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Dr. Heinemann empfing Tom und seine Noch-Ehefrau in seinem klimatisierten Büro in der zweiten Etage des Klinikums. Von hier aus fiel der Blick über einen Taxistand hinweg auf einen kleinen Parkplatz, der offenbar für Ärzte reserviert war. Bullige SUV, bevorzugt in den Farben Schwarz oder Anthrazit, und eine Handvoll knallbunter, flacher Sportflitzer, deren Marken Tom nicht kannte, aber er hatte sich noch nie groß für Autos interessiert. Außerdem gab es gerade sehr viel wichtigere Dinge, um die seine Gedanken kreisten.

»Danke, dass Sie beide sich Zeit für dieses Gespräch genommen haben«, sagte Dr. Heinemann, nachdem er erst Isabelle und dann Tom freundlich zugenickt hatte. Er war einer der Menschen, die es sich nach der Corona-Pandemie nicht wieder angewöhnt hatten, ihrem Gegenüber die Hand zu geben. Er war um die fünfzig, groß, schlank, und er behandelte Sylvie, seit klar geworden war, worunter sie litt. Tom und Isabelle waren also nicht zum ersten Mal in diesem Raum.

»Bitte, setzen Sie sich doch!« Der Arzt nahm hinter seinem Schreibtisch Platz.

Tom richtete den Blick auf die Schale mit Stiften, die neben der Computertastatur stand. Ein Kugelschreiber darin stammte von einer billigen Hotelkette, das war ihm schon beim letzten Mal aufgefallen.

Isabelle nahm ganz vorn auf der Kante des Stuhles Platz. Die Füße in ihren eleganten, hochhackigen Schuhen stellte sie akkurat nebeneinander, die Hände faltete sie auf dem Schoß. Tom konnte deutlich die Sehnen an ihren Handrücken sehen, so fest drückte sie zu.

Er hätte gern ihre Hand genommen, aber natürlich ließ er es bleiben.

Im vergangenen Oktober war er im Auftrag eines befreundeten Sternekochs in Indien gewesen, um ihm neues Trendfood für sein In-Restaurant in Friedrichshain zu besorgen. Das war Fehler Nummer eins gewesen. Fehler Nummer zwei war, dass er in einer der unzähligen Garküchen in Hyderabad ein indisches Curry gegessen hatte, woraufhin er eine höllische Nacht auf der Toilette seines Hotelzimmers verbracht hatte. Sein indischer Kollege, mit dem zusammen er unterwegs war, hatte ihm am nächsten Tag aus einer Apotheke Colistin besorgt, ein Antibiotikum, das in Deutschland als Notfall-Antibiotikum streng gehütet wurde, in Indien aber frei verkäuflich war. Das hatte Tom allerdings erst sehr viel später erfahren. Zunächst einmal war es ihm innerhalb von Stunden wieder besser gegangen. Er hatte keine Ahnung davon gehabt, dass in seinem Körper durch die Einnahme dieses Antibiotikums ein Darmkeim namens E. coli eine gefährliche Resistenz gegen Colistin herausbilden konnte. Und so hatte er seinen Körper in einen Brutkasten für eine Art mikrobiologische Zeitbombe verwandelt. Als er dann einige Tage später zurück nach Berlin geflogen war, um es noch rechtzeitig zum fünfzehnten Geburtstag von Sylvie zu schaffen, hatte er, ohne es zu ahnen, diesen Keim durch normalen Hautkontakt auf seine Tochter übertragen. Sylvie war eine Muko – sie litt seit ihrer Geburt an Mukoviszidose. In den Tagen nach ihrem Geburtstag dann war es ihr ziemlich schlecht gegangen, und Dr. Heinemann hatte Tom auch damals zu einem Gespräch gebeten – zunächst ohne Isabelle. Damals hatte Tom ihm sofort angesehen, dass er keine guten Nachrichten hatte. »Sie wissen, dass Sylvie mit Pseudomonas aeruginosa zu kämpfen hat«, hatte der Arzt mit ernster Miene gesagt, und Tom hatte genickt. Das Bakterium Pseudomonas aeruginosa war ein ganz typischer Keim, der sich bei Muko-Patienten mit ihren häufigen Krankenhausaufenthalten und unzähligen Antibiotikatherapien irgendwann unweigerlich einschlich, so auch bei Sylvie. Doch bis zu diesem Zeitpunkt war der Erreger einigermaßen gut behandelbar gewesen.

»Ja«, hatte er darum gesagt. »Und ich weiß auch, dass Sie eine Reihe Medikamente haben, die Sie gegen Pseudomonas einsetzen können.«

Der Arzt nickte. »Damit hätten wir Sylvie auch eigentlich jahrelang ohne Probleme behandeln können.«

»Eigentlich«, echote Tom.

Dr. Heinemann legte die Fingerspitzen aneinander. »Sylvies Pseudomonas-Stamm hatte vorher schon eine Reihe Resistenzen, die wir, wie gesagt, einigermaßen im Griff hatten. Aber leider befindet sich im Körper Ihrer Tochter jetzt auch noch das resistente Kolibakterium, Herr Morell, das sie sich von Ihnen eingefangen hat. Und es kam zu einem horizontalen Gentransfer zwischen beiden Erregern.«

»Das heißt?« Tom musste schlucken.

»Sie können sich das so vorstellen: Sylvies Pseudomonas verhält sich wie ein bakterieller Kleptomane und versucht, alle möglichen Eigenschaften von anderen Bakterienstämmen zu übernehmen. So auch bei Sylvie – der Pseudomonas hat sich die Resistenz von Ihrem Darmkeim angeeignet.« Dr. Heinemann lächelte traurig. »Die Bakterien tauschen ihre Genabschnitte wie Kinder Pokémon-Karten.«

»Ich verstehe immer noch nicht, was das bedeutet«, sagte Tom, obwohl ihm längst ein Verdacht gekommen war.

»Ich neige sonst eher dazu, vorsichtig zu formulieren«, erklärte Dr. Heinemann, »aber bei Ihnen würde ich gern ganz offen sein. Was wir hier bei Ihrer Tochter haben, ist der mikrobiologische Super-GAU.« An dieser Stelle hatte Sylvies Arzt eine bedeutsame Pause gemacht, bevor er fortfuhr. »Ich fürchte, gegen den Erreger, unter dem Sylvie leidet, hilft fast nichts mehr.«

Die Erinnerung an dieses frühere Gespräch kreiste in Toms Kopf, während er jetzt doch noch Isabelles Hand nahm und festhielt. Ihre Finger waren eiskalt. Durch seine Sorglosigkeit im Umgang mit dem indischen Colistin hatte er die Zukunft seiner Tochter zerstört, dachte er, und wenn … Ihm wurde bewusst, dass er nicht darauf geachtet hatte, was Dr. Heinemann sagte, und dass sowohl Isabelle als auch der Arzt ihn musterten.

»Wie geht es Ihnen, Herr Morell?«, erkundigte Heinemann sich bei ihm.

»Gut.« Er vermied es, Isabelle anzusehen. »Aber ich denke, wir sind nicht hier, weil Sie sich nach meinem Befinden erkundigen wollen, oder?«

Dr. Heinemann atmete tief durch. »Nein.« Er rief Sylvies Krankenakte auf, drehte seinen Monitor so, dass Tom einen Blick darauf werfen konnte, und fasste zusammen, was bisher geschehen war. »Ihre Tochter befindet sich seit dem 17. Juni mit einer Pneumonie bei uns in Behandlung. Bisher haben wir ihre Lungenentzündung mit einer Standard-Inhalationstherapie mit Colistin und Tobramycin behandelt, aber ihr Zustand hat sich unter dieser Therapie leider verschlechtert. Darum haben wir für den Erreger ein aktuelles Antibiogramm erstellt und festgestellt, dass er zusätzlich zu den bereits bekannten Resistenzen auch noch eine gegen Colistin aufweist. Das heißt, wir mussten eine Anpassung der Therapie vornehmen.« Er räusperte sich und fuhr fort. »Ich habe die Therapie dann auf neue noch mögliche inhalative Antibiotika-Kombinationen mit Aztreonam und Levofloxacin umgestellt. Da das nicht die gewünschten Ergebnisse brachte, sind wir – in Abstimmung mit Ihnen – vor zwei Wochen auf die Alternativbehandlung mittels Ciprofloxacin oral übergegangen.«

Die verschiedenen Medikamentennamen, die er seit seinem ersten Gespräch mit Heinemann wieder und wieder gehört hatte, rauschten an Tom vorbei. Er dachte daran, wie Sylvie sich über die ständigen wechselnden Medikamente beklagt hatte. Sie hatte die häufigen Inhalationen und Tabletten satt, denn sie brachten eine Menge Nebenwirkungen mit sich, und besser ging es ihr dadurch auch nicht wirklich.

Heinemann klickte in der Akte eine Seite weiter. Seine Miene verfinsterte sich zunehmend. »Leider mussten wir feststellen, dass auch Ciprofloxacin nicht zu einer gewünschten Besserung des Allgemeinzustandes Ihrer Tochter geführt hat. Im Gegenteil: Mittlerweile kam auch noch eine Harnwegsinfektion dazu. Darum habe ich eine aktuelle Erreger-Kultur anlegen lassen.« Heinemanns Mauszeiger glitt über einen Eintrag in der Akte. Ein Haufen Zahlen, die Tom nicht das Geringste sagten. »Ich fürchte, ich muss Ihnen sagen, dass uns die Optionen ausgehen.«

Einen Moment lang war es sehr still im Raum. Tom konnte hören, wie unten auf dem Parkplatz eine Autotür zugeschlagen wurde. Gleich darauf sprang ein Motor an und ein Wagen fuhr davon.

»Das bedeutet?«, brachte endlich Isabelle die Frage über die Lippen, die auch in Toms Hinterkopf hämmerte.

Heinemann sprach betont sachlich. »Das bedeutet, wir müssen jetzt davon ausgehen, dass es ein pan-resistenter Pseudomonasstamm ist, unter dem Ihre Tochter leidet.«

»Pan-resistent?«, fragte Isabelle.

»Das ist ein Erreger, der gegenüber allen gängigen Antibiotika resistent ist. Wir sind so gut wie machtlos dagegen.« Sylvies Arzt senkte den Kopf und rieb sich die Stirn. Für einen kurzen Moment kam seine professionelle Maske ins Rutschen, und Tom konnte die tiefe Betroffenheit dahinter sehen.

Es berührte ihn, dass augenscheinlich selbst der Profi mitlitt, aber das Gefühl wurde sofort überlagert von der Sorge um Sylvie.

»Was bedeutet so gut wie?«, fragte Isabelle.

Tom glaubte, die Antwort bereits zu kennen. Es fühlte sich an, als würde etwas in seinem Inneren ins Rutschen geraten. Überbringen Sie mir hier gerade das Todesurteil meiner Tochter? Isabelle entzog ihm die Hand, dabei hätte er ihren Halt gerade jetzt gut brauchen können.

Heinemann fuhr sich über Mund und Kinn. »Es gibt vielleicht noch eine letzte Therapieoption. Dabei würden wir unterschiedliche Antibiotikagruppen kombinieren und intravenös verabreichen, in der Hoffnung, damit vielleicht noch irgendeine Wirkung zu erzielen. Infrage kommen dafür Tobramycin mit Ceftazidim oder Meropenem. Aber ich fürchte, die Therapie ist sehr langwierig, extrem schmerzhaft, und vor allem hat sie starke Nebenwirkungen.«

»Was könnte denn noch schlimmer sein als das, was meine Tochter schon durchgemacht hat?«, fragte Tom. Er brauchte dringend eine Zigarette. Er schob die Hand in die Tasche seiner Jeans und umklammerte das Einhorn-Feuerzeug. Der kleine Strassstein grub sich tief in seine Handfläche.

»Sie müssen mit sehr heftigen Nebenwirkungen rechnen: Nierenprobleme, allergische Reaktionen, Neurotoxizität bis hin zu Gleichgewichtsstörungen. Etwas, das ebenfalls auftreten kann, ist ein bleibender Tinnitus oder sogar der komplette Verlust der Gehörfunktion.«

Isabelle schluchzte auf.

Tom sah, wie ihre Hand in Zeitlupe zu ihrem Gesicht wanderte und sich auf ihren Mund presste. »Und wenn diese letzte Therapie auch nicht …« Seine Stimme versagte.

Heinemann blickte ihm geradeaus in die Augen. »Wenn auch diese letzte Medikamententherapie versagt, muss ich Ihnen leider mitteilen, dass wir nichts mehr für Ihre Tochter tun können. Sie ist dann austherapiert.«

Tom wollte den Kopf schütteln, aber es ging nicht. Er hatte es doch kommen sehen, warum schockierte ihn diese Nachricht dann so sehr?

Isabelle ließ die Hand wieder sinken. »Gibt es nicht noch eine andere Möglichkeit, Doktor Heinemann? Ich meine: Wenn Antibiotika nicht mehr wirken, muss es doch andere Medikamente geben, um Sylvie …«

»Antibiotika sind in Deutschland nun mal die Standardtherapie, allerdings …« Heinemann zögerte. »Tatsächlich gibt es noch die ein oder andere Möglichkeit, aber jede einzelne davon befindet sich noch im experimentellen Status. Antikörpertherapien oder Phagen zum Beispiel sind aktuell in Deutschland nicht zugelassen.«

Isabelle fuhr halb aus ihrem Stuhl hoch. »Das ist mir völlig egal! Es geht um meine Tochter! Diese … Phagen, von denen Sie gesprochen haben, was müssten wir tun …«

»Frau Morell!«, unterbrach Heinemann sie erneut. »Selbst wenn es Phagen gäbe, die Ihrer Tochter helfen würden, würden wir sie nie im Leben in dieses Land kriegen …« Er hielt kurz inne, weil Isabelle vehement den Kopf schüttelte, sprach dann aber weiter: »Ohnehin: Lassen Sie uns doch erst einmal abwarten, wie wir mit der intravenösen Kombitherapie vorankommen. Wenn sie wirkt, brauchen wir uns keine weiteren Gedanken zu machen.« Er wechselte einen langen Blick mit Tom, der davon Magenkrämpfe bekam.

Die Teamsitzung fand wie immer in einem der Besprechungsräume im Erdgeschoss statt. Voss hatte ihren Platz so gewählt, dass sie durch das Fenster nach draußen schauen konnte. Viel zu sehen gab es allerdings nicht – abgesehen von der mehrspurigen Fahrbahn des Tempelhofer Damms und dem schier endlosen Gebäuderiegel gegenüber, der früher einmal zum Flughafen gehört hatte. Die Fensterscheiben starrten vor Staub und Schmutzschlieren, vermutlich waren sie das letzte Mal geputzt worden, als man den Bauantrag für den BER genehmigt hatte.

Sie seufzte zum bestimmt tausendsten Mal an diesem Tag. Sie brauchte dringend Urlaub! Missmutig richtete sie den Blick auf den fetten Vogelschiss, der so exakt mittig auf der Scheibe gelandet war, als wäre es eine linksextreme Taube gewesen, die ihnen auf diese Weise ihr Missfallen bekunden wollte. Voss unterdrückte ein Lächeln.

Die anderen Kolleginnen und Kollegen, eine bunte Mischung der Dezernate 51 bis 55, trudelten nach und nach ein. Als alle versammelt waren, räusperte sich Voss’ Chef, Kriminaloberrat Justus Tannhäuser. »Gut. Können wir dann anfangen?« Tannhäuser war zwar nur Leiter des Dezernats Politisch motivierte Kriminalität, aber da er als versierter Koordinator galt, hatte die Abteilungsleitung ihm die Verantwortung für die täglich abzuhaltenden dezernatsübergreifenden Besprechungen übertragen. Tannhäuser war ein fast zwei Meter großer, grobschlächtiger Mann mit einer Stimme wie ein Bär und dichtem pechschwarzem Haarwuchs an jedem sichtbaren Körperteil.

Er startete den Beamer, mit dem er direkten Zugriff auf das digitale Aktenarchiv hatte, und begann, über ihren derzeit wichtigsten Fall zu referieren. Wie gewöhnlich tat er das mit monotoner Stimme, und Voss verlor schnell die Konzentration. Vielleicht hätte sie besser noch eine zweite Tasse Kaffee in sich reinkippen sollen. Sie gähnte.

»Langweile ich dich, liebe Tina?«, wandte Tannhäuser sich an sie.

Sie setzte sich aufrechter hin und stellte einen ihrer Boots auf die Querstrebe zwischen ihren Stuhlbeinen. »Nein. Wieso?«

Tannhäuser schoss aus seinen hellbraunen Augen einen finsteren Blick auf sie ab.

Oh, oh, dachte sie. Sie kannte diesen Gesichtsausdruck. So sah ihr Chef aus, wenn er Maß nahm.

Dass der Eindruck nicht täuschte, wurde ihr klar, als Tannhäuser gleich darauf ein Bild eines anderen Falles aufrief. »Da wir in den wichtigen Dingen nun alles geklärt haben, kommen wir jetzt noch hierzu.« Das Bild stammte aus der Prometheus-Akte, es zeigte das Blatt mit dem Kupferstich und dem Satz: Ich werde euch das Feuer der Erkenntnis bringen.

Allgemeines Aufstöhnen ringsherum. Genau wie Voss hatten offenbar alle anderen auch gedacht, dass die Besprechung nur anberaumt worden war, weil es Dringliches im Hauptfall zu bereden gab. Dass sie so kurz vor Feierabend noch weitere Fälle durchkauen sollten, ging allen gehörig gegen den Strich.

Tannhäuser ignorierte das Murren seiner Leute und grinste Voss sardonisch an. »Ihr alle wisst, dass seit Tagen diese Botschaften überall in der Stadt auftauchen. Bisher haben wir keinen Grund zu der Annahme, dass das Ganze mehr ist als die Spinnerei von irgendeinem durchgeknallten Freak. Aber wir alle wissen, dass aus Spinnerei schnell Ernst werden kann, wenn es blöd läuft. Denken wir nur an Halle, Hanau oder letztens Schwäbisch Hall.«

Schwäbisch Hall. Das lag gerade einmal zwei Monate zurück. Ein dreißigjähriger Mann hatte in einer Arztpraxis um sich geschossen, nachdem er sich wochenlang in einschlägigen Foren und Messengergruppen von Impfgegnern herumgetrieben hatte. Zwei Menschen waren gestorben und unzählige verletzt worden, bevor die herbeigerufenen Kollegen den Täter überwältigt hatten.

»Wie dem auch sei«, sagte Tannhäuser, und Voss begriff, dass sie ihm schon wieder nicht richtig zugehört hatte. »Jedenfalls will Kriminaldirektor Kleinert, dass wir uns verstärkt um diese Sache kümmern. Tina, ich möchte, dass du das machst.«

Voss unterdrückte ein Seufzen, sie hatte es kommen sehen. »Wird erledigt«, sagte sie völlig gelassen.

Tannhäuser schien enttäuscht, dass sie sich über die bescheuerte Zusatzarbeit nicht beschwerte, und das allein war es schon wert, auf die Zähne gebissen zu haben.

»Gut.« Ihr Chef schlug mit der flachen Hand auf das Pult, sein Zeichen dafür, dass die Besprechung beendet war. Wie ungeduldige Pennäler beim Pausenläuten standen die meisten Kolleginnen und Kollegen augenblicklich auf, schwatzten drauflos und strebten dem Ausgang entgegen.

Voss blieb noch einen Augenblick lang sitzen.

Prometheus, dachte sie. Mist, verdammter!

Mit hämmerndem Herzen fiel Nina neben Georgy auf die Knie. War er tot? Bewusstlos? Sie konnte es nicht sagen. Sein Gesicht war wachsbleich, seine Augen geschlossen. Wo war sein Puls? Seine Atmung? Ihre Hände flatterten über seinen Körper, berührten ihn im Gesicht, an der Brust, an den Armen. Innerhalb von Sekunden waren ihre Hände rot, ihre Kleidung übersät mit Blutflecken. Sie bemerkte es kaum. So viele Wunden, und sie konnte bei keiner einzigen davon die Blutung stoppen! Hilflos presste sie die Hand auf seine Leibesmitte, wo sich die schwerste Verletzung zu befinden schien.

»Ist er …« Marens bange Frage wurde abgeschnitten, als Georgy mit einem Gurgeln einatmete, die Augen weit aufriss und in die Höhe fuhr. Vor Schreck prallte Nina zurück. Sie packte ihn, hielt ihn fest und musste miterleben, wie er anfing zu zucken und zu beben. Seine Hand krallte sich um ihren Arm. Sein Blick irrlichterte umher, fand ihr Gesicht. Erkennt er dich? Sie wusste es nicht. Seine Fingernägel bohrten sich in ihr Fleisch.

»Max …«, stöhnte er. Das Folgende ging in einem weiteren feuchten Gurgeln teilweise unter. »Meine Phagen … in Gefahr …« Sein Griff löste sich.

Sie packte ihn fester. »Georgy! Halt durch, du musst …«

»Max …« Diesmal verging der Name in einem tonlosen Hauch. Nur einen Sekundenbruchteil später wich das Leben aus Georgys Augen.

Seine Hand rutschte von Ninas Arm und landete auf dem Boden. Ein letztes Mal zuckten seine Finger, dann erstarrten auch sie.

»Georgy!«, wimmerte Nina.

Hinter ihr erklang ein unheimlicher, langgezogener Laut, und sie begriff nur mit Verzögerung, dass er von Maren kam. Es kostete sie Kraft, den Blick von ihrem toten Ziehvater abzuwenden und zu ihrer Freundin aufzublicken.

Maren war leichenblass, ihre Augen glänzten wie im Fieber. Sie taumelte vorwärts, prallte mit der Hüfte gegen den Labortisch und landete auf Händen und Knien neben Nina. Ihr Mund öffnete sich, aber nach dem Klagelaut eben kam kein Ton mehr heraus. Sie starrte Nina ins Gesicht, dann wanderte ihr Blick zu Georgy, wieder zu Nina – und schließlich über die Leiche hinweg zum Labortisch, hinter dem sie ihn gefunden hatten. Fassungslosigkeit und Trauer wandelten sich zu Entsetzen.

Instinktiv sah Nina dorthin, wo auch Maren hinschaute. Das Paket, das mit grauem Panzerband unter den Labortisch geklebt war, hatte sie schon einmal gesehen, allerdings im Fernsehen. Durchsichtiges Plastik, darin ein graues Zeug, das aussah wie Knete. Drähte. Zwei Dioden, die langsam vor sich hin blinkten.

»Ist das eine … Bombe?«, wisperte Maren.

Die Frage ließ die Realität rings um Nina zersplittern. »Raus hier!«, gellte sie.