»Hey Paps, guck mal!« Die Stimme seiner Tochter erreichte Toms Ohr, bevor er in Panik darüber ausbrechen konnte, dass er beim Eintreten in ihr Krankenzimmer ihr Bett leer vorgefunden hatte.
Sylvie stand in dem kleinen Bad vor dem Spiegel. Sie musste sich zwar mit beiden Händen festhalten, weil sie noch reichlich schwach auf den Beinen war, aber sie hatte den Weg vom Bett bis ins Bad nur mit ein wenig Unterstützung von Schwester Tanja gemeistert.
»Das ist großartig!«, murmelte er. Ihr Anblick überwältigte ihn so sehr, dass seine Augen feucht wurden, und obwohl die Spülungen, mit denen Nina noch im Festsaal des Rathauses begonnen hatte, seitdem dreimal am Tag durchgeführt worden waren, hatte er auch jetzt noch dieses leichte Fremdkörpergefühl. Dr. Heinemann selbst hatte ihn heute Morgen aus der Klinik entlassen. Er war gesund. Die letzten Tests hatten keine Belastung mit Pseudomonas bei ihm mehr nachweisen können.
Schwester Tanja strahlte ihn an. »Ich lasse Sie mal allein«, sagte sie. »Passen Sie auf, dass sie nicht hinfällt.«
»Mache ich.«
Sylvie wartete, bis die Schwester die Zimmertür hinter sich zugezogen hatte. Dann ließ sie das Waschbecken los und machte einen Schritt auf Tom zu. Aber die Kräfte verließen sie. Sie fiel ihm förmlich in die Arme, und sein Herz floss über, als er sie hochhob und behutsam in das Bett legte. Kurz fühlte er sich genau so wie früher, als er sie jeden Abend schlafen gelegt hatte. Nur der Kittel, den er nach wie vor tragen musste, störte den Eindruck ein wenig.
Aber der würde auch bald Geschichte sein.
Sylvie würde von diesem fiesen Keim, mit dem er sie angesteckt hatte, wieder ganz genesen. Er sah ihr ins Gesicht. Der kleine Ausflug ins Bad hatte sie erschöpft. Als sie die Augen schloss, konnte er ihre Lider flattern sehen.
»Ruh dich aus«, bat er.
»Ich will wieder mit dir wandern gehen«, flüsterte sie.
»Das werden wir.«
»Gut.« Sie riss die Augen auf. »Erzählst du mir nochmal, was auf dieser Gala und danach passiert ist?«
Er hatte ihr die Geschichte schon mindestens dreimal erzählt, aber sie konnte nicht genug davon bekommen. »Ich habe den Sprinkler ausgelöst«, sagte er.
»Der Polizist hat dich vom Tisch gecheckt.« Wie früher, wenn er beim Märchenerzählen ein Detail ausgelassen hatte, korrigierte sie ihn mit einem leicht vorwurfsvollen Ton.
Tom grinste. »Das hat er. Mir haben die Tage danach die Rippen ganz schön wehgetan, das kannst du glauben.«
»Aber du hast die Sprinkleranlage ausgelöst und die ganze Festgesellschaft bis auf die Knochen nassgemacht.« Sie kicherte. »Ich hätte zu gern gesehen, wie Miss Oberwichtig Eleni wie ein begossener Pudel dasteht.«
»Sie fand es nicht mehr ganz so scheiße, als sich später rausgestellt hat, dass das Wasser sie vor einer gefährlichen Infektion bewahrt hat.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen. Sie postet seitdem eine Menge Infos über Medizin und diesen ganzen Kram.« Sylvie gähnte. »Und wie ging es danach weiter?«
Seine Gedanken schweiften zu dem Abend und den darauffolgenden Tagen zurück. Die PCR-Tests, die Dr. Klemm und seine Leute von den Rachenabstrichen der Galagäste gemacht hatten, hatten wirklich noch einmal vierundzwanzig Stunden gedauert, und Voss und ihre Kollegen hatten alle Hände voll zu tun gehabt, die genervte und gelangweilte Menge von einer Meuterei abzuhalten. Nachdem dann am Dienstag klar war, wer von den Anwesenden von dem gefährlichen Keim besiedelt war und wer nicht, hatte ihre Kasernierung endlich ein Ende gehabt. Diejenigen, bei denen der Keim nachgewiesen werden konnte – darunter Frederic von Zeven, mehrere Abgeordnete der Grünen, die Bloggerin Eleni und auch Sandro Griese –, waren auf die umliegenden Infektionsabteilungen der Berliner Krankenhäuser gebracht worden, wo man über ihre Therapie debattiert hatte. Dr. Heinemann, der inzwischen offiziell als so was wie ein Experte in der Behandlung mit Phagen galt, hatte für den Einsatz von Sylvies Phagencocktail plädiert, und tatsächlich war es ihm gelungen, bei den Zulassungsbehörden eine Sondergenehmigung dafür zu erhalten. Die Tatsache, dass es hier um die Eindämmung eines bei einem Terroranschlag ausgebrachten resistenten Erregers ging, hatte dabei wesentlich geholfen. Tom mochte sich gar nicht ausmalen, wie viele offizielle Stellen am Ende mit dieser Sache befasst gewesen waren. Den Patienten waren mit den Phagen versetzte Gurgellösungen verabreicht worden, die sie, genau wie Tom seine Augentropfen, dreimal am Tag anwenden mussten. Und im Laufe der vergangenen Tage hatte man dann einen nach dem anderen entlassen können. Tom selbst, Griese und von Zeven waren heute Morgen die Letzten gewesen.
»Deine Phagen haben spektakulär gewirkt«, sagte er zu Sylvie. Er wusste, dass es das war, was sie hören wollte.
Sie lächelte. »Meine Phagen.«
Georgys Phagen, dachte er, und kurz schoss ein wehmütiges Gefühl durch ihn hindurch.
Sylvie gähnte. »Papa?«
»Du solltest jetzt wirklich schlafen!«, bat Tom.
Sie schloss die Augen wieder. »Bleibst du bei mir, bis ich eingeschlafen bin?«
Es schnürte ihm so sehr die Kehle zu, dass er nur stumm nicken konnte. Ohne die Augen zu öffnen, tastete Sylvie nach seiner Hand. Ihre Haut war warm und weich. Ihr Brustkorb senkte sich gleichmäßig und ohne die mühevollen Qualen der letzten Monate.
Tom sandte einen stummen Dank an Nina. Wieder fühlte es sich an, als würde Wehmut seinen Körper fluten.
»Worüber denkst du nach?«, hörte er Sylvie murmeln.
»Ach, über nichts.«
»Du lügst!«
Er schwieg. Wenn er Glück hatte, wäre sie eingeschlafen, bevor sie eine inquisitorische Befragung starten konnte. Er hatte kein Glück.
Sie schlug die Augen noch einmal auf. Ihr Blick war vom nahenden Schlaf bereits verschleiert, aber sie schien nicht vorzuhaben, Tom davonkommen zu lassen. »An diese Nina, oder?«
»Hmhm«, machte er.
Sie lächelte vielsagend. Er wusste, sie durchschaute ihn. Nina hatte sie in den vergangenen Tagen ein paarmal besucht, das hatte sie ihm erzählt. Er hätte zu gern gewusst, worüber die beiden gesprochen hatten, aber er traute sich nicht zu fragen.
»Ich habe mich vorhin mit Schwester Tanja unterhalten«, erzählte Sylvie. »Sie hat gesagt, dass nichts im Leben ohne Grund passiert.« Ihre Augen waren ganz groß und hell. »Wenn du nicht diesen Keim aus Indien mitgebracht hättest, hättest du Nina …«
»Scht!«, machte er automatisch, aber sie ließ sich nicht abhalten.
»Ich mein ja nur, dass du dir keine Vorwürfe mehr wegen mir machen sollst.« Sie grinste übertrieben fies. »Das macht immerhin Mama schon.«
Da musste er lachen. »Womit du wohl recht hast.«
»Sie ist nett.«
»Wer? Mama?« Er wusste natürlich genau, dass seine kluge Tochter nicht von Isabelle sprach.
»Du denkst oft an sie, oder?« Sylvies Stimme klang jetzt zunehmend undeutlich.
Er beugte sich über sie, küsste sie auf die Stirn. »Schlaf, Schätzchen.«
»Ja. Aber du musst hierbleiben.« Das letzte Wort verging in einer Art Seufzen, mit dem sie einschlief.
Tom suchte sich eine einigermaßen bequeme Position, die es ihm ermöglichte, weiter Sylvies Hand zu halten. Er würde ihren Schlaf bewachen. Er lächelte bei dem Gedanken.
Es ging auf die Kaffeezeit zu, als sich die Krankenzimmertür öffnete und Isabelle hereinkam.
»Hallo, Tom«, sagte sie. Sie klang ungewöhnlich sanft für seine Ohren.
Mit einigem Bedauern zog er seine Finger aus Sylvies Hand und stand auf. Er und Isabelle hatten verabredet, sich an Sylvies Krankenbett abzuwechseln. Das hier war also eine Schichtübergabe, doch offensichtlich hatte Isabelle gerade einmal nicht vor, sich an ihre selbstaufgestellten Regeln zu halten. Sie trat vor ihn hin.
Wann hatte er sie das letzte Mal so befangen gesehen? So sanftmütig?
»Ich habe dir noch gar nicht gedankt«, hörte er sie murmeln.
»Wofür?«
»Dafür, was du alles getan hast, um Sylvie zu retten.«
Ach? Plötzlich gar keine Vorwürfe mehr, weil ich sie überhaupt erst angesteckt habe? Er schluckte die bitteren Worte hinunter. Sie wären für ihn ebenso schmerzhaft gewesen wie für sie.
Sie streckte die Hand aus, berührte seine Seite ungefähr dort, wo ihn die Kugel gestreift hatte.
Er schluckte schwer.
Isabelle blickte ihm direkt in die Augen und machte Anstalten, ihm einen Kuss zu geben.
Nur mit dem Oberkörper wich er zurück.
»Ich will, dass du wieder nach Hause kommst«, sagte sie. Die Worte waren ebenfalls sanft gesprochen, und im ersten Moment überraschten sie Tom. Doch dann begriff er, was genau sie da eben gesagt hatte.
Ich will …
Sie würde sich nie ändern.
»Wir werden sehen«, murmelte er.
Ich weiß doch nicht, was ich ohne ihn machen soll, hatte sie gesagt.
Zehn Minuten später stand er draußen auf der Straße und lauschte, wie sein Herz mühsam schlug. Er hatte das Bedürfnis nach einer Zigarette, und als er das pinkfarbene Feuerzeug mit dem Einhorn herausnahm, glitt ein Lächeln über seine Lippen. Mit dem Daumen strich er über das Fabeltier. Der Strassstein saß locker. Lange würde er nicht mehr halten.
Er zündete sich eine Zigarette an, steckte das Feuerzeug wieder weg und machte sich auf den Weg. Er hatte noch einen Termin.
Das Café, in dem er mit Kommissarin Voss verabredet war, lag direkt am Landwehrkanal und war eins dieser privat geführten Hinterhofcafés, von denen nur ein Bruchteil die diversen Lockdowns der Corona-Pandemie überlebt hatte.
Dieses hier besaß antike Stühle und Tische und Geschirr, bei dem kein einzelnes Stück dem anderen glich. In der Luft lag der aromatische Geruch von frisch gemahlenem Kaffee und stark gewürztem Chai. Tom glaubte, einen Anflug von Muskatblüte zu riechen. Spontan beschloss er, den Gewürztee zu probieren.
Voss war bereits da, und vor ihr stand ein großer Kaffee. Als Tom sich zu ihr gesetzt und seine Bestellung aufgegeben hatte, kam sie sofort zur Sache. »Ich dachte, es interessiert Sie, dass es uns gelungen ist, über das Auswärtige Amt dafür zu sorgen, dass Tiflis uns Jegor überstellt. Er ist gestern hier angekommen, und er hat bereits angefangen, mit uns zu reden.«
»Das ist gut.« Tom versuchte, auf dem antiken Stuhl mit den filigranen Beinen eine einigermaßen bequeme Position zu finden.
»Was wir bisher wissen, ist Folgendes: Offenbar kannten Maren Conrad und er sich schon seit Kindertagen. Jegor ist mit seiner Mutter in den Neunzigern nach Deutschland gekommen, seine Mutter ist Spätaussiedlerin. Über den Vater hat man nicht viel gefunden, die Kollegen in Tiflis vermuten, dass er im Auftrag des FSB in Georgien stationiert war und bei einem Einsatz für den Geheimdienst starb. Seine Leiche wurde nach allen Regeln der Kunst zu Brei geschlagen aufgefunden, da war Jegor gerade vierzehn geworden. Er und Maren Conrad sind zusammen zur Schule gegangen. Maren hat danach Karriere als Mikrobiologin gemacht, aber er hat die Kurve nicht gekriegt. Wir wissen, dass er über die übliche Kleinkriminalität immer weiter abgerutscht ist. Wie auch immer. Er hat uns erzählt, dass Maren über einen ziemlich langen Zeitraum hinweg Anasias’ Phagen gestohlen hat, um sie zu Geld zu machen. Als sie rausbekam, dass Anasias ausgerechnet die wertvollsten Ergebnisse ihrer gemeinsamen Forschung der Allgemeinheit schenken wollte, musste sie handeln. Da erinnerte sie sich an ihren alten Jugendfreund.«
»Sie hat ihn beauftragt, die zwölf Superphagen zu beschaffen«, vermutete Tom.
»Ja. Aber er ist dafür nicht selbst nach Tiflis gereist, sondern benutzte ein paar Verbindungen. Er brachte einen alten Kumpel, Victor Wolkow, ins Spiel. Wolkow war spezialisiert auf Sprengstoffaufträge. Maren beschloss, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Über Jegor beauftragte sie Wolkow, das Institut in die Luft zu jagen. Vorher aber sollte er ihr das Journal und eben diese Superphagen besorgen. Jegor vermutet, dass die ganze Sache stark aus dem Ruder lief, weil Anasias anders als geplant an dem bewussten Abend nicht allein im Institut war.«
»Nina war bei ihm.«
»Genau. Sie war überraschend für Maren in Tiflis aufgetaucht. Anasias wurde getötet, das Institut in die Luft gesprengt, und die zwölf Phagenproben waren auf dem Weg hierher nach Berlin.«
»Und Nina auch.«
Die Bedienung kam und brachte Toms Chai. Er schmeckte gut, aber nicht besonders spektakulär.
»Und Nina auch«, wiederholte Voss, nachdem auch sie einen Schluck von ihrem Kaffee genommen hatte. »Wiederum über Jegor schickte Maren Victor Wolkow und Misha hierher nach Berlin, denn Nina war entschlossen, Anasias’ letzten Willen zu respektieren und die Superphagen der Menschheit zu schenken. Das konnte Maren nicht zulassen.«
»Glauben Sie, dass sie Jegor beauftragt hat, Nina zu töten, sobald er die zwölf und das Laborjournal in den Fingern gehabt hätte?«
»Da Maren tot ist, werden wir das vielleicht nie erfahren. Ich vermute aber, eher nicht. Trotz allem war Maren immerhin so was wie Ninas Freundin.«
»Schöne Freundin«, murmelte Tom.
Voss lächelte. Es sah verblüffend mitfühlend aus, und auch ihr Tonfall änderte sich, als sie erklärte: »Maren muss Nina ziemlich gemocht haben. Jegor hat uns nämlich erzählt, dass sie es war, die ihn von Ihnen zurückgepfiffen hat.«
»Zurückgepfiffen?«, fragte Tom.
»Ja. Er konnte es sich nicht anders erklären, dass Maren ihm verboten hat, den Ort des Laborjournals mit seinen, hm, üblichen Methoden aus Ihnen rauszuholen. Er glaubt, dass Maren wusste, was Sie Nina bedeuten.«
Seine üblichen Methoden. Tom dachte an Ninas toten Ziehvater und die tote Antiquarin, wobei er die mittlerweile gut verheilte Platzwunde an seinem Jochbein berührte. »Nina …«, murmelte er.
»Ja.« Voss nickte, dann kehrte sie zu ihrem sachlichen Ton und zu dem Fall zurück. »All diese vielen Toten! Erinnern Sie sich: Das hat Maren gesagt, kurz bevor sie sich umgebracht hat. Wir vermuten, dass sie Anasias’ Tod nicht geplant hatte. Jegor hatte Victor Wolkow den Auftrag gegeben, aus dem Professor rauszuholen, wo die zwölf Phagenproben sind, und dann das Institut zu sprengen. Seiner Aussage nach sollte dabei niemand zu Schaden kommen.«
»Tja. Blöd gelaufen, würde ich sagen.«
Diesmal lächelte Voss nicht. Tom verspürte einen Anflug von Sympathie für sie. »Wir vermuten, der gewaltsame Tod von Anasias brachte die Dinge dann ins Rollen. Als gesichert gilt, dass Maren Ethan Myers schon früher von Jegor erzählt hat. Seiner Aussage nach hat sie die beiden irgendwann mal miteinander bekannt gemacht. Als Maren Jegor den Auftrag gab, die Superphagen zu beschaffen, war Myers schon länger dabei, diese Prometheus-Anschläge zu planen. Offenbar hielt er Jegor für den perfekten Mann für die Drecksarbeit. Er hat ihn beauftragt, die Quarkspeise zu kontaminieren und die Spritze auf dem Wasserbehälter in dem zweiten Altersheim zu platzieren. Es war Ethan Myers in jedem einzelnen unserer Verhöre überaus wichtig zu betonen, dass er nicht wollte, dass Menschen dauerhaft zu Schaden kommen. Er wollte nur ein, ich zitiere, Szenario der Bedrohung schaffen, in dem sein Anschlag auf die Gala die gewünschte Wirkung entfaltet.«
»Offenbar war er anders als Dr. Seifert der Meinung, dass ein solcher Terrorakt der Verabschiedung des ARBG zugutekommt«, sagte Tom.
Wer von beiden recht behielt, würde sich heute noch herausstellen, dachte er und sah auf die Uhr. Die entsprechende Debatte im Bundestag lief bereits.
»Wusste Maren, dass Ethan hinter Prometheus steckt?«
»Tja. Das ist eine gute Frage. Myers behauptet, dass er mit ihr darüber gesprochen hat. Dass er ihr seinen Plan erklärt hat und sie offenbar keine Einwände hatte. Ich habe darüber mit einem Polizeipsychologen gesprochen. Es wäre durchaus möglich, dass der Tod von Georgy Anasias eine Art Realitätsverlust in Maren hervorgerufen hat. Dass sie von dem Moment an widersprüchlich agierte, fast als hätte sie zwei verschiedene Persönlichkeiten.«
»Darum konnte sie bei Sylvies Rettung mithelfen!«
Voss nickte. »Der Psychologe vermutet, dass ihr Unterbewusstsein extrem altruistisches Verhalten als eine Art Wiedergutmachung wertete. Das ist wohl eine Strategie, mit der eigenen Schuld umzugehen. Auf Außenstehende wirken Menschen mit diesem Problem oft massiv selbstlos, dabei ist ihr Motiv alles andere als das.«
Tom verscheuchte den Gedanken, dass das irgendwie auch nach ihm klang. Voss trank einen weiteren Schluck Kaffee, und das gab ihm Gelegenheit, über einen Punkt nachzudenken, den sie bisher noch nicht erörtert hatten.
»Glauben Sie, dass mit Marens Tod Prometheus endgültig zerschlagen ist?«
An dieser Stelle lehnte Voss sich auf dem antiken Stuhl zurück. »Tja. Da kommen wir zu dem einzigen Punkt, den wir nicht zufriedenstellend erhellen konnten. Die Wahrheit ist: Wir wissen nicht, ob dort draußen immer noch Anhänger von Myers rumlaufen.«
Etwas rieselte Tom kalt über den Rücken. »Sie glauben, es gibt weitere Beteiligte, die ihre Finger im Spiel hatten?«
»Wie gesagt: Wir wissen es nicht.« Tief atmete sie durch. »Offiziell geht man davon aus, dass Prometheus ein Trio war: Myers, Jegor und Maren Conrad.«
»Offiziell«, wiederholte Tom.
Sie nickte nur. »Die Akten sind geschlossen und der Staatsanwaltschaft übergeben worden. Soweit es das LKA betrifft, ist die Sache vorbei.«
»Sie verdächtigen immer noch Frederic von Zeven, oder?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe noch ein bisschen in seine Richtung ermittelt. Soweit es mir möglich war, jedenfalls ohne allzu viel Staub aufzuwirbeln. Ich konnte keinen einzigen Hinweis darauf finden, dass er mit Prometheus in Zusammenhang steht. Ich denke, wir können nichts anderes tun, als es darauf beruhen zu lassen. Die Hauptverantwortlichen haben wir schließlich. Gehen wir also davon aus, dass wir der Schlange den Kopf abgeschlagen haben.«
»Klar.« Er musterte sie. »Sie scheinen nicht überzeugt.«
Sie grinste. »Hinter jedem extrem großen Vermögen steckt ein Verbrechen«, zitierte sie. »Habe ich von einem ziemlich klugen Mann, und ich denke, er hat recht.«
Tom lachte. »Lassen Sie das bloß nicht Kommissar Runge hören, sonst weigert er sich, demnächst noch mit einer linksextremen Polizistin zusammenzuarbeiten!«
Auf dem Weg nach Hause – in seine Pension – dachte Tom darüber nach, was Kommissarin Voss ihm alles erzählt hatte. Besonders die Tatsache, dass Maren Conrad Ninas wegen verhindert haben sollte, dass die Russen ihn folterten, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.
Nina …
Er war so tief in Gedanken an sie versunken, dass er zusammenzuckte, als sein Telefon klingelte. Max war dran. »Sie haben es verabschiedet«, sagte er ohne Begrüßung. Er klang atemlos. Ungläubig, fand Tom und konnte es nachvollziehen. Genau wie Max hatte er selbst nicht damit gerechnet, dass die Bundestagsabgeordneten sich nach diesem Anschlag tatsächlich dafür entscheiden würden, den Einspruch des Bundesrates zu überstimmen und das Gesetz zu verabschieden.
»Obwohl die Fraktionsdisziplin bei den größeren Parteien überall aufgehoben worden war, haben die Abgeordneten der Grünen geschlossen für das Gesetz gestimmt«, erklärte Max. »Damit brauchte es die Stimmen von SPD und FDP gar nicht mehr, aber trotzdem sind auch von denen einige bei Ja aufgestanden.« Er lachte auf. »Griese hat getobt«, fügte er vergnügt hinzu.
»Das ist gut.« Tom verspürte eine tiefe Befriedigung bei dem Gedanken, dass es in Zukunft zumindest einfacher werden würde, resistente Erreger mit Phagen zu bekämpfen.
Max lachte spöttisch. »Ich kann es immer noch nicht fassen, dass Ethan am Ende genau das erreicht hat, was er wollte. Und das, obwohl Nina und du sich den Arsch aufgerissen haben, um es zu verhindern. Das ist total absurd, oder?«
Ja, dachte Tom, ist es.
»Wenn sie selbst betroffen sind, können Politiker eben ganz leicht Entscheidungen treffen«, sagte Max. »Das hat Ethan mal zu mir gesagt. Und irgendwie hat er damit am Ende wohl doch recht behalten.«
Tom nahm einen Zug von seiner Zigarette und verzichtete darauf, Max darauf aufmerksam zu machen, dass er selbst diesen Spruch gemacht hatte – in Bos Wohnung war es gewesen. Er dachte an sein Gespräch von eben mit Kommissarin Voss, und als er blinzelte, hatte er wieder dieses unangenehme Störgefühl in seinen Augen.
So behutsam, als habe er Angst, es zu zerbrechen, legte Max das Handy neben der Tastatur auf den Schreibtisch. Eine Weile lang blickte er aus dem Fenster hinaus auf den Schillerpark.
An den neuen Monitor hatte er sich immer noch nicht gewöhnt.
Ob er sich einen Kaffee …
Er zuckte zusammen, als das Handy klingelte. Die Nummer war unterdrückt, aber er wusste trotzdem, wer anrief.
»Herr von Zeven«, sagte er. »Wie geht es Ihnen?«
Der Großindustrielle ging über die Frage hinweg. »Max! Warum haben Sie mich nicht sofort informiert, dass die Abstimmung erfolgreich war?« Er klang vorwurfsvoll, aber gleichzeitig freudig erregt.
»Ich habe es selbst eben erst erfahren. Ich hatte schon die Hand am Hörer, um Sie sofort anzurufen. Sie sind mir zuvorgekommen.«
Er hörte von Zeven leise lachen. »Wenn ich ehrlich bin, habe ich nach dieser ganzen furchtbaren Sache im Rathaus nicht damit gerechnet, dass die Abgeordneten das Gesetz durchwinken.«
»Nein. Das hatten wir wohl alle nicht. Es kann einen ein bisschen irre machen, dass Ethan Myers am Ende Erfolg hatte, oder?«
»Hm«, machte von Zeven nur. »Das Gesetz wurde verabschiedet, das ist alles, was zählt.«
Max lehnte den Kopf gegen die Nackenstütze seines Schreibtischstuhls. »Es hat geholfen, denke ich, dass Sie all Ihre Anteile an YouGen in diese neue Medizinstiftung überführt haben.«
»Das war doch selbstverständlich! Ich möchte auf keinen Fall von einem Terroranschlag profitieren!«
Und doch tat er es, dachte Max. Er hatte sein Ziel erreicht: Das Antibiotikaresistenzbekämpfungsgesetz war endlich Wirklichkeit geworden.
»Wie fühlen Sie sich?«, fragte er. Er kannte die Antwort. Die ganze Zeit über war der tragische Tod seiner kleinen Tochter von Zevens Antrieb gewesen.
»Wunderbar! Jetzt endlich hat Emmas Tod einen Sinn für mich.«
Max schloss die Augen und rieb sich die Lider. »Dann werden Sie sich jetzt vermutlich für eine Weile auf Ihre private Yacht zurückziehen, oder?«
Von Zeven lachte ein leises, grollendes Lachen. »Von wegen! Jetzt fängt unsere Arbeit doch erst an, Max!«
Max öffnete die Augen wieder. »Wie soll ich das verstehen?«
»Na, Deutschland hat jetzt ein Antibiotikagesetz, aber viele andere westliche Länder noch nicht.«
»Sie wollen …?«
»Natürlich will ich! Wenn wir es geschickt anfangen, Max, kann dieses neue deutsche Gesetz diesen Ländern als Vorbild dienen. Es gibt unendlich viel zu tun. Haben Sie Lust, nach Brüssel zu gehen?«
»Sie …«
»Ich will, dass Sie mich bei meinen Bemühungen dahingehend unterstützen.«
Max richtete die Lehne auf, bis er kerzengerade saß. Von Zeven bot ihm hier einen Job, der ihm vermutlich bis zur Rente ein stattliches Auskommen ermöglichte, aber das war es nicht, was ihn elektrisierte. Es war die Aussicht, weiterhin eine Arbeit zu tun, die einen höheren Sinn hatte. »Ob ich Lust habe?«, stieß er hervor.
Erneut lachte von Zeven. »Dann haben Sie den Job.« Er hielt inne. »Aber, Max? Eine Frage müssen Sie mir vorab noch beantworten, und ich bestehe auf absoluter Ehrlichkeit!«
»Natürlich, Herr von Zeven.«
»Die Polizei hat mehrmals bei mir nachgefragt. Ich gehe davon aus, dass sie vermutet, es gäbe noch weitere Unterstützer von Prometheus, und mich für einen davon gehalten hat.«
»Absurd!«, schnaubte Max.
»Ja.« Von Zeven zögerte. »Es gibt keine Möglichkeit, das Folgende angemessen zu tun, darum frage ich Sie ganz direkt, Max: Haben Sie Ethan Myers bei der Vorbereitung des Anschlags auf die Gala unterstützt?«
Max blieb die Luft weg. Sekundenlang wusste er nicht, was er sagen sollte. »Denken Sie etwa so über mich?«
»Ich weiß nicht, was ich denken soll, Max. Antworten Sie mir!«
Max legte eine Hand auf sein Herz. Sie zitterte. »Natürlich nicht, Herr von Zeven. Sie kennen mich: Ich könnte niemals im Leben einem Menschen Schaden zufügen.«
Der Industrielle schwieg. Lange.
Sehr lange.
»Stimmt«, sagte er dann. »Ich kenne Sie. Und ich weiß, dass Sie für eine Sache, für die Sie brennen, durchaus bereit sind, günstige Gelegenheiten zu ergreifen. Die Art, wie Sie Sylvies Erwachen aus dem Koma benutzt haben, hat es nur allzu deutlich gezeigt.«
»Ich habe mit den Anschlägen auf die beiden Altersheime nichts zu tun, Herr von Zeven, und das ist die reine Wahrheit!«
»Das ist gut, Max. Für heute soll es damit genug sein. Melden Sie sich morgen früh bei mir, dann fangen wir mit den Planungen an.«
»Mache ich, Herr von Zeven.« Max verabschiedete sich und legte auf.
Ein leises Lächeln glitt über seine Lippen. Er stand auf, ging zu einem Aktenschrank in der Ecke und öffnete die unterste Schublade. In dem grauen Karton befanden sich nur noch eine Handvoll Flyer. Max betrachtete die Darstellung des nackten Mannes und des Adlers darauf.
»Günstige Gelegenheiten muss man ergreifen«, murmelte er noch immer lächelnd. Dann stellte er den Aktenvernichter an.
Nina saß in der Einzimmerwohnung, die der SPIEGEL ihr zur Verfügung gestellt hatte, damit sie an ihrer Reportagenserie arbeiten konnte, ohne dafür ständig von Hamburg nach Berlin fahren zu müssen. Ihr Redakteur hatte gebeten, ihm ihr Recherchematerial zu zeigen, und nachdem er ihre Aufnahmen gesichtet hatte, war er auf die Idee gekommen, die Serie mit einem Video zu ergänzen. Nina hatte gerade mit einer kleinen Firma telefoniert, die den Schnitt übernehmen würde, als ihr Handy klingelte und Toms lachendes Gesicht auf dem Display erschien. Sie hatte das Bild von seiner Website gezogen und seine Kontaktdaten hinterlegt – ohne es ihm zu verraten allerdings.
Mit leichtem Herzklopfen ging sie ran. »Hey! Wie geht es meinem weißen Ritter?«
»Gut.« Er klang reserviert, und sie ärgerte sich über den blöden Spruch. Ihr Herz schlug plötzlich so heftig, dass sie glaubte, Tom könne es hören.
»Entschuldige«, murmelte sie.
»Kein Grund. Wie geht es dir?«
»Auch gut. Ich habe gerade mit einem gewissen Nils Landmark telefoniert. Mein Redakteur will zu Sylvies Fall auch noch einen Videobeitrag, und er wird vielleicht den Schnitt übernehmen.«
»Das klingt gut.«
»Ich habe mit Max gesprochen. Der Bundestag hat den Bundesrat überstimmt. Das Gesetz ist damit durch.«
»Ja«, sagte Tom. »Ich weiß.«
»Ich kümmere mich gerade auch um Georgys Vermächtnis. Alles soll in eine Stiftung überführt werden, damit seine Forschung tatsächlich der Allgemeinheit zugutekommt. Herr von Zeven unterstützt mich dabei, er ist wirklich ein sehr besonderer Mensch. Er hat …«
»Nina …«, fiel Tom ihr ins Wort.
Etwas in ihr spannte sich. Was würde nun kommen? Sie wusste, sie musste etwas sagen, wenn sie nicht wollte, dass es hier zu Ende ging. Aber was?
»Isabelle hat mich gefragt, ob ich wieder bei ihr einziehe«, hörte sie ihn sagen.
Es war, als zöge er ihr den Boden unter den Füßen weg. »Oh«, murmelte sie. »Und? Wirst du es tun?« Die Stille summte in ihren Ohren.
»Ich weiß es nicht, Nina.«
Sie schloss die Augen. »Manche Dinge brauchen Zeit«, sagte sie.
»Ja. Das stimmt wohl.«
»Also dann …« Ihre Finger hatten angefangen zu zittern.
»Nina?«
»Ja?«
»Danke.« Er atmete tief durch. »Für alles.« Bevor sie noch etwas erwidern konnte, legte er auf.
* * *