegriffen. Genau wie Kommissarin Voss trug sie keine Abendgarderobe, sondern Jeans und dazu einen schmalen Blazer, und sie sah großartig aus. »Hören Sie mir zu«, wiederholte sie eindringlich, und tatsächlich schaffte sie es, damit die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zu ziehen. »Im Moment besteht für keinen von Ihnen akute Gefahr! Ja, es kann sein, dass wir es bei dem Keim, dem Sie ausgesetzt wurden, mit demselben zu tun haben, den Sie vorhin in diesem Film gesehen haben.« Sie deutete auf die Leinwand über sich. »Aber für Menschen mit intaktem Immunsystem ist dieser Keim zunächst nicht besonders gefährlich …«

»Zunächst?«, warf Sandro Griese ein, der sich nun zum Sprecher der Menge gemacht zu haben schien. Tom war sich sicher, dass der Kerl eben auch die Fluchtreaktion hin zu den Ausgängen ausgelöst hatte.

Nina tat das einzig Richtige: Mit ruhiger Stimme parierte sie den Einwurf. »Wenn Sie mich ausreden lassen, werde ich Ihnen alles erklären. Mein Name ist Dr. Nina Falkenberg, ich bin Journalistin und spezialisiert auf medizinische Themen. Ich habe die Polizei als Sachverständige dabei unterstützt, Prometheus zu finden, und ich werde Ihnen jetzt sagen, was wir tun müssen, damit all das hier gut endet.« Während sie begann, den Menschen mit einfachen Worten das weitere Vorgehen der Spezialisten zu erklären, suchte sie in der Menge nach Tom. Als sie ihn fand, senkte sich ihr Kopf zu einem kaum wahrnehmbaren Nicken.

Was wollte sie ihm sagen?

»Zunächst werden die Ärzte hier im Saal Nasen-Rachen-Raum-Abstriche bei Ihnen vornehmen, ganz ähnlich wie Sie das noch von Corona kennen. Bis die Ergebnisse der Tests vorliegen, wird man Sie isolieren …« Während Nina sprach, hob sie den Blick mehrmals zur Decke.

Tom spürte, dass sie ihm etwas sagen wollte. Als sie das nächste Mal nach oben schaute, begriff er, dass sie dort keineswegs den Text ihrer Rede abzulesen versuchte, sondern …

Schlagartig begriff er.

An der Stelle, zu der sie wieder und wieder schaute, befand sich eines der Auslassventile der Sprinkleranlage.

Toms Augen weiteten sich. Bist du sicher?, formte er lautlos mit den Lippen.

Sie nickte erneut.

Er schob seine Hand in die Hosentasche und krampfte sie um das Einhornfeuerzeug.

Die Sekunden, die folgten, nachdem Tom endlich begriffen hatte, was sie ihm sagen wollte, rauschten an Nina vorbei wie ein Hochgeschwindigkeitszug. Sie sah, wie er die Hand in die Tasche schob. Mit einem Satz, der die Umstehenden vor Überraschung aufschreien ließ, sprang er auf einen der Bistrotische und hob den Arm. In seiner Hand lag sein Feuerzeug.

Nina glaubte, das leise Ratschen des Rädchens zu hören, was allerdings bei dem augenblicklich entstehenden Tumult schlichtweg unmöglich war. Eine kleine gelbe Flamme sprang auf. Tom reckte sich.

»Stopp!«, donnerte Voss.

Tom erstarrte, und auch der Rest der Szenerie gefror, als er sich im Fadenkreuz gleich mehrerer Polizeiwaffen wiederfand. Die von Voss eingeschlossen.

»Zwingen Sie mich nicht, mich schon wieder anschießen zu lassen«, sagte er trocken.

Nina glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. Würde er … auch auf die Gefahr hin …?

Voss’ Miene spiegelte den Widerstreit, der in ihr tobte.

»Sie nehmen sofort das Feuerzeug runter!«, befahl Kommissar Runge, doch in diesem Augenblick hatte Voss eine Entscheidung getroffen.

Langsam schüttelte sie den Kopf. »Jens, nimm die Waffe runter!«

»Tina, was …«

Sie ließ Runge nicht ausreden. »Waffen runter!«, befahl sie, mit schärferer Stimme diesmal. »Alle! Auf der Stelle!«

Ihre Kollegen gehorchten einer nach dem anderen, Kommissar Runge als Letzter.

Voss legte den Kopf in den Nacken und sah zu Tom auf. »Tun Sie es!«

»Sicher?«

»Sicher!«

Da hob er die freie Hand in Richtung Schläfe, es sah aus, als wolle er allen Ernstes salutieren. Er reckte, sich so hoch er konnte, und näherte die Flamme dem Auslöser des Sprinklers.

Den Schatten sah Nina nur aus dem Augenwinkel.

»Nein!«, schrie sie. Jemand flog auf Tom zu. Prallte gegen ihn, und Nina sah, wie er von dem wackeligen Tisch gefegt wurde.

»Lukas!«, donnerte Voss. »Verdammt nochmal!«

In hohem Bogen flog das pinkfarbene Feuerzeug durch die Luft. Tom krachte mit dem Rücken auf einen zweiten Bistrotisch, der unter ihm zu Bruch ging.

Dann löste der Sprinkler aus, und kaltes Wasser klatschte ihm ins Gesicht.