Als wir uns 2019 zusammengetan haben, um diesen Roman zu schreiben, war uns klar, dass wir Realität und Fiktion darin ständig miteinander abgleichen müssen. Wir haben uns vorgenommen, die mikrobiologischen und politischen Gegebenheiten der Geschichte so realistisch und dicht an der Wahrheit wie möglich zu gestalten. Leider gehört die Gefahr der Antibiotikaresistenzen, die wir im Buch skizzieren, zu unserem Alltag. Die gefürchteten multiresistenten Keime breiten sich seit den 1940er-Jahren aus. Bis zu 95 Prozent der Staphylococcus-Stämme in Kliniken – bekannter unter der Bezeichnung MRSA oder auch Krankenhauskeim – sind schon resistent. Viele Umstände haben das begünstigt: von falschen oder vorzeitig abgesetzten Medikamenten bis zum landwirtschaftlichen Masseneinsatz von Antibiotika in der Viehzucht. Kritisch wird es, wenn Medikamente, die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als »Reserveantibiotika« für den Menschen eingestuft sind, in der Tiermast eingesetzt werden und auf diese Weise in die menschliche Nahrungskette gelangen. Die Antibiotikakrise ist zu einer globalen Bedrohung geworden. Es ist eine potenziell explosive Lage, eine Zeitbombe – allerdings eine, die in Zeitlupe explodieren wird. Weltweite Epidemien mit multiresistenten Erregern seien nicht mehr auszuschließen, stellte die WHO im Jahr 2014 fest.
Wir haben für das vorliegende Buch das reale Szenario eines panresistenten Pseudomonas-Bakteriums gewählt. Die Menschen sind mobil, sie reisen, und all das führt dazu, dass wir Keime mit gefährlichen Multiresistenzen, die wir in und an uns tragen, aus Ländern einschleppen, in denen Antibiotika unregulierter verschrieben werden. Wenn diese Bakterien dann ihre Resistenzgene mit anderen multiresistenten Erregern tauschen, werden sie zur Gefahr. Dass in der Folge pan-resistente Erreger entstehen können, gegen die alle gängigen Antibiotika nicht mehr wirken, ist bisher zwar noch selten, aber leider Wirklichkeit.
Aber stehen nicht viele neue Medikamente bereit, um der Krise zu begegnen? Laut einer NDR-Recherche 2019, die unsere Buchanfänge begleitete, haben fast alle großen Pharmakonzerne die Entwicklung neuer Antibiotika gestoppt, da sie nicht mehr lukrativ genug ist – ein dramatischer Schritt und gesellschaftliches Versagen. Dabei liegt eine Lösung der Antibiotikakrise nicht allein in der Entwicklung neuer Medikamente, die oft zu lange dauert. Auch die Suche nach Alternativen wird immer dringlicher.
Die in unserem Thriller eingeführten Bakteriophagen oder kurz Phagen gehören neben anderen Ansätzen zu den aussichtsreichen alternativen Kandidaten für ein »postantibiotisches Zeitalter«. Diese speziellen Viren sind die natürlichen Feinde der Bakterien und töten sie ab, um sich zu vermehren – auch die gefährlichen multiresistenten Erreger.
In Osteuropa wird die »Phagentherapie« seit mehr als einhundert Jahren erfolgreich bei Patienten eingesetzt. Das Eliavia-Institut in Tiflis existiert und ist das weltweit erste Institut für Phagenforschung. Bewährte Virenmischungen gibt es in Georgien in der Apotheke zu kaufen.
Die Wirkweise der Phagen ist im Thriller ebenfalls realistisch dargestellt, so ist eine erfolgreiche Phagentherapie an einer lungenkranken, siebzehnjährigen Mukoviszidose-Patientin aus Großbritannien wissenschaftlich publiziert. Dieses Mädchen litt allerdings nicht an Pseudomonas, sondern an resistenter Tuberkulose, und ihr Fall ist ein glücklicher Einzelfall. So sind die in unserem Thriller gefundenen Phagen gegen den panresistenten Pseudomonas-Stamm von Toms Tochter Sylvie leider ein fiktives Element und bisher nur eine schöne Hoffnung der Medizin. Die Etappen der Therapie mit intravenösen Phagen im Thriller sind inspiriert von einer wahren und lebensrettenden Therapie von Thomas Patterson gegen einen multiresistenten Acinetobacter-Stamm, wie im Buch The Perfect Predator dokumentiert.
Trotz vieler Jahre Erfahrung in der Phagentherapie dürfen die Bakteriophagen in der EU bisher nur zu Forschungszwecken eingesetzt werden. Es fehlt noch an den erforderlichen klinischen Zulassungsstudien. Einen Schritt weiter ist Belgien: Seit Anfang 2018 können dort Patienten in Einzelfällen mit individuell für sie hergestellten Phagenlösungen behandelt werden. In Deutschland setzen vereinzelte Mediziner Phagen mit Sondergenehmigungen schon gegen resistente Klinikkeime ein. Auch die Forschung dazu schreitet weiter voran: Wissenschaftler*innen des Leibniz-Instituts DSMZ-Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen in Braunschweig forschen zum Einsatz der Phagentherapie bei Lungeninfektionen.
An einer Stelle im Thriller haben wir uns zugunsten der Dramaturgie entschieden, die Realität etwas zu biegen. Ein Einsatz von Phagen als Inhalationstherapie für Menschen mit einer potenziellen Pseudomonas-Infektion, wie am Ende dieses Romans im Nachgang der Gala im Charlottenburger Rathaus, ist ein rein fiktives Element, dessen medizinische Wirksamkeit bezweifelt werden darf. Bisher sind solche »Begasungen« mit Phagen nur in der Lebensmittelverarbeitung in den USA, Kanada, Neuseeland und den Niederlanden im Einsatz, um die Kontamination von Milch- oder Fleischerzeugnissen z. B. mit Salmonellen zu reduzieren. Aus Gründen der Lesbarkeit haben wir die wissenschaftlichen Bezeichnungen der Mikroorganismen nur bei Erstnennung kursiv gesetzt.
Susanne Thiele und Kathrin Lange, im März 2021