Montag.

4

Tom stand an einem der hohen Fenster des Rathaussaales und blickte in den morgendlichen Himmel über Berlin. Seine Augen brannten unerträglich heftig, und er musste ein ums andere Mal blinzeln, um der Tränen Herr zu werden. Jedes Mal fühlte es sich an, als würden seine Lider über Sandpapier reiben. Täuschte er sich, oder sah er in den letzten Stunden zunehmend unscharf?

Seine Rippen schmerzten von dem Aufprall auf dem Bistrotischchen.

Ein Rettungswagen fuhr vorbei, das eingeschaltete Blaulicht verschwamm vor Toms Blick. Wäre das Brennen seiner Augen nicht gewesen, hätte sich das hier angefühlt wie ein Déjà-vu, dachte er. Wie lange war es her, dass er das letzte Mal voller Anspannung einem Rettungswagen hinterhergestarrt hatte? Es kam ihm vor wie ein Jahrzehnt. Damals hatte er kurz danach von Dr. Heinemann die Hiobsbotschaft erhalten, dass seine Tochter kaum noch zu retten war. Jetzt jedoch befand sich Sylvie auf dem Wege der Genesung, während er selbst darauf wartete, gesagt zu bekommen, ob er an einem potenziell tödlichen Keim litt.

Oder daran erblinden würde.

Seltsamerweise hatte er keine Angst. Im Gegenteil. Alles, was zwischen jenem Tag damals und heute passiert war, verlor an Bedeutung angesichts dieser einen Tatsache. Sein kleines Mädchen würde leben.

Er schloss die Augen, aber dadurch wurde das Brennen so unangenehm, dass er sie wieder aufriss. Er wandte sich um. Die Lage im Festsaal ähnelte mittlerweile eher einem Flüchtlingslager als einer Galaveranstaltung. Ein paar Stunden, nachdem er gestern Abend auf Ninas Geheiß hin die Sprinkleranlage ausgelöst hatte, waren die Jungs von der Abteilung Bioterrorismus der Bundeswehr eingetroffen und hatten mit nahezu unheimlicher Präzision und Effektivität die Regie übernommen. Man hatte die Galagäste darüber informiert, dass sie für die nächsten vierundzwanzig Stunden das Gebäude nicht verlassen durften – bis das Ergebnis der PCR-Tests des ZBS vorlag und man sicher wusste, ob sie alle wirklich einem pan-resistenten Pseudomonas ausgesetzt gewesen waren. Jeglichen Protest hatten die aufgerödelten Kerle in ihren Tarnfleckanzügen, die anstelle der Berliner Polizei draußen vor den Eingängen Position bezogen hatten, durch die pure Energie ihrer Erscheinung unterbunden. Als Erstes hatte man dafür gesorgt, dass alle Anwesenden trockene Klamotten bekamen – was dazu geführt hatte, dass Tom und alle anderen sich mittlerweile in dunkelblaue Sportklamotten aus Bundeswehrbeständen gehüllt wiederfanden. Einige Bundestagsabgeordnete und auch diese Bloggerin, diese Eleni, hatten sich anfangs geweigert, die hässlichen Trainingsanzüge überzustreifen, aber im Laufe der Nacht waren sie alle klug geworden und hatten ihre nasse Kleidung gegen die wärmenden Anzüge eingetauscht. Ferner hatte die Bundeswehr Feldbetten in den Saal geschafft, Decken und auch genug Essen, um die hundertachtzig Menschen hier für vierundzwanzig Stunden zu verköstigen.

Trotz aller Bemühungen machte sich im Saal ab und zu Genörgel breit, und auch gerade schien es wieder mal so weit zu sein.

»Wann lassen Sie uns denn endlich hier raus?«, rief eine Frau mit sich überschlagender Stimme.

Kommissarin Voss versuchte, sie zu beruhigen, aber die Frau schien mit ihrer Geduld völlig am Ende. Sie schrie und keifte und versuchte sogar, um sich zu schlagen. Schließlich brauchte es die vereinten Überredungskräfte von Voss und Nina, um sie dazu zu bringen, sich auf eines der Feldbetten zu setzen und Ruhe zu geben.

Nina setzte sich zu ihr und sprach noch eine Weile auf sie ein. Dabei fiel ihr Blick auf Tom am Fenster. Sie richtete ein paar letzte, beruhigende Worte an die Frau, stand auf und kam zu ihm herüber.

»Man könnte meinen, alle haben sehr viel weniger Grund, ungeduldig zu sein als du«, sagte sie leise. Ihr Gesicht war fahl, Schatten lagen unter ihren Augen, die von einer weitgehend schlaflosen Nacht herrührten. Sie hob die Hand und berührte ihn an der Wange. »Deine Augen«, murmelte sie.

Er widerstand dem Versuch, ihr zu versichern, dass es ihm gutging. Sie wusste, dass Dr. Heinemann ihn noch in der Nacht untersucht und eine schwere Augenentzündung diagnostiziert hatte. Und er hatte auch noch allzu gut im Ohr, wie sie und der Arzt anschließend über die Zerstörung seiner Hornhaut und seine drohende Erblindung gesprochen hatten. An der Art, wie seine Umwelt jetzt immer wieder vor seinem Blick verschwamm, erkannte er nur zu genau, dass die beiden nicht übertrieben hatten.

»Darf ich dir eine Frage stellen?«, meinte er.

Sie nickte.

»Das gestern Abend. Dass du mir das Signal gegeben hast, die Sprinkleranlage auszulösen …« Er überlegte, wie er es am besten formulieren sollte. Er wollte sich nicht lächerlich machen. »Hast du es deswegen getan?« Er deutete auf seine Augen. »Warum hast du mich diesen Stunt durchziehen lassen, obwohl du genau so gut die Testergebnisse von diesem Dr. Klemm hättest abwarten können?«

Ninas schwieg. Er konnte sich in ihren Pupillen spiegeln.

»Du wolltest damit verhindern, dass ich erblinde«, sagte er ihr auf den Kopf zu. »Aber das hat nicht funktioniert.«

Sie presste die Lippen aufeinander. Sie sah ihm noch einige Sekunden lang in die Augen. Er spürte ihre Angst um ihn, aber auch die Tatsache, dass sie vor diesem Gefühl zurückschreckte. Mit einem Ruck wandte sie sich ab. »Dr. Heinemann!«, rief sie.

Der Arzt von Toms Tochter saß auf einem der Bistrostühle in der Nähe der Bühne und schien tief in Gedanken versunken. Nina musste ein weiteres Mal nach ihm rufen, bevor er den Kopf hob, schließlich aufstand und zu ihnen trat.

»Wir müssen etwas gegen Toms Entzündung tun!«, sagte sie. »Und zwar schnell! Die Dosis der Phagen aus der Sprinkleranlage scheint seine Infektion nicht ausreichend bekämpfen zu können.«

Der Arzt musterte Tom. »Offenbar.« Er nickte. »Aber solange wir hier nicht raus…«

»Die Apotheke in Ihrem Klinikum muss doch noch Phagen von Sylvies Behandlung übrig haben. Können Sie nicht dort anrufen und darum bitten, dass man eine Augenspüllösung für Tom herstellt? Es muss doch möglich sein, die hier reinzuschaffen, wenn Sie …« Sie verstummte.

Heinemann rieb sich die Stirn. Auch er war blass und wirkte unendlich müde. »Ich sehe, was ich tun kann«, murmelte er, griff zu seinem Handy und entfernte sich ein Stück von Nina und Tom.

Nina nahm Toms Hand und drückte sie. »Das wird schon!«, sagte sie leise.

Tom zwang sich zu einem Lächeln. »Da bin ich sicher.«

»Frau Dr. Falkenberg?« Ein Abgeordneter der Grünen stand plötzlich hinter Nina. »Dürfte ich Sie kurz sprechen?«

Nina wandte sich zu ihm um. »Natürlich. Moment.« Noch einmal drückte sie Toms Hand, dann ließ sie ihn los und ging mit dem Mann fort.

Tom schluckte. Er hatte seit Stunden keine mehr geraucht, und die Gier nach einer Zigarette war mittlerweile übergroß. Er ließ den Blick durch den Raum schweifen und suchte seine Frau. Isabelle saß auf einem der Feldbetten, hatte die Hände im Schoß um ein Papiertaschentuch gekrampft und die Augen angstvoll aufgerissen.

Er verspürte einen eigenartigen Widerwillen, zu ihr zu gehen, obwohl sie zu seiner Verwunderung seit dem Anschlag kaum Vorwürfe gegen ihn erhoben hatte. Ganz im Gegenteil. Sie hatte immer wieder fast flehentlich seinen Blick gesucht, als bräuchte sie seinen Halt und seine Zusicherung, dass alles gut werden würde.

Bitte tun Sie meinem Mann nichts. Ich weiß doch nicht, was ich ohne ihn machen soll! Das hatte sie gesagt, als er in die Mündung von Marens Waffe gestarrt hatte.

Ich weiß doch nicht, was ich ohne ihn machen soll …

Er blickte sie an und konnte dabei zusehen, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Die Angst stand in ihrem Gesicht wie ein Ausrufezeichen. Da gab er sich einen Ruck. Er ließ sich neben ihr auf dem Bett nieder und zog sie in seine Arme. Augenblicklich fing sie an zu weinen.

»Es wird gut ausgehen«, sagte er. »Nina ist sicher, dass die Phagen aus der Sprinkleranlage den Erreger …«

»Nina.« Mit einem Ruck löste sie sich von ihm und sah ihn so forschend an, dass er sich vorkam wie gegen den Strich gestreichelt.

»Was?«, fragte er. Es klang aggressiver, als er geplant hatte.

»Was hast du da eben mit ihr besprochen?«, wollte sie wissen.

»Nur was man gegen meine Augenentzündung tun kann.«

Isabelle schien nicht überzeugt. Und dann verfiel sie in die alten Muster. »Warum gehst du nicht zu ihr?«, fragte sie in ihrem üblichen anklagenden Tonfall.

Er atmete durch. »Ich bin hier bei dir«, sagte er so sanft wie möglich.

Sie lächelte matt, und eine Weile lang saßen sie schweigend nebeneinander.

»Du hast irgendwie überhaupt keine Angst«, stellte sie nach einer Weile fest.

Von wegen!

Er lauschte in sich hinein. Nina sprach immer noch mit dem Grünenpolitiker und erklärte ihm irgendwas.

»Wir nennen sie Good Bugs«, hörte Tom sie sagen.

»Und diese lytischen Phagen, von denen Sie gesprochen haben, können im Körper wirklich keinen Schaden anrichten?«, fragte der Mann.

»Nein. Weil sie nur ihren passenden Wirt zerstören, das schädliche Bakterium, und wenn sie damit fertig sind, verschwinden sie.«

Tom dachte daran, wie Nina genau das Gleiche zu ihm gesagt hatte. Ein warmes Gefühl durchflutete ihn, und ihm ging auf, dass er sie anstarrte. Und dass Isabelle es mitbekam.

Der vorwurfsvolle Blick seiner Frau klebte förmlich an ihm, und die Energie, die von ihr ausging, trieb ihn auf die Füße. Fluchtartig rettete er sich zurück ans Fenster und starrte hinaus.

In seinem Inneren tobten eine ganze Handvoll unterschiedlichster Gefühle, darum dauerte es eine Weile, bis er bemerkte, dass jemand neben ihn getreten war.

Er riss sich zusammen, als er sah, dass es Max war. Max, der ihm die ganze Nacht hindurch erfolgreich ausgewichen war und wie alle hier drinnen unfassbar müde wirkte. Nein, nicht müde. Total erschossen. Er ähnelte einem Mann, dessen gesamtes Lebenswerk in einer einzigen Nacht zu Scherben zerschlagen worden war.

»Du siehst scheiße aus«, sagte er zu Tom.

»Danke.« Tom wusste nicht, ob Max die schicken Bundeswehrtrainingsanzüge meinte, die sie beide trugen, oder sein vermutlich bleiches und schmerzverzerrtes Gesicht. Er verkniff es sich, das Kompliment zurückzugeben. Eins jedoch konnte er nicht auf sich beruhen lassen. »Eigentlich müsste ich dir noch die Fresse polieren.«

Max begriff sofort, worum es ging. »Du wärest gern dabei gewesen, als Sylvie aus dem Koma erwacht ist, oder?«

»Du hättest mich fragen müssen, ob du ihr Aufwachen an die Öffentlichkeit zerren darfst!«

»Stimmt.« Max ließ eine unangenehme Pause entstehen. »Hättest du es erlaubt?«

»Nein.«

Max nickte. »Eben.«

»Du bist bereit, wirklich alles deinem Ziel unterzuordnen, oder?«

Da lächelte Max traurig. »Unsere Sache ist zu wichtig, um zimperlich zu sein. Immerhin geht es um viele Menschenleben!«

»Glaubst du wirklich, dass der Anschlag deine ganze Mühe zunichtegemacht hat?«

Max zuckte mit den Schultern. »Ehrlich? Keine Ahnung! Ich weiß, dass seit RAF-Zeiten gilt, dass sich der Staat nicht erpressbar machen darf. Darum hoffe ich, dass die Debatte darüber, ob der Bundestag gegen den Bundesrat stimmt und das ARBG doch noch durchbringt, auf jeden Fall stattfinden wird.« Ein fast verzweifeltes Lächeln glitt über seine Züge, bis sein Blick auf Nina und den Grünenabgeordneten fiel. Da entspannte sich seine Miene etwas. »Wie die Abgeordneten jetzt entscheiden werden, weiß nur der liebe Gott. Vorher war ich mir wenigstens einigermaßen sicher, aber jetzt …«

Tom spürte, dass da noch etwas auf seiner Seele lag. In Gedanken ging er all die Situationen durch, die er und Max gemeinsam überstanden hatten.

»Was ist?«, fragte Max.

Tom zögerte. »Kurzzeitig waren wir sicher, dass du Teil von Ethans Team bist.«

Max schnaubte. »Echt?« Dann starrte er Tom in die Augen. »Du auch?«

»Ich weiß es nicht, ehrlich gesagt. Ich denke auch, dass der Anschlag eher gegen das gearbeitet hat, was du die ganzen letzten Monate aufgebaut hast.« Er grinste düster. »Außerdem denke ich, dass du nicht fähig wärest, einen Mord zu begehen. Zu so was wie mit Sylvie bist du fähig. Zu Mord nie im Leben.«

Max senkte den Kopf. »Ich verstehe das mal als Kompliment«, murmelte er.

Tom war sich nicht sicher, ob er es so gemeint hatte, aber er beließ es dabei. Er versuchte, die Schmerzen in seinen Augen zu ignorieren. »Du tust mir leid.«

Max sah überrascht aus. »Ich tue dir leid? Wieso, um Himmels willen?«

Tom antwortete ihm nicht.

»Mir tut es leid, dass du nicht dabei sein konntest, als Sylvie aufgewacht ist«, sagte Max leise.

»Ja. Ja, mir auch.«

Max schob die Hand in die Tasche seines Trainingsanzugs. Als er sie wieder hervorzog, lag darin Toms Einhornfeuerzeug. »Das hast du verloren, als dieser Jungspund dich dahinten vom Tisch gecheckt hat.«

Tom nahm es.

Max lachte leise. »Ich wünsche dir, dass das dein letzter Stunt in dieser ganzen Geschichte war.«

Tom wollte mitlachen, aber er war zu kaputt dazu, also nickte er nur. Mit dem Daumen strich er über das kitschige Einhorn, bevor er das Feuerzeug wegsteckte.

Es ging bereits auf den Abend zu, als ein Mann in einem Hochsicherheitsschutzanzug den Saal betrat.

»Darf ich bitte um Ihrer aller Aufmerksamkeit bitten?«

Tom, der wieder auf dem Feldbett neben seiner Frau saß und die letzten zwei Stunden vor sich hingedöst hatte, hob den Kopf. Isabelle war schneller als er. Sie war bereits auf den Beinen, als er noch nach der Kraft suchte aufzustehen.

Der Mann im Schutzanzug wartete, bis sich alle Blicke auf ihn gerichtet hatten, und erst als er sich vorstellte, erkannte Tom ihn wieder.

»Mein Name ist Dr. Klemm, ich bin leitender Infektiologe am Zentrum für Biologische Gefahren und Spezielle Pathogene des Robert Koch-Instituts. Wie Sie alle wissen, waren Sie gestern Abend über mehrere Stunden lang einem bis dahin unbekannten Erreger ausgesetzt. Wir konnten diesen Erreger nun zweifelsfrei als Pseudomonas aeruginosa identifizieren …«

»Das ist der von dem Mädchen«, hörte Tom jemanden keuchen. Es kostete ihn Mühe, sich auf Dr. Klemm zu konzentrieren.

»Frau Dr. Falkenberg hier«, Klemm wies auf Nina, die ganz in seiner Nähe stand, »hat mir gesagt, dass Sie alle bereits über die Wirkung dieses Keims informiert sind, darum spare ich mir längere Erklärungen dazu und komme sofort zu den Maßnahmen, die nun ergriffen werden müssen. Mehrere meiner Mitarbeiter werden gleich hier reinkommen und bei jedem von Ihnen einen sogenannten Nasen-Rachen-Abstrich vornehmen. Damit werden wir testen, wie stark jeder Einzelne von Ihnen mit dem Keim kolonisiert ist.«

»Und wie lange dauert das dann wieder?«, rief Sandro Griese. Er hatte sich in den Vordergrund geschoben, als Dr. Klemm angefangen hatte zu reden, und nun verschränkte er wütend die Arme vor der Brust.

Klemm war von der Aggressivität in seiner Stimme kurz aus dem Konzept gebracht. »Es … Nun … Wir werden Ihre Abstriche mittels PCR-Methode testen, und …«

»Also nochmal vierundzwanzig Stunden?«, empörte sich Griese. »Sie wollen uns nochmal …«

»Bitte hören Sie mir zu!«, fiel Klemm ihm ins Wort. »Sie alle hier sind möglicherweise Überträger eines Keims, der Ihnen selbst vielleicht nicht gefährlich werden kann. Aber Sie könnten ihn übertragen – auf Ihre alte Mutter, einen krebskranken Partner oder sogar auf Ihr neugeborenes Kind. Und jeder von denen könnte an diesem Keim sterben. Ich bin sicher, dass niemand von Ihnen das will!« Er machte eine wirkungsvolle Pause und wartete, bis mehrere Menschen ringsherum zustimmend genickt hatten. Dann fuhr er fort: »Na also! Ich versichere Ihnen, dass meine Leute und ich so schnell arbeiten, wie wir nur können. Sie werden trotzdem alle hier noch weitere vierundzwanzig Stunden ausharren müssen.« Über das diesmal entstehende Murren ging er hinweg, indem er die Stimme hob. »Wir haben bereits veranlasst, dass die Herren und Damen von der Bundeswehr Sie mit allem Nötigen versorgen, um Ihnen die Zeit so angenehm wie möglich zu machen.« Er warf einen Blick in die Runde. »Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit«, sagte er und machte den Abgang. Noch während er auf dem Weg zur Tür war, kamen mehrere seiner Mitarbeiter herein und machten sich an die Arbeit.

Nina beobachtete, wie die Männer und Frauen von ZBS und Bundeswehr mit den ersten Abstrichen begannen, aber sie wurde abgelenkt, weil Dr. Heinemann sie ansprach. »Das hat mir eben einer der Polizisten gegeben.« In der einen Hand hielt er eine Flasche mit einem grünen Plastikaufsatz und einem Apothekenetikett. Obwohl Nina das Etikett nicht auf Anhieb lesen konnte, wusste sie sofort, was sie vor sich hatte: eine Augenspülflasche. Ihr Herz machte einen Satz. Dr. Heinemann hatte es tatsächlich geschafft, die Phagenlösung für Toms Augen hier hereinzubekommen!

Mit einem Lächeln fragte der Arzt: »Wollen Sie Herrn Morell das Mittel verabreichen, oder soll ich?«

Sie nahm ihm die Flasche ab. »Das mache ich!« Sie wollte schon zu Tom eilen, doch der Arzt hielt sie zurück.

»Sagen Sie ihm aber, dass er mir seine Unterschrift auf sämtlichen Formularen hierfür nachreichen muss!«

»Mache ich auch!« Suchend schaute sie sich um, ob sie Tom irgendwo entdeckte. Sie fand ihn ganz im vorderen Teil des Saals, links neben der Bühne, wo sich eine kleine Nische befand. Er stand dort zusammen mit seiner Frau und hielt sein Smartphone in der Hand, auf das sie beide schauten. Nina spürte augenblicklich, dass sie störte, aber es war ihr egal. Tom musste so schnell wie möglich diese Lösung verabreicht bekommen.

Sie räusperte sich vernehmlich.

Tom blickte von dem kleinen Bildschirm auf. Seine Augen wirkten noch roter als die ganze Zeit schon, und aus irgendeinem Grund wusste Nina, dass er diesmal wegen seiner Gefühle gegen die Tränen ankämpfte.

»Tom …?«

»Komm her!«, bat er sie.

Zögernd trat sie neben ihn und ignorierte den bösen Blick, den seine Frau erst ihm und dann auch ihr zuwarf. Tom drehte das Handy so, dass sie nun alle drei daraufschauen konnten.

Ninas Herz stockte.

Sylvie war auf dem Bildschirm zu sehen. Tom hatte sie mittels Videocall angerufen. Sie saß aufrecht im Bett, aber sie sah fahl und zu Tode erschöpft aus.

»Schatz, Nina ist hier«, sagte Tom zu ihr.

»Oh. Hallo, Frau Falkenberg!« Sylvie winkte matt. Obwohl sie sich alle Mühe gab, fröhlich zu klingen, spürte Nina die schreckliche Erschöpfung des Mädchens wie ihre eigene.

»Hallo, Sylvie«, sagte sie. »Schön, dass es dir besser geht!«

»Ja, oder, Frau Falkenberg?«

»Nina. Warum sagst du nicht Nina zu mir, was meinst du?«

»Okay. Nina. Können Sie … ich meine, kannst du meinem Vater mit seinen Augen helfen?«

Tom sah aus, als hätte ihn jemand geohrfeigt, und Nina ahnte, was es mit ihm machte, dass Sylvie sich mehr um ihn als um sich selbst sorgte.

Sie hob die Augenspülflasche. »Und ob ich das kann!«