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Durch das offene Fenster des Raucherraumes war der Rettungswagen schon von Weitem zu sehen. Tom Morell lehnte mit der Hüfte an der Fensterbank, nahm einen Zug von seiner Zigarette und beobachtete, wie der rot-weiß gestreifte Wagen am Hohenzollernkanal entlangfuhr und auf dem Gelände des zur Charité gehörigen Loring-Klinikums verschwand. Nur Blaulicht, kein Martinshorn, dafür langsame Fahrt.

Tom nahm einen letzten Zug, ignorierte das ungute Rumoren in seinem Unterbauch, weil er wusste, dass es allein von seiner Nervosität kam. Die schwere Darminfektion, die er sich vor knapp einem Jahr als Souvenir von einer Reise nach Indien mitgebracht hatte, war vollständig ausgeheilt.

Er drückte die Zigarette aus. Der Aschenbecher war übervoll, aber er quetschte seine Kippe noch irgendwie hinein. Dann starrte er auf das Feuerzeug, mit dem er die ganze Zeit herumgespielt hatte, ein kitschiges Ding in knalligem Pink mit einem Einhorn darauf, das ein Auge aus einem kleinen blauen Strassstein hatte. Seine Tochter Sylvie hatte ihm das Ding irgendwann mal zum Geburtstag geschenkt, und seitdem hielt er es in Ehren, auch wenn es ihm schon manchen Spott von Freunden und Bekannten eingebracht hatte. Mit dem Daumen strich er über das Fabeltier, dann seufzte er und steckte das Feuerzeug in seine Hosentasche. Der ekelige Geruch aus dem vollen Aschenbecher vermischte sich mit dem würzigen des ersten Herbstlaubes, der von draußen hereinwehte.

Die Klinik lag zu idyllisch für seinen Geschmack.

Tom zog einen winzigen Teddy unter seiner Lederjacke hervor. Er starrte dem Tier in die braunen Knopfaugen. »Wollen wir?«, fragte er und bewegte den Teddy so, dass es aussah, als schüttele er den Kopf. In diesem Moment wäre er überall lieber gewesen als ausgerechnet hier.

Hör auf, dir selbst leidzutun!

Seufzend steckte er den Teddy zurück in die Jacke und machte sich auf den Weg zum Krankenzimmer seiner Tochter.

Seine Frau Isabelle war natürlich schon da, als er mit Haube, hellblauem Kittel, Einweghandschuhen und Mundschutz vermummt das Zimmer betrat. Über ihren eigenen Mundschutz hinweg funkelte sie ihn an, weil er ein paar Minuten zu spät war.

Er ignorierte ihren Unmut, er war ihn gewohnt.

Betont gut gelaunt wandte er sich zuerst an seine Tochter. Täuschte er sich, oder wirkte Sylvie heute noch blasser als sonst? Dünn und zerbrechlich, wie sie war, sah sie aus wie eine Elfjährige, dabei war sie seit ein paar Monaten schon fünfzehn. Es zog Tom das Herz zusammen, als er daran dachte, wie sehr er sich Anfang Juni beeilt hatte, um es rechtzeitig zu Sylvies Geburtstagsfeier zu schaffen. Hätte er doch diesen elenden Flieger damals besser verpasst!

Aber das hatte er nicht.

Und seine Tochter zahlte jetzt den Preis dafür.

»Hey, Dikdik«, sagte er und hielt Sylvie den Teddy hin. »Guck mal, ich hab dir was mitgebracht.«

Sylvie verdrehte die Augen. Die Ringe darunter waren so tief, dass sie blau wirkten. »Paps! Ich hab dir schon hundertmal gesagt, du sollst mich nicht so nennen!«

Er hatte ihr den Spitznamen gegeben, als sie angefangen hatte zu krabbeln. Kaum größer als eine afrikanische Zwergantilope war sie damals gewesen, und damals hatte sie den Namen auch geliebt. Da war sie allerdings noch nicht in der Pubertät gewesen. Und vor allem: Früher hatte sie nicht mit einem Dutzend Schläuche und Drähte verkabelt auf einer Isolierstation gelegen und um jeden Atemzug gerungen.

Sylvies Immunsystem war zu stark geschwächt, um den Teddy auch nur anzufassen, also lehnte Tom ihn in sicherer Entfernung gegen eine leere Kaffeetasse.

»Danke«, sagte Sylvie schon versöhnlicher. »Der ist ja voll süß.«

»Er heißt Puck«, sagte Tom. »Wie in Der Sommernachtstraum

»Klar«, meinte Sylvie. »Hey, Puck.« Sie hob matt die Hand und winkte dem Teddy zu.

Tom knirschte mit den Zähnen, weil auch diese Geste ihm das Herz zerriss. Er spürte, dass Sylvie nur ihm zuliebe das Spiel mit dem Teddy mitmachte. Insgeheim fand sie sich zu alt dafür, das war ihm bewusst, und es irritierte ihn massiv.

Wann war aus seinem todkranken kleinen Mädchen eine junge Dame geworden?

Um seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen, wandte er sich zu seiner Noch-Ehefrau um. »Hallo, Isabelle«, murmelte er.

Sie nickte knapp, dann richtete sie den Blick auf seine ausgetretenen Timberland-Boots. »Kommst du direkt aus der Sahara, oder was?«

Er konnte es unter dem blauen Kittel nicht sehen, aber er war sicher, sie trug darunter ein elegantes Kostüm. Sie trug immer Kostüme. An ihren Ohrläppchen glänzten Perlenohrringe, die er an ihr noch nie bemerkt hatte. Ob sie die von einem neuen Typen hatte? Durch ihre Einweghandschuhe erkannte er, dass sie ihren Ehering abgenommen hatte.

Die Erkenntnis war ein Stoß irgendwo dort, wo sein Herz saß.

»Schaff dir endlich vernünftige Schuhe an!«, maulte sie.

Er atmete tief durch.

Das hier war nur der Anfang einer ganzen Reihe von Vorwürfen, die gleich noch kommen würden, das wusste er aus Erfahrung. Aber er wusste auch, dass sie diese Vorwürfe brauchte, um ihm seine sehr viel größere Schuld – die an Sylvies Erkrankung – nicht ins Gesicht zu schreien. Scheingefechte, dachte er. Die beiden letzten Male am Krankenbett ihrer Tochter hatten damit geendet, dass Isabelle angefangen hatte zu weinen. Natürlich hatte sie ihm auch dafür die Schuld gegeben.

Es war der rote Faden, der sich durch ihre Ehe zog: Etwas ging schief, Isabelle gab ihm die Schuld. In den sechzehn Jahren, die sie verheiratet waren, hatte er den wachsenden Ansprüchen seiner Frau selten genügt. Manchmal hatte er das Gefühl, dass sie ihn nur geheiratet hatte, damit sie jemandem die Schuld geben konnte.

Tom knirschte mit den Zähnen. Wut war besser als Angst, auch das wusste er.

»Wieso?«, erkundigte er sich darum gespielt gleichgültig. »Was stimmt denn mit meinen Schuhen nicht?« Mit einem ebenfalls gespielten überraschten Gesichtsausdruck schaute er an sich hinab. Seine alte Lederjacke hatte er draußen an der Garderobe gelassen. Die ausgeblichene Jeans und das Hemd, das er locker über dem Gürtel trug, waren unter dem Kittel nicht zu erkennen. Nur die Boots, mit denen er schon um die halbe Welt gereist war, schauten unter dem Saum hervor.

Sylvie lachte leise. »Mama hasst diese Schuhe, Papa!« Sie zischte das Wort in exakt demselben Tonfall, den auch Isabelle angeschlagen hätte. Gleich darauf hustete sie angestrengt. Tom konnte das Rasseln in ihrer Lunge hören, dieses grausame Geräusch, das ihn bis in seine Träume verfolgte.

Isabelle rang hinter ihrer Maske um Fassung. Er sah die Müdigkeit in ihren Augen. Er wusste, sie schlief vor lauter Sorge um Sylvie seit Monaten kaum noch. »Pünktlich bist du auch nicht gewesen«, murmelte sie.

Darauf erwiderte Tom nichts.

Stimmt, dachte er. Weil ich genau wie du eine Höllenangst vor dem habe, was Dr. Heinemann uns gleich zu sagen hat.

Kriminalkommissarin Christina Voss von der Abteilung Polizeilicher Staatsschutz des LKA Berlin seufzte, als sie nach einem Tag voller nutzloser Klinkenputzerei in ihr Büro zurückkehrte und von der stickigen Luft in dem Raum fast erschlagen wurde. Zu gern hätte sie jetzt einfach Feierabend gemacht, aber leider hatte Tannhäuser, ihr Vorgesetzter, noch eine abendliche Teambesprechung angesetzt.

Mist, verdammter!

Voss zog ihre Jacke aus, hängte sie in den Schrank und durchquerte den Raum, riss die Fenster auf und machte sich anschließend daran, die Kaffeemaschine auf dem Aktenschrank anzuschmeißen. Sie würde wieder die ganze Nacht in ihrem Bett rotieren, wenn sie so spät noch Kaffee trank, aber sie brauchte dringend Koffein, wenn sie dieses blöde Meeting auch noch durchstehen wollte. Das Wochenende steckte ihr in den Knochen. Missmutig starrte sie auf den Aktenstapel, der sich auf ihrem Schreibtisch türmte. Obenauf lag die Anzeige gegen einen jungen Typen, der mit Neonfarbe Bill Gates lükt an die Wand einer U-Bahn-Station geschrieben hatte. Sie empfand das dringende Bedürfnis, ihm Nachhilfe in Rechtschreibung zu geben.

Sie schob die Akten zur Seite, ließ sich missmutig auf ihren Stuhl fallen und dachte nicht zum ersten Mal heute an ihr Date vom Samstagabend. Sie hatte sich mit einem Kollegen von der Abteilung 1 getroffen. Es war ein angenehmer Abend gewesen, sie hatten sich gut unterhalten, und Iskander hatte etwas an sich gehabt, das sie faszinierte. Trotzdem hatte sie instinktiv beschlossen, dass es kein weiteres Treffen geben würde, und ihn gestern Nachmittag angerufen, um ihm das zu sagen.

Sie schaltete den Computer an, und als er hochgefahren war, starrte sie eine Sekunde lang auf das Hintergrundbild der Desktopoberfläche. Darauf befand sich ein abgewandeltes Chandler-Zitat, das aussah wie mit einer altmodischen Schreibmaschine geschrieben. Knallhart und hoffnungslos sentimental, lautete es. Wie immer, wenn sie es ansah, kam sie sich albern und ein wenig melodramatisch vor, aber sie konnte sich irgendwie auch nicht davon trennen. Sie verdrängte den Gedanken an das Date mit dem verkorksten Kollegen, rief die Startseite des digitalen Aktenarchivs des Berliner LKA auf und prüfte, ob es in den Fällen, die sie zu bearbeiten hatte, neue Erkenntnisse oder Ermittlungsansätze gab.

Fehlanzeige.

Sie war schon drauf und dran, das Programm wieder zu schließen, als ihr Blick auf die rechte obere Ecke des Monitors fiel. Dort tauchten in schneller Reihenfolge Kurznachrichten über die neuesten in die Datenbank eingegebenen Polizeiberichte auf. An einer davon blieb ihr Blick hängen.

Prometheus, lautete sie.

Aus reiner Neugier klickte sie den Link an. Seit einer knappen Woche tauchten überall in Berlin sonderbare Botschaften auf – hauptsächlich in Altersheimen und Kliniken. Alle diese Botschaften waren mit einem Laserdrucker auf DIN-A4-Blättern ausgedruckt worden und enthielten einen Kupferstich von einem an einen Felsen geketteten Mann, der von Adlern umlagert wurde. Die Berliner Presse hatte sich begierig auf diese rätselhaften Flugblätter gestürzt und den Urheber Prometheus genannt. Prometheus war nur deswegen ein Fall für die Polizei geworden, weil eine seiner Nachrichten in einem extrem gut gesicherten Bereich des Loring-Klinikums aufgetaucht war, und zwar in der Isolierstation für hochinfektiöse Patienten.

Der neu eingegebene Bericht informierte Voss darüber, dass ein weiterer dieser seltsamen Zettel aufgetaucht war:

Vergesst nicht, dass ihr sterblich seid.

Was für ein Unsinn!, dachte sie, klickte aber trotzdem die in der Fallakte hinterlegten Fotos der anderen Botschaften an, insgesamt vier verschiedene.

Ich werde euch das Feuer der Erkenntnis bringen.

In meinem Feuer wird eure Selbstherrlichkeit brennen.

Durch das Feuer der Erkenntnis werdet ihr gereinigt werden.

Und eben die neueste mit der Erinnerung daran, dass alle Menschen sterblich waren. Zumindest Letzteres, dachte Voss, klang wie eine Drohung, aber das war es dann auch schon. Solange es keinen Hinweis auf einen bevorstehenden Anschlag oder ein anderes Verbrechen gab, galt die Maxime: Prometheus war nur ein weiterer dieser Spinner mit ausgeprägtem Sendungsbewusstsein, ein analoger noch dazu. Natürlich tauchten immer wieder Fotos von den Zetteln im Internet auf, immer verbunden mit der geraunten Frage: Wer ist Prometheus? Aber bisher gab es keinerlei Hinweise darauf, dass er – oder war es eine Sie? – seine seltsamen Botschaften selbst über das Netz verbreitete.

»Idiot!«, murmelte Voss, schloss die Akte wieder und schaute auf die Uhr. Gleich musste sie zu diesem bescheuerten Meeting. Sie gähnte allein bei dem Gedanken daran. Zum Glück war der Kaffee endlich durchgelaufen.

Das Taxi fuhr an der Medizinischen Fakultät der Universität von Tiflis vorbei, wo eine Straßenkehrerkolonne damit beschäftigt war, herumfliegende Handzettel und zerrissene Plakate zusammenzufegen. Nina konnte nicht erkennen, was auf den Plakaten stand, nur die Logos mit einer stilisierten Welle zeigten ihr, dass hier kürzlich eine Demonstration der Pandemic Fighters stattgefunden hatte.

Sie lächelte in sich hinein. Erstaunlich, was mit den Mitteln von Social Media heutzutage alles möglich war. Dadurch war die Fridays-for-Future-Bewegung erst riesengroß geworden, und jetzt schienen Ärzte ohne Grenzen und die Fighters, wie sie kurz und knapp genannt wurden, es tatsächlich zu schaffen, dass sich auch ihr Kampf gegen Antibiotikaresistenzen zu einer weltweiten Protestbewegung entwickelte. Zu einem Teil war das Corona zu verdanken, noch mehr aber der Tatsache, dass führende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen beunruhigenden Anstieg von schwersten Krankheitsverläufen in Zusammenhang mit multiresistenten Erregern feststellten.

Sie presste die Lippen aufeinander, als sie an die Worte von Maria Helena Semedo dachte, der Generaldirektorin der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, die befürchtete, dass die nächste Pandemie eine bakterielle sein würde – und viel tödlicher.

»Unfassbar, was die für Dreck machen.«

Die brummelige Stimme des Taxifahrers riss Nina aus ihren Gedanken. Sein Georgisch hatte einen schwer verständlichen Dialekt, irgendwas Südwestliches, Adscharien oder so. Nina hatte zusätzlich zu dem Deutsch und Georgisch, die sie seit ihrer Kindheit sprach, im Laufe der Jahre vier weitere Sprachen gelernt, darunter auch Russisch. Sie hielt sich für begabt in dieser Hinsicht, aber sie musste sich trotzdem anstrengen, um den Fahrer zu verstehen.

»Die Demonstranten?«, fragte sie.

Er nickte heftig, und der Wagen machte einen kleinen Schlenker, der Ninas Herz stocken ließ. Überhaupt fuhr der Kerl ruppig und aggressiv, wie vermutlich neunzig Prozent aller Taxifahrer überall auf der Welt. Nina war schon ein wenig schlecht, aber sie hoffte, die Übelkeit würde spätestens verflogen sein, wenn sie mit Georgy anstoßen musste.

»Klar. Wer sonst?« Der Taxifahrer klang nicht so, als hege er allzu große Sympathien für die Demonstranten. »Jeden Montag treffen die sich hier und krakeelen rum, statt zu arbeiten, wie es sich für anständige Leute gehört!«

Nina überlegte kurz, ob sie sich auf eine Diskussion über die Wichtigkeit des Ansinnens einlassen sollte. Sie hatte eigentlich keine Lust dazu, aber vielleicht lenkte es sie ja von dem selbstmörderischen Fahrstil des Mannes ab. »Das Problem der Antibiotikaresistenzen ist ähnlich bedrohlich für die Menschheit wie der Klimawandel«, sagte sie.

Seine Reaktion bestand in einem höhnischen Schnauben. »Klimawandel! Antibiotikaresistenzen! Junge Leute, die keine Lust haben, zur Schule zu gehen! Das ist das Problem! Eine aufsässige Jugend, die glaubt, alles besser zu wissen! Ich kann auch nicht einfach meine Arbeit schwänzen und stattdessen irgendwelche Plakate in die Luft halten. Dabei gäbe es etliche Sachen, für die ich demonstrieren könnte. Gerechte Bezahlung zum Beispiel! Dieses verdammte Uber verdirbt uns doch …«

Den Rest seiner schwerverständlichen Tirade blendete Nina aus und wartete darauf, dass sie in die Levan-Gouta-Straße einbogen, in der Georgys Forschungseinrichtung lag.

Als der Fahrer vor dem Institut hielt, blickte er auf das Schild vor dem Gebäude. »Delbrück Phage Research Center. Was ist das denn?« Die Frage klang ehrlich interessiert.

»Hier werden alternative Behandlungsmöglichkeiten für Krankheiten entwickelt, für die die weltweit gängigen Medikamente nicht wirken. Sogenannte Bakteriophagen.«

»Bakteriowas?«

»Bakteriophagen. Das sind nützliche Viren, die sich wie Parasiten auf Bakterien als Wirtszellen spezialisiert haben. Hier in diesem Institut schickt man sie los, wie kleine Auftragskiller, und im Körper eines Patienten …« Ihr ging auf, dass der Fahrer schon das Interesse verloren hatte. »Na ja«, murmelte sie mit einem Schulterzucken. »Innovative Forschung, eben.«

»Ah«, sagte der Taxifahrer im vergeblichen Versuch, höflich zu sein. »Klingt wichtig.«

Leicht verlegen öffnete Nina die Tür, stieg aus und zahlte. Sie gab dem Taxifahrer ein üppiges Trinkgeld und verbuchte es auf ihrem Karmakonto zur Hälfte als Wiedergutmachung für ihre Geschwätzigkeit und zur Hälfte als Dankesopfer dafür, dass sie die Fahrt überlebt hatte.

Über den breiten Weg ging sie auf den Haupteingang des Instituts zu, bog jedoch direkt davor nach rechts ab. Von ihren früheren Besuchen wusste sie, dass es auf der Rückseite einen Hintereingang gab, der eine Klingel besaß. Seltsam, dachte sie beim Umrunden des Gebäudes. Die gesamte Außenbeleuchtung war abgeschaltet. Der kleine Garten, der sich an die Rückseite des Instituts schmiegte, lag in tiefer Dunkelheit. Nur das Murmeln der Kura, des in der Nähe vorbeifließenden Flusses, war zu hören – und das Geräusch des Straßenverkehrs, das jedoch von den Bäumen gedämpft wurde. Die Stille war so drückend, dass Ninas Ohren sich anfühlten, als seien sie verstopft.

Nirgendwo im Gebäude brannte Licht, außer in Georgys Büro.

In seinem matten Schimmer trat Nina an die Hintertür, klingelte und wartete. Keine Reaktion. Sie klingelte noch einmal. Dabei fiel ihr auf, dass das Geräusch der Glocke ungewöhnlich laut klang. Sie sah genauer hin.

Die Tür stand ungefähr einen Fingerbreit offen.

Die Stille drinnen wirkte noch undurchdringlicher als die draußen. Die Deckenbeleuchtung war ausgeschaltet, nur die Notausgangsschilder brannten und tauchten den Flur in unheimliches grünliches Licht. Etwas in Nina war in den Alarmmodus gegangen. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, und das Blut rauschte in ihren Ohren.

»Georgy?« Zaghaft erhob sich ihre Stimme über die Stille. »Georgy?«, fragte sie noch einmal, lauter jetzt.

Keine Antwort.

Sie ging den Flur entlang, vorbei an der Teeküche, aus der es schwach nach Kuchen roch. An den Wänden hingen großformatige Aufnahmen, alle mit einem Elektronenmikroskop erstellt: Hanta-Virus. Grippeviren. Ebola.

Georgys Bürotür befand sich zwischen dem Marburg-Virus und der Aufnahme eines stäbchenförmigen Pseudomonas-Bakteriums, das aussah, als sei es mit Fell überzogen. Trotz ihrer Anspannung musste Nina schmunzeln. Georgy und sein Mikrobenzirkus. Die Tür zu Georgys Büro war genau wie die Eingangstür nur angelehnt. Licht fiel durch den Spalt auf den Flur und malte einen langen gelblichen Balken auf das Linoleum. Nina streckte die Hand aus und schob die Tür weiter auf. »Georgy, bist du hier irgendwo?«

Sein Büro war verwaist.

Der Monitor seines Computers war eingeschaltet, ein Bildschirmschoner lief und zeigte ein weiteres Elektronenmikroskop-Foto.

Nina näherte sich dem Schreibtisch, auf dem das für Georgy so typische kreative Chaos herrschte: Bücher, Stifte, Notizhefte und Dutzende Computerausdrucke, alles in einem wilden Durcheinander. Eine Kaffeetasse stand auf einem windschiefen Stapel Manuskriptseiten. Seinem Aussehen nach zu urteilen, war der Kaffee schon seit Stunden kalt.

Nina wandte sich ab. Vielleicht war Georgy in die kleine Institutsklinik gegangen, wo er stets eine Handvoll zahlungskräftiger Patienten mit seinen Phagen behandelte und auf diese Weise einen Teil seiner teuren Forschungstätigkeit finanzierte. Aber die Klinik lag ein paar Straßen weiter, dachte Nina. Schwer vorstellbar, dass Georgy sie eilends hierher zitierte, nur um dann das Gebäude zu verlassen.

Also gab es eigentlich nur einen Ort, wo er stecken konnte – bei der Phagensammlung.

Sie machte sich auf den Weg in den Keller.

Auch in der Phagensammlung brannte Licht, das sah sie schon von der Treppe aus. Ihre Anspannung wich, und mit schnelleren Schritten marschierte sie auf die metallene Doppeltür zu. Georgy kam oft allein hier herunter, um seine Schätze zu betrachten.

Bei der Sammlung handelte es sich um seinen ganzen Stolz, ein Archiv tiefgefrorener Phagen, das bereits eine hundertjährige Geschichte aufwies und das Georgy zusammen mit der Institutsleitung vor Jahren übernommen hatte. In diesen Kellerräumen befand sich eine der ältesten und größten Phagensammlungen weltweit. Exemplare von Tausenden der heilenden Viren wurden hier in flüssigem Stickstoff oder gefriergetrocknet aufbewahrt, wo sie auf ihren Einsatz warteten.

»Georgy?«, rief Nina, bevor sie die Tür aufzog. Sie wollte ihn nicht erschrecken. Seit er kürzlich am Telefon so sonderbar geklungen hatte, fürchtete sie, dass mit ihm gesundheitlich etwas nicht in Ordnung war. Und auf keinen Fall wollte sie, dass er einen Herzinfarkt erlitt, wenn sie sich einfach hinterrücks an ihn heranschlich.

Als sie den langgestreckten, fensterlosen Raum mit den großen Stahlschränken betrat, war es allerdings Nina, die sich fast zu Tode erschrak: Eine Frau stand vor ihr. Es war Maren. Ihr Rock, ihr Blazer und auch ihre Bluse waren in Unordnung, vor allem aber waren sie über und über mit Blut besudelt! Mit weit aufgerissenen Augen taumelte sie auf Nina zu.

»Gott sei Dank!«, ächzte sie, dann stolperte sie Nina direkt in die Arme.

Nina stieß vor Schreck einen Schrei aus und fing sie auf. »Was ist pass…« Sie unterbrach sich, als sie Männerbeine hinter einem gemauerten Labortisch hervorragen sah.

Georgy!

Sie hastete um den Labortisch herum. Und schrie zum zweiten Mal auf.

Georgy lag lang ausgestreckt da, halb auf der Seite, halb auf dem Bauch. Er war bewusstlos, aber was noch viel schlimmer war: Er war über und über bedeckt mit kleinen und größeren Schnitten! Blut sickerte aus seinen Handflächen, aus Wunden an seinen Unterarmen, seinem Hals und sogar seinem Bauch. Eine Hand hatte er in Richtung Tür ausgestreckt, als habe er sich von dort rettende Hilfe erhofft, bevor er bewusstlos geworden war. Und offenbar hatte er sich von weiter hinten bis hierher geschleppt, denn da war auch eine lange Schleifspur aus Blut.

Durch die getönten Scheiben des SUV blickte Victor zurück zum Institut. Die Außenbeleuchtung war noch immer abgeschaltet, und aus irgendeinem bescheuerten Grund war er froh darüber. Die Vorstellung, dass die klassische georgische Fassade dieses Kastens in reinem Weiß leuchtete, während drinnen dieser … seine Gedanken stockten … dieser alte Knacker da an den Wunden starb, die Misha ihm zugefügt hatte, kam ihm blasphemisch vor.

Er schüttelte die Benommenheit ab. Misha, der wie zuvor auf dem Beifahrersitz saß, war dabei, die Klinge seines mattschwarzen Butterflys von Anasias’ Blut zu reinigen. Er tat es mit einer Zärtlichkeit, als liebkose er eine willige Gefährtin, dachte Victor. Ihm war ein wenig schlecht, in Mishas Augen jedoch lag ein zufriedenes Glitzern, das ihn zutiefst abstieß. Es war eine Sache, bei einem Auftrag zu tun, was nötig war. Es dann aber auch noch zu genießen …

Misha war, während er den Professor bearbeitet hatte, ja beinahe einer abgegangen. Immerhin: Seine Kreativität mit dem Messer hatte ihnen die benötigte Information geliefert, und sie wussten jetzt, wo das Laborjournal und diese Medikamentenproben waren. Gefallen würde es ihrem Auftraggeber allerdings kaum.

Victor nickte Misha zu. Der nahm ein kleines Gerät aus der Tasche, das einer Fernbedienung ähnelte, nur dass es weniger Tasten hatte. Er tippte eine Zahlenkombination ein. Eine Diode sprang von Grün auf Rot, und Misha nickte zum Zeichen, dass es nun kein Zurück mehr gab.

Victor bezwang seine Übelkeit, dann legte er einen Gang ein und gab Gas. Wenn das Dreckszeug in Anasias’ Büro in die Luft flog, wollte er nicht in der Nähe sein.